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machte endlich einen kleinen Spaziergang zum Fenster und blickte hinaus ins Frühlingswetter. Da landete plötzllich ein zusammengefalteter Zettel auf ihrem Schoß. Sie blickte auf. Der Zettel kam von Liv. „Hosea sagte, daß Gott die Menschen so liebt, wie ein Mann eine treulose Frau lieben kann. Das hatte er selber erlebt und sie in Gnaden wieder aufgenommen. ‚Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer und an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer‘ (6,6), hat er gesagt. Schreib darüber.“ Inger starrte den Zettel an. Las ihn noch einmal. Las ihn ein drittesmal. Je mehr sie nachdachte, um so mehr Stoff zum Schreiben hatte sie. Es wurde die gewinnbringendste Religionsstunde, die sie je gehabt hatte. Sie piekste Astrid in den Rücken und gab ihr den Zettel. Liv ist toll, dachte sie. Sie mag ja bekehrt sein, aber sie ist verflixt noch mal in Ordnung.

      Samstags haben sie in der vorletzten Stunde Biologie bei Sundt. Er hat gesagt, wenn sie etwas wissen möchten, sich aber nicht zu fragen trauen, können sie ihre Frage auf einen Zettel schreiben und den aufs Pult legen. Sie brauchen nicht mit ihrem Namen zu unterschreiben. Also fragen sie. Sie fragen, ob Amöben eine Seele haben und wie die Wanderungen der Aale verlaufen, ob sich auch heute Affen zu Menschen entwickeln können oder ob das nur zu Darwins Zeiten möglich war, was eigentlich der Unterschied zwischen einer Pflanze und einem Tier ist und ob das Leben wirklich im Meer entstanden ist. Aber eines Tages kommt folgende Frage, Sundt liest sie vom Zettel ab: „Im Religionsunterricht lernen wir, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Im Biologieunterricht lernen wir, daß das Millionen von Jahren gedauert hat. Was stimmt denn nun?“

      Alle sehen Sundts nachdenklich gerunzelte Stirn und seine freundlichen Biologenaugen an, die über dem Zettel brüten, ohne aufzublicken. So. Jetzt wird endlich die Bibel entlarvt.

      Sundt räusperte sich, blickte aufs Pult hinunter, sah auch jetzt nicht auf, schaute wieder den Zettel an, strich sich übers Kinn. Im Grunde hatte er ein bißchen Ähnlichkeit mit Darwin, wie er so dasaß, nur in verkleinerter Ausgabe. „Mnja-a“, sagte er endlich. „Ich sehe das so: Wenn wir in der Bibel lesen, daß Gott die verschiedenen Teile der Welt geschaffen hat, daß er das Licht von der Finsternis trennte, das Meer vom Land, daß er Blüten über Felder und Bäume verteilte, Fische ins Wasser setzte, Vögel in die Luft und schließlich Tiere in die großen Wälder – und am Ende noch die Menschen selber, Adam und Eva... dann sehe ich das als eine symbolische Darstellung, als ein Bild dessen, was in Wirklichkeit während einer langen, langen Entwicklungszeit geschehen ist. Was die Verfasser der Bibel einen Tag nennen, ist vielleicht eine Million Jahre, und die sechs Tage zusammen sind viele Millionen von Jahren.“

      Die 1 B saß still da. Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte gehofft, daß Sundt sagen würde, ja, jetzt ist Gott entlarvt. Das Paradies hat nie existiert, und Gott hat die Welt nicht erschaffen. Sie hatten gehofft, er würde sagen, daß die Wissenschaft Gott als schnöde Erfindung entlarvt habe. Waren denn nicht all seine Biologiestunden darauf hinausgelaufen?

      Und jetzt saß er da und murmelte so etwas. Adam und Eva gab es immer noch, zusammen mit seinen Amöben.

      Jetzt, wo endlich ein bißchen System in die Dinge gekommen war, mit Darwin und allem, jetzt ergab es sich, daß alles noch genauso unerklärlich war wie früher. Denn selbst wenn er gesagt hätte: „Nein, so, wie das in der Bibel dargestellt wird, ist es in Wirklichkeit natürlich nicht abgelaufen“, bliebe ja immer noch die Frage übrig, wie die Amöbe entstanden war. Und wenn die Amöbe auch nicht so schön anzusehen war wie Adam und Eva im Paradies, so war sie doch auch ein Wunder.

      „Ich finde, diese Erklärung war ziemlicher Pfusch“, sagte Inger zu Liv, als sie das Klassenzimmer verließen.

      „Nein, ich fand sie toll“, erwiderte Liv. „Ich muß schon sagen, Sundt ist in meiner Achtung gestiegen.“

      Liv und Beate und Inger gingen auf dem Schulhof hin und her und diskutierten über die Schöpfung. Was bedeutete „schöpfen“? „Leben einhauchen“, sagte Liv. „Formen“, meinte Inger. „Nein, Leben einhauchen“, beharrte Liv. „Das hab’ ich auf einem Bild gesehen.“ – „Davon, daß du das auf einem Bild gesehen hast, wird es ja wohl nicht wahrer.“ – „Nein, aber trotzdem heißt Schöpfen Leben einhauchen.“ – „Ja, aber wie macht man das?“ – „Nein, dazu muß man Gott sein.“ – „Und wer hat ihm Leben eingehaucht?“ – „Er ist schon immer dagewesen.“ – „Wie kann irgendwer immer irgendwo sein?“ – „Das ist Er eben. Das brauchst du nicht zu verstehen. Das brauchst du nur zu glauben.“ – „Was heißt glauben?“ – „Glauben... glauben heißt, sein Herz für Jesus zu öffnen.“ – „Ja, aber wir reden jetzt über Gott.“ – „Das ist dasselbe.“ – „Aber was bedeutet es, sein Herz für Jesus zu öffnen?“ – „Zu glauben.“ – „Jetzt sagst du, A ist B, weil B A ist.“ – „Ja. Aber so erleben wir das. Du mußt das Erlebnis annehmen und an das glauben, was mit dir geschieht. Verstehst du?“ – „Mit mir geschieht aber nichts“, sagte Beate. „Dann kann man es suchen.“ – „Wie kann man es suchen?“ fragte Inger. „Durch Beten.“ – „Ich habe gebetet. Es hat nicht geholfen.“ – „Worum hast du gebetet?“

      In diesem Moment schellte es zur letzten Stunde.

      Noch in vielen weiteren Pausen gingen Liv und Inger auf dem Schulhof hin und her und diskutierten über die Mysterien der Bibel. Es war ein ziemlich langer Schulhof. Inger rechnete im „Radiergummi“ aus, daß der Durchschnittsschüler an Fredrikstads höherer Schule beim Abitur auf diesem Schulhof etwa 1836 Kilometer zurückgelegt hätte. Wenn das stimmte, dann diskutierten Liv und Inger mindestens hundert Kilometer lang über Jesus und seine Bedeutung für den Sinn des Lebens. Sie diskutierten wild und voller Eifer, sie wurden sich niemals einig und diskutierten aufs neue. Als die Schulglocke vier Jahre später ihre letzte Diskussion unterbrach, waren sie immer noch nicht fertig.

      Hartvigs Taufe

      Eines Tages, als er aus der Schule kam, sagte Frau Gravdahl zu Hartvig: „Wir müssen dich endlich taufen lassen.“

      „Warum denn? Ich habe doch einen Namen?“

      „Ja. Sicher. Aber du mußt in Gottes Buch eingetragen werden. Im Waisenhaus haben sie einen Fehler gemacht. Wir dachten, du wärst schon getauft, aber sie haben vergessen, dich taufen zu lassen.“

      Warum hast du mich nicht taufen lassen, als du mich bekommen hast? dachte Hartvig. Aber er wußte ja, daß sie ihn nicht bekommen hatte. Er stammte von anderen Menschen.

      „Ich will nicht getauft werden“, sagte er, ging auf sein Zimmer und schloß die Tür.

      Später kam sein Vater von der Arbeit nach Hause. Es kam nie vor, daß er Hartvigs Zimmer betrat, diesmal tat er es. Er blieb hinter Hartvigs Stuhl stehen, Hartvig drehte sich nicht um.

      „Ich höre, du willst nicht getauft werden, Junge.“ Der Junge gab keine Antwort. „Wir müssen alle getauft werden.“

      „Warum bin ich dann noch nicht getauft?“ Hartvig drehte sich um und sah zu seinem Vater auf. Aber der Vater erwiderte seinen Blick nicht, obwohl seine Augen auf Hartvig gerichtet waren. Er sah am Jungen vorbei und auf die Tischplatte, auf der Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ aufgeschlagen lag.

      „Das war ein Irrtum. Wir...“

      „Nein, kein Irrtum“, fiel Hartvig ihm ins Wort. „Es ist ganz richtig, daß ich nicht getauft bin.“ Er kehrte seinem Vater den Rücken zu. Er hätte morden können. Manchmal empfand er so, eine Wut ohne Grenzen. „Ich bin niemand!“ rief er. „Ich bin namenlos, sowohl auf Erden als auch im Himmel.“

      In Glasermeister Gravdahls Haus wurde nie geschrien. Ich bin verrückt, dachte Hartvig. Sein Schrei hing ihm noch in den Ohren.

      „Jetzt redest du über deinen Verstand hinaus“, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme.

      „Ja, und ist das nicht auch der Himmel?“

      „Spottest du Gott?“

      „Wie kann ich jemanden verspotten, der mich nie zu sich genommen hat?“

      „Wie meinst du das?“ Hartvig gab keine Antwort.

      „Hör

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