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damit», sagte ihre Großmutter und nahm ihr den Teller mit den Broten weg. «Ich hätte wissen müssen, dass die Verrückte für dich kochen würde. Dann isst du sie eben zum Abendessen. Weggeworfen wird nichts.»

      Für den Rest des Tages wurde alles nur noch schlimmer. Martine war nach dem langen Flug und den Abenteuern des Vormittags schwindelig und stets den Tränen nahe. Doch nachdem sie geduscht hatte, beharrte ihre Großmutter darauf, mit ihr in das nächste Dorf zu fahren, um sie einzukleiden. Das Kaff, in das sie fuhren, hieß Storm Crossing und bestand aus einer einzigen Straße mit ein paar Läden. Im Kleidergeschäft wurde sie mit einer Schuluniform und einem Paar Schnürstiefeln ausgestattet, außerdem kleidete sie ihre Großmutter mit zwei weißen Blusen, einer grauen Krawatte, zwei dunkelblauen Röcken, einer Windjacke und einem Blazer ein, auf dem ein Abzeichen mit einem pelzohrigen Luchs aufgenäht war. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sie schon am nächsten Tag zur Schule gehen musste. Man gönnte ihr also nicht einen einzigen Tag Pause, um sich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen.

      «Dafür bleibt dir noch genug Zeit», sagte ihre Großmutter. «Du hast schon genug von der Schule verpasst.»

      Zu allem Überdruss rutschte Martine beim Abendessen – zu dem glücklicherweise nicht nochmals die Eierbrote aufgetischt wurden – auf dem frisch gebohnerten Fußboden aus, als sie Großmutters Lieblingsteekanne in die Küche zurücktrug. Sie zerbrach in tausend Stücke.

      «Was hat sich Veronica nur gedacht?», wetterte die Großmutter. «Das musste ja so kommen. Wie soll ich mich nur um ein Kind kümmern?»

      Sie ließ sich nicht dabei helfen, die Scherben zusammenzukehren. Martine schlich schweigend und weinend die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie war völlig verzweifelt. Sie steckte im tiefsten, dunkelsten Afrika ohne Eltern und Freunde und lebte bei einer Großmutter, die sie ganz offensichtlich nicht ausstehen konnte. Sie hätte kein schlechteres Los ziehen können.

      Soweit sie es sehen konnte, hatte ihr neues Leben nur etwas Gutes, und das war Sawubona. Sie hatte sich schon halb in das Reservat verliebt. Die Sonne war am Untergehen, nachdem sie vom Einkaufen zurückgekommen waren. Eine Herde Springböcke bewegte sich in einer Staubwolke zum Wasserloch vor dem Haus. Martine hatte sich dem harten Griff ihrer Großmutter gerade lange genug entzogen, um in den unteren Teil des Gartens zu gehen und die Springböcke durch den hohen Zaun des Reservats hindurch zu beobachten.

      Martine musste sich kneifen, um sich zu vergewissern, dass das kein Traum war. Gestern noch war sie schlotternd im grauen, düsteren England aufgewacht, und jetzt, nur einen Tag später, saß sie unter einem kupferroten Himmel mit lila Streifen und spürte die wärmende Abendsonne auf ihrer Haut. Die jungen Springböcke hüpften um die Wasserstellen, als hätten sie kleine Sprungfedern unter ihren Hufen, und die Perlhühner, die eben noch wie rundliche, blaugefleckte Könige die Landstraße entlang gewatschelt waren, riefen aus den Bäumen, wo sie sich zum Schlafen niedergelassen hatten. Martine legte sich ins Gras und atmete die berauschenden Gerüche des afrikanischen Abends ein: Sie kamen von Feuerstellen, von Wildtieren, vom herbem Gras, von der Natur in ihrer Überfülle. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches erlebt.

      Auch ihr Schlafzimmer war etwas Besonderes. Es befand sich ganz oben unter dem Dach und hatte eine aus dem Stroh geschnittene Dachluke. Auch wenn es sehr klein war, hatte es doch seinen eigenen Charakter und Charme. An einer Wand stand ein Bücherregal, vollgestopft mit Büchern über Tiere und Afrika. Das Bett war mit frischen, weißen Laken bezogen. Darüber lagen eine gesteppte Flickendecke und mehrere große, weiche Kissen. Das Allerbeste an ihrem Zimmer war jedoch, dass man von der Dachluke aus das Wasserloch überblicken konnte, ein braunes stehendes Gewässer, umgeben von dornigem Gestrüpp. Tendai hatte ihr erzählt, dass sich die meisten Wildtiere des Reservats bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung hier zum Trinken einfanden.

      Doch jetzt war es dunkle Nacht. Die Matratze gab leicht nach, als sich Martine hinlegte. Sie trocknete ihre Tränen an einem Ärmel und fragte sich, ob ihre Mutter wohl wirklich hier in Sawubona gelebt hatte. Der Gedanke, dass dies hier einmal Veronicas Zimmer gewesen sein mochte, heiterte sie auf. Vielleicht hatte Veronica diese Bücher gelesen oder sich in diese Steppdecke eingekuschelt. Aber weshalb in aller Welt hatte sie Martine nie von Sawubona erzählt?

      Martine war so müde, dass sie es kaum schaffte, ihren Pyjama anzuziehen. Als sie dann zwischen die Bettlaken schlüpfte, jagten sich in ihrem Kopf die Bilder eines langen Tages. Und bevor ihr schließlich die Augen zufielen, dachte sie an die weiße Giraffe.

      • 7 •

      Beim Aufwachen am nächsten Morgen fühlte sich Martine wie vor einem Zahnarzttermin. Lange blieb sie mit zusammengepressten Augen liegen, denn nur so konnte sie sich vorspielen, dass sich das alles nicht ereignet hatte. Ihr Elternhaus war nicht niedergebrannt, ihre Eltern waren nicht für immer weg, und sie war nicht in das tiefste Afrika geschickt worden, um bei einer wildfremden Frau zu leben. Als es nicht mehr anders ging, öffnete sie die Augen. Sie blickte in die Unendlichkeit eines unglaublich blauen Himmels hinauf. Der Wecker auf dem Nachttisch stand auf 6:05 Uhr. Wie gerufen flatterte ein orange gefiederter Vogel auf einen aus dem Stroh ragenden Dachbalken vor ihrem Fenster und begann ein fröhliches Liedchen zu pfeifen: Tiritititi, Tirititi.

      Martine stütze sich auf einen Ellbogen, um durch das Fenster auf das Wasserloch blicken zu können, über dem ein Morgendunst lag, der von goldenen Streifen der Morgensonne durchsetzt war. Ein Dutzend Elefanten planschten im Wasser, wälzten sich im Schlamm und spritzten sich gegenseitig mit dem Rüssel ab. Nicht weit davon entfernt grasten ein paar Zebras. Staunend schüttelte Martine ihren Kopf. Die Szene konnte zwar die Angst nicht verscheuchen, die sich in ihrem Herzen breitgemacht hatte, doch sie beruhigte sie ein wenig.

      Auf der Treppe nach unten waren ihre Füße schwer wie Blei. Ihre Großmutter saß am Küchentisch, die Hände um eine große Kaffeetasse gefaltet. Als Martine die Küche betrat, stand sie schnell auf und sagte: «Guten Morgen, Martine, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ihre Stimme hörte sich etwas brüchig an, als wäre sie nervös. Noch bevor Martine ihren Gruß erwidern konnte, sagte Gwyn Thomas hastig: «In der Pfanne ist ein hart gekochtes Ei, im Toaster ist Brot, und alles andere steht auf dem Küchentisch. Dort drüben auf der Anrichte steht eine Lunchbox mit Sonnencreme, Pfirsichen aus dem Garten, etwas Käse und Chutney-Sandwiches. Ich muss jetzt den jungen Elefanten füttern gehen. Aber ich bin um 7:30 Uhr zurück, um dich zur Schule zu bringen.»

      Martine hatte es noch nicht geschafft, ein Danke hervorzustammeln, als die Stalltür hinter ihrer Großmutter ins Schloss fiel und ein Stoß frische und kühle Luft durch das Haus ging. Eine Entschuldigung war das nicht gewesen, aber Martine wusste, dass sie eine solche auch gar nicht erwarten durfte.

      Das Zahnarztgefühl meldete sich während der fünfzehnminütigen Fahrt zur Schule zurück. Martine wand sich in ihrer neuen Uniform, sie hasste den Rock und hatte ihrer Großmutter nichts zu sagen. Und das Gefühl änderte sich nicht im Geringsten, als sie durch das Eingangsportal der Caracal Junior High School fuhren und Martine die Horden von gesunden, selbstsicheren Kindern – ihre Mitschüler – sah. Ihre Hautfarbe reichte von honigfarbenem Gelbbraun über Cappuccino zu Schokoladenbraun. Kein anderes Kind hatte solch eine ungesunde gräulich-weiße Hautfarbe wie Martine. Ihre Großmutter ließ sie mit einem kurzen, wenn auch nicht unfreundlichen «Mach’s gut. Tendai oder ich holen dich um 16 Uhr wieder ab» vor dem Büro der Rektorin stehen. Martine presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen.

      «Nur ein Augenblick», rief eine Stimme, nachdem Martine an die Bürotür geklopft hatte. Sie hörte, wie jemand am Telefon sprach. Während sie wartete, blickte sie sich auf dem Flur um. Ihre Schule in England hatte wie ein Gefängnis aus Beton ausgesehen, mit einem asphaltierten Schulhof und Gängen in abblätterndem Beige.

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