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«so leid.» Dann kamen auch andere Nachbarn, um sie zu trösten, und Mrs. Robinson hüllte Martine, die immer noch in ihrem Pyjama dastand, in ihren Wintermantel.

      Durch ihren Tränenschleier glitzerten die funkelnde Glut und die Blasen des Löschschaums wie Rubine und Diamanten im Morgengrauen. Noch vor wenigen Stundenhatte sie mit ihren Eltern ein Geburtstagessen genossen. Sie hatten Pfannkuchen gemacht, diese mit Mandeln, Bananenstückchen und heißer Schokolade belegt und gerollt, sodass sie sie mit den Händen essen konnten. Martine und ihre Mutter hatten über David, ihren Vater, gelacht, der unaufhörlich geredet hatte, ohne zu merken, dass Schokolade aus dem Pfannkuchen auf sein Hemd tropfte. Nur etwas war geschehen, das Martine im Nachhinein seltsam vorkam.

      Es war beim Schlafengehen. Ihre Mutter hatte sie geküsst und war ihr auf der Treppe vorangegangen. Sie kam, gefolgt von ihrem Vater, hinterher. Vor ihrer Zimmertür umarmte er sie, wuschelte in ihren Haaren und sagte ihr, «ich hab dich lieb». So war es jeden Abend. Doch dann sagte er etwas Sonderbares.

      «Du musst Vertrauen haben, Martine. Alles, was passiert, hat seinen Grund.»

      Und sie hatte ihn angelächelt, sich darüber gefreut, wie süß ihre Eltern zu ihr waren, selbst wenn sie ihr manchmal etwas schrullig vorkamen, und war in ihr Zimmer gegangen. Sie ahnte nicht, dass dies die letzten Worte sein sollten, die er je zu ihr sagen würde. Und sie ahnte auch nicht, dass sie weder ihren Vater noch ihre Mutter je wiedersehen würde.

      • 2 •

      Es war Mr. Grice vom Sozialamt, der Martine mitteilte, dass sie nach Afrika ziehen würde, nach Kapstadt in Südafrika, um genau zu sein.

      «Südafrika?», rief Martine aus. «Warum Südafrika?»

      «Nun, wie es scheint, wohnt deine einzige noch lebende Verwandte in einem Wildreservat in Südafrika. Es handelt sich um eine Mrs. Gwyn Thomas, deine Großmutter, wie man mir sagt.»

      Völlig baff stammelte Martine: «Aber … ich habe doch gar keine Großmutter.»

      Mr. Grice legte die Stirn in Falten. Er fischte seine Brille aus der Westentasche und beugte sich nochmals über Martines Akte. «Doch, doch. Ich kann dir versichern, dass das stimmt. Hier steht es schwarz auf weiß.»

      Er übergab Martine ein cremefarbenes Blatt Papier.

       Sehr geehrter Mr. Grice

       Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Beileidschreiben zum Tod meiner Tochter, Veronica Allen, und ihres Mannes David. Ich habe wohl wenige so gute Menschen gekannt wie die beiden Verstorbenen. Ich wusste nicht, dass meine Tochter mir die Vormundschaft über ihr Kind, Martine, übertragen hatte, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Selbstverständlich übernehme ich die mir zugewiesene Verantwortung. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich lege diesem Schreiben einen Flugschein nach Kapstadt und 150 Pfund für allfällige Spesen bei. Da ich selten in die Stadt fahre, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie Martine dem südafrikanischen Klima gemäß einkleiden könnten.

       Mit freundlichen Grüßen

       Gwyn Thomas

      Irgendetwas am Ton des Briefes störte Martine. Ihre Großmutter zeigte keinerlei Begeisterung dafür, sie bei sich aufzunehmen. Ganz im Gegenteil. Zwischen den Zeilen las Martine deutlich heraus, dass sie Martines Kommen als Belastung empfand. Sie nahm es nicht einmal auf sich, ihr ein paar Sommerkleider zu kaufen. Offenbar hatte Gwyn Thomas große Stücke auf ihre Eltern gehalten, doch schien sie ganz und gar nicht erfreut darüber, sich nun mit deren Tochter herumschlagen zu müssen. Und was war mit Großvater? Von dem war gar keine Rede.

      Martine gab Mr. Grice den Brief zurück. «Da fahr ich nicht hin», sagte sie. «Diese Frau will mich nicht haben, und es kommt nicht in Frage, dass ich bei jemandem wohnen, der nichts mit mir zu tun haben will. Eher hacke ich mir einen kleinen Finger ab.»

      Mr. Grice blickte sie fassungslos an. Sein Vormittag war schon schwer genug gewesen, und jetzt drohte alles nur noch schlimmer zu werden. Was hatte seine Chefin wohl gegen ihn, dass sie ihm immer die unangenehmen Fälle zuschob?

      «Aber Mrs. Thomas ist dein gesetzlicher Vormund», sagte er.

      «Ich fahr da nicht hin», gab Martine widerspenstig zurück. «Und Sie können mich auch nicht dazu zwingen.»

      Mr. Grice raffte seine Unterlagen hastig zusammen und stieß dabei ein Glas Wasser um. «Ich bin gleich zurück», sagte er zu Martine, ohne dem vergossenen Wasser, das die Akten zu Aquarellen werden ließ, Beachtung zu schenken. «Ich muss mal telefonieren.»

      Martine saß da und starrte auf die von Zigarettenrauch vergilbten Tapeten des Büros von Mr. Grice und hatte viel mehr Angst, als sie sich anmerken ließ. Die vergangenen Wochen waren wie hinter einem Schleier an ihr vorbeigezogen. Die ersten fünf Tage des Albtraums nach dem Brand hatte sie bei den Morrisons verbracht, bis deren Söhne von einer Rugbytournee ihrer Schule nach Hause kamen. Danach hatte eine Freundin ihrer Mutter sie aufgenommen; doch diese wurde mit der Belastung, ein trauerndes Kind zu betreuen, nicht fertig. Schließlich wurde sie zu Miss Rose, ihrer Englischlehrerin, gebracht, die sich um sie kümmern sollte, bis man über ihre Zukunft entschieden hatte. Überall, wo sie hinging, trugen die Menschen ein aufgesetztes Lächeln im Gesicht und waren nie um hilfreiche Ratschläge verlegen. Doch sobald sie irgendwo einen Raum verließ, konnte sie ein Tuscheln hören, in dem häufig das Wort Waise und die Wendung ganz allein auf dieser Welt vorkamen.

      Martine war zu benommen und verzweifelt, um sich weiter darüber Gedanken zu machen. Ihr Kopf war wie gelähmt – es kam ihr vor, als würde sie immer schneller in ein tiefes, bodenloses Loch stürzen. Sie konnte nicht essen; sie konnte nicht schlafen; sie konnte nicht weinen. Doch immer wieder stellte sie sich eine Frage: Warum? Warum hatte sie überlebt – und ihre Eltern nicht? Es kam ihr alles so ungerecht vor. Die Feuerwehrmänner hatten sie für ihre Tapferkeit gelobt und dafür, dass sie richtig gehandelt hatte. Selbst wenn sie die Tür zum Flur nur einen Spalt weit geöffnet hätte, um zu ihren Eltern zu gelangen, wäre sie vom Flammenmeer verschlungen worden. Aber sie wurde ihre Schuldgefühle nicht los. Und was sollte jetzt mir ihr geschehen? Würde man sie wirklich zu einer Fremden nach Südafrika schicken?

      In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf einen cremefarbenen Umschlag auf dem Schreibtisch von Mr. Grice. Er kam ihr irgendwie vertraut vor. Sie nahm ihn in die Hand und las die Absenderadresse auf der Rückseite des Umschlags. In klarer blauer Tinte stand geschrieben: Gwyn Thomas, Sawubona Game Reserve, Cape Province, South Africa. Martine versuchte, sich zu erinnern. Wo hatte sie diese Handschrift schon gesehen? Und plötzlich fiel es ihr ein. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter diese Umschläge geöffnet hatte, jeden Monat, seit sie sich erinnern konnte. Ihre Mutter hatte nie ein Wort darüber verloren, doch Martine hatte stets wahrgenommen, dass sich die Stimmung ihrer Mutter veränderte, nachdem sie diese Briefe gelesen hatte. Es ging häufiger ein Lächeln über ihre Lippen, und sie lachte auch gerne einmal herzhaft. Jetzt, da sie so ganz allein und verwirrt im Büro von Mr. Grice saß, war Martine vollends durcheinander, weil ihre Mutter ihr nie erzählt hatte, dass diese Briefe von ihrer Großmutter stammten oder dass sie überhaupt eine Großmutter hatte. Weshalb diese ganze Geheimniskrämerei?

      Martine machte sich Gedanken zum Absender auf dem Umschlag: Gwyn Thomas. Das klang so hart und streng. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich hinter diesem kalten Namen ihre Großmutter versteckte und schon gar nicht, dass sie diese Frau Großmutter oder – noch schlimmer – Oma würde nennen müssen. Nicht einmal mit dem Vornamen Gwyn konnte sie sich anfreunden. Aus irgendeinem Grund musste sie immer an den ganzen Namen Gwyn Thomas denken.

      Als Mr. Grice in sein Büro zurückkehrte, schüttelte er den Kopf und sagte: «Es tut mir leid, aber deine Alternativen sind äußerst beschränkt. Ich hätte da einzig noch einen Platz im Kinderheim von Upper Blickley …»

      «Es ist schon gut»,

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