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Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Thomas Fuchs
Читать онлайн.Название Das Gehirn - ein Beziehungsorgan
Год выпуска 0
isbn 9783170394667
Автор произведения Thomas Fuchs
Жанр Медицина
Издательство Bookwire
Insofern also der intersubjektiv konstituierte Raum Objektivität besitzt – besäße er sie nicht, dann wäre keine Verständigung über gemeinsam wahrgenommene Objekte möglich, ja nicht einmal ein schlichter Warenaustausch wie beim Einkaufen – erweist er umgekehrt die jeweiligen subjektiv erlebten Räume, auf deren Basis er sich konstituiert, als nicht nur virtuell. Die subjektive Sicht ist also zwar eine je individuelle, perspektivische Sicht, jedoch nicht etwa »nur subjektiv« in dem Sinne, als wäre das Gesehene »im Subjekt«. Sehend befinden wir uns immer schon in einem gemeinsamen Raum mit anderen (vgl. Fuchs 2020a).
Der von Arzt und Patient übereinstimmend wahrgenommene Körper kann also kein subjektives Scheingebilde mehr sein. Er befindet sich im gemeinsamen, intersubjektiven und insofern objektiven Raum. Nun passt aber die subjektive Stelle des Schmerzes zum objektiven Ort des Körperteils. Der subjektiv-leibliche und der objektive Raum kommen also tatsächlich zur Deckung, und wir müssen die Frage wiederholen: Wie ist es möglich, dass der Patient den Schmerz dort empfindet und nicht im Gehirn?
Schon die Richtung der Frage zeigt freilich, dass wir in cartesianischer Tradition noch immer gewohnt sind, Subjektivität vom lebendigen Organismus kategorial zu trennen. Evolutionär verhält es sich gerade umgekehrt: Ursprünglich ist der ganze Körper gewissermaßen ein Sinnes- und Fühlorgan. Gerade an seinen Grenzflächen mit der Umgebung ist der Organismus reizbar, sensibel und responsiv. Die elementare Sensibilität beginnt an der Peripherie des Körpers.23 Die Ausbildung eines nervösen Zentralorgans hebt diese periphere Sensibilität nicht auf, sondern integriert sie. Dass das leibliche Bewusstsein mit dem Organismus koextensiv bleibt, zeigt, dass es gerade nicht als eine außerweltliche Entität aus ihm entspringt wie Athene aus dem Haupt des Zeus, sondern vielmehr von Anfang an verkörpertes Bewusstsein ist. Es stellt das »Integral« über dem lebendigen Organismus insgesamt dar, nicht ein im Gehirn produziertes Phantom.
Die Koextension von subjektivem Leib und organischem Körper ist so gesehen nicht mehr verwunderlich. Sie ist aber auch funktionell sinnvoll: Das bewusste Erleben ist dort, wo die Interaktionen mit der Umwelt stattfinden – in der Peripherie, nicht im Gehirn. Schließlich ist der Körper der »Spieler im Feld«. Daher ist es sinnvoll, dass wir seine Grenzen, Stellungen und Bewegungen in der Umwelt »analog«, d. h. leibräumlich erleben und nicht nur kognitiv registrieren.
Theoretisch wäre es auch denkbar, dass Schmerzen uns ortlos zu Bewusstsein kämen wie Gedanken oder Erinnerungen. Doch ohne die Koinzidenz der beiden Räume hätten wir unseren Körper nur als ein äußerlich zu hantierendes Werkzeug und wären nicht in ihm »inkarniert«. Nur weil das Bewusstsein in der schmerzenden Hand ist, zieht man sie unwillkürlich vor der Nadel zurück.24 Nur weil die Empfindung des Töpfers in seiner tastenden Hand ist, und er dort die Struktur des Tones spürt, kann er ihn auch geschickt formen. Eine bloße »zentrale Verrechnung« im Gehirn könnte niemals leisten, was die unmittelbare Präsenz des Subjekts in seiner Hand ermöglicht, nämlich die Verknüpfung von Wahrnehmung, Bewegung und Objekten in einem gemeinsamen Raum: »Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat« (Merleau-Ponty 1966, 291). Wir können insofern von einer nicht nur verkörperten, sondern auch »ökologischen Subjektivität« sprechen (Bateson 1981, Neisser 1988).
Wenn ich also nach etwas taste, so bewege und spüre ich keine virtuelle, sondern meine wirkliche Hand, die ihrerseits einen wirklichen Gegenstand berührt. Das wird dadurch möglich, dass der subjektive Raum in den objektiven Raum des Organismus in seiner Umwelt eingebettet ist. Das heißt: Wir sind leibhaftig in der Welt – und nicht Wesen, die nur das illusionäre Gefühl haben, in ihrem Körper zu stecken.
Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entsprechend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt nicht immer mit den Grenzen des Körpers exakt überein. So können auch Instrumente in das subjektive Körperschema integriert werden: Beim Tasten mit einem Stock empfindet man die Härte der betasteten Oberfläche nicht in der Hand, sondern an dessen Spitze.25 Der geübte Autofahrer spürt die Qualität des Straßenbelags buchstäblich unter den Reifen seines Wagens. Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu »inkorporieren«, so dass sie für ihn zu einem neuen Leibglied wird. Und selbst eine Gummihand kann sich vorübergehend dem gespürten Leib anschließen, wenn sie in dessen Empfindungen und Bewegungen in koordinierter Weise einbezogen ist – nicht anders als beim Bauchreden die verstellte Stimme des Redners der Puppe zugeschrieben wird. In all diesen Fällen handelt es sich nicht um »bloße Illusionen« – vielmehr stellt das Sinnessystem nur die optimale Kohärenz der verschiedenen Sinnesmodalitäten innerhalb des gemeinsamen leiblichen Raums her.26
Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifiziert sich also der ausgedehnte Leibraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Grenze, an der die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Dies ist wiederum funktionell sinnvoll: Der physische Kontakt mit dem eigentlichen Widerstand der Umgebung muss in das subjektive Erleben eingehen, damit ein adäquater Umgang mit Objekten und Werkzeugen möglich wird. Die angeblichen Illusionen, die dabei entstehen, sind in Wahrheit höchst sinnvolle Ausdehnungen unseres Leibbewusstseins im Kontakt mit der Umwelt. Wiederum folgt: Der objektive Raum des physischen Organismus und der subjektive Raum des leiblichen Erlebens sind ineinander verschränkt und modifizieren sich ständig wechselseitig.
Freilich zeigt das Phänomen der Phantomglieder oder -schmerzen, dass das gewohnheitsmäßige Körperschema (verankert im somatosensorischen Kortex des Gehirns) mit in den subjektiven Leibraum eingeht. Daher kann dessen Ausdehnung vom objektiv-körperlichen Raum ausnahmsweise erheblich abweichen. Solche Ausnahmen sprechen aber ebensowenig wie die schon beschriebenen Verschiebungsphänomene (Blindenstock, Autofahren) gegen die grundsätzliche Syntopiee, also die prinzipiell koextensive Räumlichkeit von Leib und Körper – im Gegenteil, sie bestätigen sie sogar: Wären Leib und Körper nicht normalerweise koextensiv, so würde dem Amputierten sein Phantomglied im Raum nicht weiter auffallen; es gäbe dann auch gar keine mögliche Diskrepanz beider Räumlichkeiten. Nur auf die grundsätzliche Syntopie kommt es aber an, soll die Illusionsthese bzw. die Vorstellung eines bloßen »Phantomleibs« widerlegt werden.
Um diesen für die weitere Untersuchung zentralen Punkt ganz deutlich zu machen, fragen wir noch einmal: Wo ist nun der Schmerz, wenn mir der Fuß wehtut? – Nach gängiger neurowissenschaftlicher Überzeugung dort, wo er erzeugt wird, also im Gehirn. Selbst John Searle, einer der prominentesten Kritiker des neurobiologischen Reduktionismus, ist dieser Auffassung:
»Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass unsere Schmerzen sich im physikalischen Raum innerhalb unseres Körpers befinden (…) Doch wissen wir nun, dass dies falsch ist. Das Hirn bildet ein Körperbild, und Schmerzen – wie alle körperlichen Empfindungen – gehören zum Körperbild. Der Schmerz-im-Fuß ist buchstäblich im physikalischen Raum des Hirns« (Searle 1993, 81).
Doch das Gehirn empfindet weder Schmerzen noch enthält es sie. Es produziert auch kein »Körperbild«, denn der erlebte Leib ist kein »Bild« von einem Körper, sondern es ist der Körper selbst als empfundener. Alles was sich im Gehirn findet, wenn jemand Schmerz empfindet, sind neuronale Aktivierungen im somatosensorischen Kortex und im Gyrus cinguli, und wie viel diese auch immer mit den Schmerzen zu tun haben mögen – sie sind sie nicht.27
Der Schmerz-im-Fuß ist somit weder im physikalischen Raum des Fußes noch im