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Träume.

      Da er ständig in Angst schwebt, zu stören oder lästig zu fallen, ist er förmlich froh, wenn das Strafgericht über ihn hereinbricht und ihm zu ein paar ungestörten Stunden verhilft. Da muss er — in der Rumpelkammer — die Schuhe und Stiefel der gesamten Familie putzen, und wenn er, beim Zusammensuchen aus allen Winkeln, auch Jettes unförmliche Fussbekleidung erwischen kann, empfindet er es gleichsam als eine Rache, sich selbst noch mehr zu erniedrigen, und mit ganz besonderer Sorgfalt putzt er gerade diese absatzlosen, rundlichen Dinger blitzblank.

      Und dann — wenn er fertig — setzt er sich vor den zerbrochenen Spiegel und schneidet sich die scheusslichsten Grimassen — eine ganze Stufenleiter von Empfindungen: Entsetzen, Trauer, Freude, Angst und Wut. Damit kann er sich stundenlang unterhalten, und wenn er es satt hat, zeichnet er Tante Klara und ihre Thaten. Kommt dann die Dämmerung, spinnt er sich ein in seine Träume, deren Erfüllung er von der Zukunft erwartet.

      Auch an Grossvater denkt er, hinter dessen Gesicht er tausend Geheimnisse wittert. Immer, wenn er es ansieht, muss er denken, dass der Alte etwas besitzt, das ihm heimliches Glück bereitet. Und Detlev hat den heissen Wunsch, sein Leben ebenso zu leben wie Grossvater, unbekümmert um alle Leute. Er weiss, dass diese Zeit kommen wird: Eines Frühlingsmorgens wird der Vorhang fortgezogen — dann thut sich die Welt vor ihm auf, er wird siegreich und stark sein!

      „Wenn ich in den Krieg ziehe, trifft mich keine Kugel, und wenn ich die Prinzessin befreien wollte, würde es mir gelingen.“

      Er blickt in den Spiegel und sucht in seinem Gesicht nach einem Zeichen, das seinen Glauben bestätigt. „Tante Klara ahnt nicht, was später aus mir werden wird — sie ist viel zu dumm dazu!“

      So hat er eben wieder gedacht, während er scheinbar Geschichtszahlen lernt, doch — da kommt die Verhasste in die Stube, jetzt heisst es aufpassen! Auch Tante Rele, die mit offenem Munde vergnügt dagesessen und in die Sonne gestarrt hat, nimmt schnell ihre ungleichen Strümpfe vor. Zeitweilig unterbricht sie sich und blickt besorgt nach der Schwester und, wenn sie dann auf ihrer Warze klimpert, sind es Trauermärsche, die sie spielt.

      Denn Tante Klara ist krank — kränker als sonst. Durch eifriges Studium in einem von ihr heilig verehrten Medizinbuche, hat sie entsetzt erkannt, dass sie nicht an Gallensteinen, sondern an sehr gefährlichen Magengeschwüren leidet.

      Gehetzt geht sie auf und ab, und Detlev ist voll Erwartung, was sie nun zuerst anstellen werde? Wenn sie stirbt — ob ihr dann wohl die Pelzstiefel ausgezogen werden? Und wie der Tituskopf sich im Sarge ausnehmen wird?

      „Warum lachst du?“ fragt Tante Klara plötzlich, ihre strengen Augen durchdringend auf Detlev richtend, und zieht dabei die dünne Oberlippe so hoch, dass das blassrote Zahnfleisch sichtbar wird.

      „Was?“ fragt sie, näherkommend, während ihr Quittengesicht vor innerer Wut dunkel wird. „Weisst du nicht, dass ich krank und reizbar bin und geschont werden muss — hä?!“ Damit streckt sie ihre spitzen Finger aus und krallt die Nägel in Detlevs Ohr.

      „Lass mich los!“ schreit er und windet sich empor.

      „W—a—a—s! Ja, jetzt hörst du die Engel im Himmel pfeifen — nicht wahr?“ Detlev sieht, welches Vergnügen sie empfindet, ihn so zu quälen. Und als sie immer noch an dem Ohr zerrt, packt ihn das rasende Verlangen, frei zu werden. Im nächsten Augenblick hat er sich losgerissen — mit der anmutigen Empfindung, sein halbes Ohr zurückzulassen — und will entweichen. Doch Tante Klaras Fangarme strecken sich ihm entgegen und da — er weiss nicht, wie es zugegangen — sitzt er plötzlich auf ihrem Spitzbauch und handhabt den Tituskopf an beiden Ohren, wie man eine Ziehharmonika handhabt.

      Tante Rele sinkt mit lautem Aufschrei in die Sofaecke. Tante Klara aber giebt so merkwürdige durchdringende Töne von sich, dass Jette aus der Küche gestürzt kommt, in der festen Ueberzeugung, dass bei ihrer Herrin eine der furchtbaren Krankheiten ausgebrochen ist, an denen sie innerlich schon so lange leidet.

      Als Jette das Schauspiel sieht — Tante Klara dreht sich im rasendem Wirbel — wischt sie sich die Hände am Kopf ab und beginnt schmetternd, wie ein altes Elefantenweibchen, zu trompeten.

      Im Augenblick, als man Dr. Jensen herbeistolpern hört, springt Detlev hinunter und entflieht — durch die Küche — hinaus auf die Strasse. Er läuft und läuft, mit dem Gefühl, eine heulende Meute hinter sich zu haben. Als er endlich still steht und sich umsieht, ist er in einem fremden Stadtviertel.

      Da kommt es wie eine grosse Ruhe über ihn — nun ist er gerettet — jetzt kommt ein neues Leben. Noch vor einer Stunde hat er nur davon geträumt — nun aber ist es plötzlich so weit! Und da ergreift ihn jenes erwartungsvolle Bangen, wie sonst in seinen Träumen. — Dann stutzt er — diese lange, graue Mauer dort kommt ihm bekannt vor — das ist doch der Kirchhof, wo die Mutter begraben liegt!

      Ja — da ist auch das hohe, eiserne Thor, an das er sich noch deutlich erinnert. Er tritt ein und kommt in eine andere Welt: Starr und verzaubert stehen die alten Bäume im roten Schein des Spätnachmittages, gedämpft klingt das Brausen der Grossstadt in die tiefe Stille herein. Und je weiter Detlev geht, — desto feierlicher wird es zwischen den dichten Büschen, den grossen, weissen Marmorkreuzen und blumenprangenden Grabhügeln. Schmetterlinge irren darüber hin und unsichtbare Vögel zwitschern im dunklen Laub.

      Hier ist Gott und hier ist der Tod, die Zwiesprache halten über die, welche da draussen hetzen und jagen. Und wenn die Nacht dann kommt, schleicht sich der Tod in die Häuser der Menschen und stellt sich am Fussende des Bettes auf. Jede Nacht macht er einen Schritt weiter, bis er dem Kranken in die Augen blicken kann. Und wenn das geschehen, muss der Mensch unrettbar sterben.

      Detlev durchbebt es, wenn er an den kleinen Kapellen vorbei muss, durch deren vergitterte Thüren eine seltsam kühle, mit dem Dufte sterbender Blumen vermischte Luft weht. Und wo ist nun der Mutter Grab? Immer, wenn er schon am Ziele zu sein glaubt und hoffnungsfroh die wuchernden Ranken von den Grabsteinen schiebt, prallen ihm wunderliche, unbekannte Namen entgegen. Er wird ganz elend inmitten dieser schweigenden, ernsten Hügel mit ihren stillen Bewohnern und setzt sich — ermattet und hoffnungslos — auf eine Bank, um ruhig zu überlegen.

      Die Sonnenstrahlen werden schräger, und der Abendwind wacht auf, reckt sich und huscht flüsternd durch die Büsche und Baumkronen. Die Vögel singen ihr letztes Lied, der Mückenschwarm verschwindet in der blauen Luft, und die Fledermäuse gleiten lautlos vorüber.

      Da graut es Detlev. Irgendwo muss jetzt der Tod aus einem der dunklen Büsche, hinter einem der weissschimmernden Kreuze hervortreten. Und den Hals eingezogen, schleicht Detlev davon, jeden Augenblick erwartend, eine kalte Knochenhand im Genick zu spüren.

      Da ist der breite Hauptweg, dort das eiserne Thor und dahinter die Strasse. Vor dem Eingang hält eine Kutsche, der Totengräber steht daneben und spricht mit einer tief verschleierten Dame. Im offnen Wagen sitzt ein kleines Mädchen, dessen stolzes Gesichtchen im Abendscheine noch deutlich erkennbar ist. Detlev sieht die dunklen Augen auf sich gerichtet und da durchzuckt ihn plötzlich ein seltsames Gefühl, jene merkwürdige Empfindung, die einer Gewissheit gleichkommt: Er hat heute hierher kommen müssen, um dieses schöne, stolze Gesichtchen zu sehen, das für sein Leben bedeutungsvoll werden wird.

      Scheu will er sich in den Schatten drücken, da — er schreit erschreckt auf — packt ihn jemand am Kragen. Und als er sich voll Grauen umwendet, sieht er das faltige Gesicht und die scharfen Augen seines Grossvaters.

      „Detlev — Koujon — wie kommst du allein hierher?“

      Da — überwältigt von seinem übervollen Herzen — bricht Detlev in leidenschaftliches Weinen aus. „Grossvater — ach, Grossvater!“ Und dann folgt die Unglücksgeschichte, überhaupt sein ganzes Elend — alles, alles erzählt er mit der Rückhaltlosigkeit und der fanatischen Wahrheitsliebe des aufgewühlten Kindesgemütes.

      Grossvater sagt garnichts — als aber Detlev einen scheuen Blick hinaufwagt, sieht er ein Paar so vergnügte Augen, dass ihm sofort ganz leicht ums Herz wird.

      Und als sie dann um die letzte Ecke biegen, ungesehen ins Haus kommen, und Detlev nachher das Bett über

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