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Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen
Читать онлайн.Название Die Süßkirschenzeit
Год выпуска 0
isbn 9788711459874
Автор произведения Lis Vibeke Kristensen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
– Ein Rennrad. Das ist pathetisch.
– Da stimme ich dir zu. Aber es wirkte wie eine gute Idee, als ich es getan habe.
– Er behält es, sagt sie. – Er hat immer von einem Rennrad geträumt.
Die Stimme ist plötzlich spröde. Dann wird es still am anderen Ende der Leitung. Selbst hat er auch nichts zu sagen, aber auf der anderen Seite ist dies ein Gespräch, das man nicht einfach abbricht.
Die Sekunden vergehen.
– Wenn du nicht so ein Schwein wärst, sagt sie schließlich. – Wenn du nicht so ein mittelmäßiges Schwein wärst.
– Was dann? Was würde dann passieren?
– Kapierst du nicht, was hier passiert? Kapierst du das nicht? Sie ist jetzt wütend, die Worte stolpern übereinander. – Ich kann nicht hier bleiben, nicht in diesem verdammten Land.
– Wenn ich nicht so ein mittelmäßiges Schwein wäre, was würde dann passieren?
– Vergiss es.
Sie hat den Hörer aufgelegt. Eine lange Minute sitzt er da und starrt das Telefon an. Das Gespräch ist vorbei, so kann man es betrachten. Man könnte auch sagen, dass das Gespräch gerade erst begonnen hat. Der ausdruckslose Nachtportier hebt nicht mal den Kopf, als er die Rezeption passiert. Das Fahrrad steht, wo er es zurückgelassen hat. Ein unabgeschlossenes Fahrrad würde keine Nacht und einen Tag in seinem Viertel in Kopenhagen überstehen, aber das hier hat auf ihn gewartet. Die Straßen haben in dem, was einmal seine Stadt gewesen ist und die es vielleicht, sagt eine Stimme in seinem Kopf, vielleicht immer noch ist, auf ihn gewartet.
Sie hat auf ihn gewartet, oder so wirkt es, jedenfalls macht sie ihm nach einem einzigen Drücken der Türklingel auf. Er nimmt sich die Treppe hoch viel Zeit, er will nicht außer Atem sein. Die Tür steht einen Spalt weit offen und in dem kleinen Flur knarrt dieselbe Diele wie damals. Der Spiegel ist derselbe, es ist nur das Spiegelbild, das sich verändert hat. Die Wachsdecke auf dem Esstisch der Küche hat ein anderes Muster, aber die Tischbeine, dünn und braunlackiert, sind dieselben. Sie sitzt auf ihrem Platz, dort, wo sie am letzten Morgen gesessen hat. Wie an allen anderen Morgen tranken sie Kaffee, jetzt steht eine Flasche vor ihr und etwas, das einem Senfglas ähnelt. Sein Stuhl steht, wo er gewöhnlich steht und er denkt gerade, dass ein anderer auf ihm gesessen hat und wer der andere wohl sei. Sie zeigt auf die Flasche, aber er will einen klaren Kopf haben. In dieser Situation hier zu trinken, wäre ein Fehler, den er sich nicht leisten kann. Die Gläser stehen an ihrem Platz im Küchenschrank, er holt eins und lässt das Wasser laufen, bis es etwas kühler als lauwarm ist. Dann setzt er sich. Sitzt eine Minute, zwei, sieht sie die Flasche nehmen und sich eingießen. Billiger Whisky, der Geruch ist nicht zu verkennen.
– Ich trinke nicht, falls es das ist, was du denkst. Sie nimmt einen Schluck, erschaudert, hustet. – Das wäre ansonsten am leichtesten, aber ein alkoholisiertes Weib wird nicht ernst genommen.
– Ich glaube gar nichts.
Er leert sein Wasserglas, geht rüber zum Waschbecken und füllt es neu.
– Warum bist du gekommen? Wenn du um ihn kämpfen willst, ist es zu spät.
– Ich bin nicht darauf aus zu kämpfen. Tatsächlich möchte ich einen Friedensvertrag vorschlagen oder wie so etwas heißt.
Gelächter. Das, das sie benutzte, wenn sie Leute heruntermachen wollte, sowohl auf als auch neben der Bühne.
– Ich habe doch gesagt, es ist zu spät.
Die Jahre haben sie gut behandelt. Das Haar ist etwas blasser als damals, aber die Frisur ist dieselbe, nach hinten aus der gewölbten Stirn gerafft, mit den sorgfältig gezupften Brauen mit denselben zwei Spangen aus silberfarbenem Metall. Die Augenlider hängen ein wenig, ansonsten ist das Gesicht mit den hellen Sommersprossen in Takt. Unter dem dünnen Kimono ist der Körper nicht mehr so angenehm abgerundet wie damals, die Konturen sind schärfer, die Schlüsselbeine pressen gegen die Haut, aber betrachtet er sie wie eine Fremde, hat sie immer noch eine gewisse Anziehung.
Sie ist eine Fremde. Das sagt er sich selbst. Eine Fremde, mit der er zufälligerweise ein Kind hat, einen erwachsenen Mann, der gerade jetzt auf seinem Rennrad durch Berlin fährt. Das Fahrrad stand nicht im Torweg, als er kam. Das nimmt er zur Kenntnis, auch, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Das, weshalb er gekommen ist, involviert drei Personen und vielleicht ist der Sohn nur für eine Besorgung draußen und kommt gleich zurück.
Er hat den ganzen Tag Wasser in sich gekippt und das letzte Glas bringt seine Blase dazu, zu reagieren. Im Bad ertappt er sich dabei, die Hand gegen die Wand zu stützen und als er die Hand wegnimmt und seinem Blick im Spiegel begegnet, ist er entschlossener, als er sich fühlt. In dem Spiegelregalfach steht ein Zahnputzbecher mit einer Bürste und einer Tube Zahnpasta, ein zweites Fach enthält ihre Cremetiegel und eine Flasche des üblichen Eau de Cologne. Kein Rasierzeug, kein maskulines Deodorant, nichts, das verrät, dass auch ein Mann in der Wohnung wohnt. Als er zurückkommt, ist die Küche leer. Drinnen im Wohnzimmer sitzt sie auf einem Sofa, das seinem eigenen in Kopenhagen ähnelt, ein Schlafsofa, er geht davon aus, dass es seinem Zweck entsprechend gebraucht wird. Der niedrige Sofatisch ist mit einer Glasplatte bedeckt. Auf dem Glas liegt ein Schlüsselbund, unter ihm liegen Zeitungsausschnitte. Bilder von Vorstellungen. Von ihr. Von anderen Kollegen. Von ihm selbst. In der Mitte ein Bild vom Dramatiker mit der gewöhnlichen runden Brille und der Zigarre.
– Wo ist er?
– Woher soll ich das wissen? Er hat einfach seine Schlüssel dahin geworfen, er hat keine Spur hinterlassen.
– Sie beugt sich runter und zieht eine Schublade unter dem Sofa hervor.
– Leer, sagt sie. – Du kannst in den Schrank da gucken, wenn du mir nicht glaubst.
Das Lachen balanciert auf der haarscharfen Grenze zum Weinen. Sie schnieft, findet eine Papierserviette in der Kimonotasche und putzt sich die Nase.
– Du hast mich zu einer Lügnerin gemacht, sagt sie. – Als ob es nicht besser wäre, einen toten Vater zu haben, als einen Vater, der ein Scheißkerl war.
– Ich habe dich zu nichts gemacht. Du hast selbst entschieden, was du ihm erzählen wolltest.
Die Schublade, die sie unter dem Sofa hervorgezogen hat, gafft leer. Im Badezimmer war keine Spur von ihm. Vielleicht stimmt es, was sie sagt. Eine Konfrontation. Eine Auseinandersetzung. Es wird mit Türen geknallt, Anschuldigungen, Drohungen, Verwünschungen werden ausgesprochen und Entscheidungen getroffen. Sich loszusagen. Abstand zu halten. Genauer betrachtet, hat er dafür keine Verantwortung, aber tief in sich weiß er, dass er es sich zu leicht macht. Wenn es tatsächlich passiert ist, hat sich der Junge entschieden, keine Mutter mehr zu haben. Ob er einen Vater hat, der für etwas anderes als leere Gesten gut ist, ist eine andere Frage. Rückblickend wird es zu deutlich. Ihm ein Rennrad aufzudrängen, war übertrieben, nahe daran lächerlich zu sein, aber die Situation ist nicht zum Lachen, sie ist vor allem traurig und er weiß nicht, was er tun kann, um die Überreste zu retten. Falls da etwas zu retten ist.
– Ich weiß nicht, was ich sage, sagt er. – Entschuldige.
Sie schnieft wieder.
– Verschwindet er, habe ich nichts mehr, sagt sie. – Und er wird verschwinden. Nicht nur deinetwegen, dieses verfluchte Land hier ist das Paradies der Heuchler. Das ist es immer gewesen, jetzt ist es schlimmer, als es jemals war.
Die Wut lässt sie stammeln.
– All die scheinheiligen Arschlöcher. All jene, die ihren Heiligenschein putzen. Ich übergebe mich über sie. Dieses verfluchte Land hier. Jetzt kann man es plötzlich sagen, aber das Land gibt es nicht mehr und die Leute sind nur damit beschäftigt, sich daran zu bereichern und ich rede nicht davon, Fahnen oder Parteisymbole zu verkaufen, nein, du, jetzt waren sie alle zusammen Dissidenten, sie riskierten ihren Hals, keiner war ein Mitläufer, niemand hat jemanden verraten, niemand hat irgendeine Verantwortung.
Das Fenster hinter ihr steht sperrangelweit offen, der Vollmond gießt Silberlicht