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Daneben stand das Regiment der jungen Kinder, ein Werk des Doktor Mettler aus dem Jahre 1473, welches ebenfalls die Kinderkrankheiten behandelte. Noch niemals hatte Luzia so viele Bücher gesehen. Selbst die Benediktiner auf dem Martinsberg zu Altdorf beneideten ihren Onkel um einige Werke, und wenn sie sich umsah, mochte sie das gerne glauben.

      Nachdem sie sich in der Bibliothek ausgiebig umgesehen hatte, stieg Luzia wieder ins Erdgeschoß des großen Hauses, um sich die Apotheke vorzunehmen. Auf den Regalbrettern des hinteren Raumes, in den keine Kunden kamen und wo ihr Onkel seine Mixturen herstellte, lag der Staub vergangener Monate. Luzia machte sich daran, die mannshohen Wandgerüste davon zu befreien. Die bleiverglasten Butzenscheiben ließen das Innere der Apotheke in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. Sie säuberte die vielen Schränke aus dunklem Holz. Luzia wischte über die Knäufe der unzähligen Schubladen, dann zog sie einige davon auf und warf einen Blick hinein. Exotische Düfte von Zimt, Nelken, Pfeffer und anderen seltenen Gewürzen strömten ihr entgegen und erfüllten den hohen Raum. Sie verstärkten die geheimnisvolle Stimmung der Apotheke. Auch die scharfen Gerüche heilbringender Arzneien lagen in der Luft, und als Luzia ihre Augen schloss, um die schweren, leicht schwindelerregenden Aromen auf sich wirken zu lassen, erinnerte sie sich daran, dass sie all diese Gerüche bereits aus ihrer Kindheit kannte. Den hinteren Teil der Apotheke liebte Luzia ganz besonders. Hier befand sich über einer gemauerten Feuerstelle der Alambik. Während sie im kupfernen Destillierhelm ihr Spiegelbild betrachtete, überlegte sie, ob Basilius immer noch die Bestandteile seines Theriak darin braute.

      Basilius traf nach einer guten Stunde wieder in der Apotheke ein, als Luzia gerade herumstehende Flaschen zusammenstellte und ein paar Becher ausrieb.

      »Johannes lässt dich herzlich grüßen«, sagte der Onkel mit einem listigen Lächeln. »Und du bringst schon wieder meine heilige Unordnung durcheinander.«

      »Was so alles zum Vorschein kommt, wenn erst der Staub beseitigt ist.« Luzia schwenkte die Vergrößerungsgläser, die Basilius schon seit einer Ewigkeit vermisste. »Die lagen zwischen den Seiten dieses Buches«, sagte Luzia und deutete lachend auf einen dicken Wälzer.

      »Was würde ich ohne dich tun? Dafür lasse ich dich jetzt mein Elixier probieren.«

      Er goss eine Winzigkeit auf den kleinen Probierlöffel aus Horn. »Koste es. Edles Theriak ist kaum mit Gold aufzuwiegen«, forderte er seine Nichte auf.

      Bittere Süße breitete sich in ihrem Mund aus. Warm und rund schmiegte sich die dunkelbraune Flüssigkeit an ihren Gaumen. »Na, kannst du mir ein paar der Inhaltsstoffe nennen?«, fragte er herausfordernd. Als Luzia sah, wie seine Augen vor Freude leuchteten, wusste sie, dass er nicht einen Augenblick an ihren Fähigkeiten zweifelte.

      »Mmh, mal sehen, ob ich das kann, bitter und aromatisch … Engelwurz, Baldrian und vielleicht Myrrhe.«

      Basilius nickte. »Kennst du auch die lateinischen Entsprechungen?«

      »Angelica archangelica, Valeriana und Commiphora myrrha.«

      »Ganz meine Nichte«, lobte Basilius, und seine Augen leuchteten voller Zufriedenheit.

      Aufgeregt verließ Luzia das große Apothekerhaus. Obwohl ihr Basilius mehrfach versichert hatte, dass sie sich vor der Einschreibung ins große Buch der Stadt Ravensburg nicht zu fürchten brauche, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Sie wandte sich nach links, wo die Straße zum Marktplatz hin abfiel. Hier in der Marktstraße wohnten die wohlhabenden Patrizier. Ihre Häuser waren allesamt groß, prächtig und aufwendig verziert. Auf dem Katzenkopfstein hallten ihre Schritte unüberhörbar. Eine Frau öffnete die Fensterläden im ersten Stock und blickte hinaus. Luzia grüßte freundlich, die andere nickte nur. Nach wenigen Minuten öffnete sich die feine Marktstraße zum Marktplatz, an dessen Ende das Rathaus stand. Der Staffelgiebel mit seinen Zinnen erinnerte an eine mächtige Burg. An der Nordwand klebte der kleine Gerichtserker mit den Wappen der Stadt und des Reichs. Und auf dem Dach saß der Glockenturm, von wo aus die Stadträte zur allwöchentlichen Ratsversammlung gerufen wurden.

      Zwei Frauen standen bereits im Eingangsbereich und führten ein angeregtes Gespräch. Sie warteten darauf, dass sie der Ratsknecht einließ. Beide trugen Kleider aus feinem Tuch. Mit Luzias Ankunft verstummten sie und musterten sie voller Neugier.

      »Die neue Hebamme«, sagte die Ältere von beiden, wobei sie sich keine große Mühe gab, ihre Stimme zu senken.

      »Sie hat ja rotes Haar«, bemerkte die Jüngere spitz.

      »Natürlich hat sie rotes Haar. Das hatte sie schon, als sie noch ein Kind war.«

      »Du kennst sie?«

      »Ja, und ich bin gespannt, ob sie genauso grob ist, wie ihre Mutter es war«, überlegte die Ältere.

      »Ich hoffe nicht«, gab die andere zur Antwort. »Mein Monatsblut ist bereits zum dritten Mal gestockt, langsam glaube ich, guter Hoffnung zu sein.« Die hübsche junge Frau lächelte bei diesem Geständnis.

      Luzia wandte sich ihr zu und sagte freundlich: »Ihr seid guter Hoffnung, das erkenne ich gleich. Trinkt den Sud aus gekochten Himbeerblättern mit Fenchel und Frauenmantel, das ist wichtig, besonders wenn es das erste Mal ist.«

      Die junge Frau schnappte nach Luft. »Das erste Mal! Wie könnt Ihr das wissen?«

      In diesem Augenblick schwang die Tür auf, und Luzia ging an den beiden vorbei hinein. Hinter sich hörte sie erregtes Geflüster.

      Das Innere des Rathauses umfing sie mit feuchter Kühle. Luzia stieg die große Treppe hinauf und klopfte an die schwere Eichentür, die viel höher war als sie selbst. Der Stadtmedicus, der sie empfing, war nicht Johannes von der Wehr, den sie vorzufinden erwartet hatte, sondern sein älterer Amtskollege, Doktor Friedrich Sauerwein. Der dicke Mann war ihr auf Anhieb unsympathisch. Seine feisten Wangen und sein Doppelkinn zeugten nicht gerade von Askese. Und die rote Gesichtsfarbe wies auf ein zorniges Gemüt.

      »Wie ist Euer Name, Frau?«, fragte Sauerwein eisig, »und was wollt Ihr?«

      Luzia knickste: »Luzia Gassner, ich bin die neue Hebamme, und als solche möchte ich mich bei Euch vorstellen.

      »So, so, Ihr seid also die Gassnerin?«, entgegnete Sauerwein. Widerwillig betrachtete er ihr rotes Haar.

      Luzia nickte und senkte züchtig den Blick.

      Der Stadtmedicus überprüfte Luzias Wissen mit ein paar Fragen zur Geburtshilfe, und weil sie seiner Befragung mit den richtigen Antworten begegnete, hatte er keinen Anlass, ihr die Arbeit in der Stadt zu verwehren. Mit saurer Miene holte er das Register hervor, in das er Luzia als neue Hebamme registrieren musste.

      »Wann seid Ihr geboren?«, wollte Sauerwein mit der Feder in der Hand wissen. Luzia räusperte sich, dann fasste sie Mut und antwortete mit fester Stimme:

      »Wenn Ihr gestattet, ich kann mich selbst ins Register einschreiben.«

      »Ihr seid des Schreibens mächtig? Ach, richtig, Kaplan Grumper hat mir ja bereits erzählt, welch fleißige Schülerin Ihr wart.« Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. Als sie den Namen des Schulmeisters hörte, erschrak Luzia. Für kurze Zeit drehte sich der Raum um sie. Erst als ihr Sauerwein die Feder reichte, stand die Erde wieder still.

      Luzia Gassner, von Beruf Hebamme, geboren am Stephanstag, dem 2. Tag des elften Monats im Jahre des Herrn 1464, schrieb sie in das große Pergament. Sauerwein beobachtete sie misstrauisch und prüfte ihre Eintragung. Der Amtsmedicus übertrug Luzias Angaben sorgfältig auf eine Urkunde. Dann setzte er für die erfolgte Überprüfung seine Unterschrift darunter, siegelte das Schreiben mit dem Wappen Ravensburgs und überreichte ihr das Dokument. Jetzt war sie die neue Hebamme der Stadt. Sauerwein würdigte sie nicht eines Blickes mehr, sondern begann in einem Buch zu blättern.

      »Gibt es eigentlich noch eine weitere Hebamme in der Stadt?«, wagte Luzia zu fragen. »Laut meinem Onkel, dem Apothekarius Basilius Gassner, zählt die Stadt immerhin um die viertausend Einwohner.«

      »Befürchtet Ihr jetzt schon unter Eurer Arbeit zu ersticken?«

      Luzia schüttelte den Kopf und schalt sich eine Närrin, den Medicus gefragt

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