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redseligen Onkel, etwas Zeit erübrigen konnte, betrat sie den Innenhof der Apotheke. Niemand würde ein solches Kleinod inmitten der Stadt vermuten, aber Luzia konnte sich auch nach den vielen Jahren, in denen sie nicht mehr hier gewesen war, noch gut an den Garten erinnern. Die alte Linde stand noch genau in der Mitte. Noch größer als vor einigen Jahren beherrschte sie den Garten. In den Ecken gediehen Wachholder, eine Eibe und ein verwilderter Holunder. Auf Perchtas heilige Pflanzen muss ich also auch hier nicht verzichten, dachte Luzia erleichtert.

      Die Kiste von Pater Wendelin hatte Matthias am Vorabend auf den kleinen Tisch unter der Linde gestellt. Luzia wollte keine Zeit verlieren, die Pflanzen mussten schleunigst in die morgenfeuchte Erde. Sie kniete sich vor das mit einer niedrigen Buchshecke umgebene Beet in der südlichen Ecke des Gartens. Kurz entschlossen riss sie die verblühten Ringelblumen gemeinsam mit dem sie umgebenden Unkraut heraus. Zwischen die letzten Seiten des Pflanzenbuches hatte Pater Wendelin die gekürzte Abschrift des Hortulus geschoben, die sie nun entfaltete, obwohl sie das Lehrgedicht auswendig kannte und genau wusste wo sie die einzelnen Pflanzen einsetzen musste.

      Sie begann mit dem Salbei, den Walahfrid Strabo als Erstes nannte, gefolgt von Muskatellersalbei, Liebstock und Frauenminze. Durch die Fahrt waren ein paar Blättchen umgeknickt. Luzia entfernte sie ganz vorsichtig. Dann legte sie einen Setzling nach dem anderen in die Erde. Voller Wehmut ließ Luzia ihre Gedanken schweifen. Der würzige Duft der Kräuter mischte sich mit dem tiefen Aroma des feuchten Erdreichs. Sie sah Pater Wendelin vor sich, wie er in seinem schwarzen Habit vor ihr stand und sie unermüdlich die lateinischen Bezeichnungen der einzelnen Pflanzen abfragte. Seine warmen Augen glänzten vor Lehrer-Stolz. Als ihr Mund trocken wurde und ihr Herz zu schmerzen begann, vermischte sich die Erde mit ihren Tränen. Sie vermisste ihren weisen Lehrer, den väterlichen Freund und geistigen Mentor sehr. Stets hatten die wunderbaren Gespräche ihren Geist genährt und ihrer Seele Flügel verliehen. Schnell wischte sie die Tränen fort. Basilius sollte nicht sehen, wie sie weinte.

      Luzia setzte Andorn, Schlafmohn und Katzenminze. Von dem verführerischen Duft angelockt sprang Nepomuk durch die offene Tür in den Innenhof. Er streifte genießerisch um die kleine Pflanze herum, ehe er sich wieder aus dem Staub machte.

      Als alle Pflänzchen eingesetzt waren, hob sie die leere Holzkiste vom Tisch herunter. Sie war schwer, und doch hatte Matthias sie ohne jede Mühe getragen. Matthias, der die Sonne in ihrem Herzen gewesen war … Durch die Umarmung zum Abschied hatte Luzia seine Trauer gespürt, wie ein Leichentuch hatte sie ihn umgeben. Er hatte sich bemüht, seine Kränkung zu verbergen, doch die Blicke, mit denen er Luzia ansah, verrieten ihn. Immerhin waren sie als Freunde auseinandergegangen. Luzia seufzte, sie wünschte ihm nur das Beste und hoffte für ihn, dass er schon bald sein Glück finden würde.

      Am späten Abend würde Matthias Seefelden erreichen. Sein erster Weg würde ihn zu Jakob und Elisabeth führen, um ihnen von der Reise zu berichten. Elisabeth … Erleichtert vernahm sie die Stimme ihres Onkels, der in den Garten hinaus gekommen war.

      »Kaum ist eine Frau im Haus, schon beginnt sie meine kluge Ordnung zu zerstören!«, sagte Basilius in gespielter Empörung.

      Luzia lachte. »Das nennst du Ordnung? Unkraut hast du hier gepflegt. Ich habe in dieses Beet meine Heilpflanzen gesetzt. Du wirst sie auch noch zu schätzen wissen.«

      Basilius hob mahnend den Zeigefinger. »Wage es nicht, Hand an meine Apotheke zu legen.«

      Luzia legte die Hand auf ihr Herz. »Niemals würde ich das wagen«, versicherte sie ernsthaft und legte den Arm auf seine Schulter. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und füllte den Ledereimer mit frischem Brunnenwasser. Nachdem sie das Beet gewässert hatte, beschloss sie, Seefelden und alles, was sie zurückgelassen hatte, tief in ihrem Herzen zu bewahren, jetzt aber entschieden nach vorn zu blicken.

      Nachdem Luzia am Grab der Mutter ein Gebet gesprochen hatte, machte sie sich daran, die schmuddelige Hebammentasche die sie ihr hinterlassen hatte, genauer in Augenschein zu nehmen. Es fiel ihr schwer zu glauben, was sie mit spitzen Fingern zutage förderte. Neben einem silbernen Kreuz befand sich noch eine alte Taufspritze in den Tiefen des alten Beutels. Alles andere war völlig wertlos. Schmutzige Leinenstreifen, die über und über mit Stockflecken bedeckt waren, und zerpflückte Scharpie, die bereits nach Schimmel roch. Eine Flasche, deren Inhalt mehr als zweifelhaft war und ein kleines, blutverkrustetes Messer. Luzia nahm das Kreuz an sich, die Wundmaterialien verbrannte sie im Herdfeuer und den Rest schob sie im Keller in die hinterste Ecke eines Regals. Die Tasche war eine Schande für ihren Berufsstand.

      »Seitdem meine Annegret nicht mehr ist, gab es neben meiner Arbeit in der Apotheke keine großen Freuden mehr. Doch du hast das Licht in meinem Herzen wieder entzündet«, sagte Basilius als er sich zum Mittagsmahl niederließ. »Seit du bei mir bist, entdecke ich das Leben wieder jeden Tag aufs Neue. Ich bin wieder neugierig wie ein Fünfjähriger«, erklärte er mit einem Lächeln. Dabei leuchteten seine wachen, braunen Augen tatsächlich wie die eines kleinen Jungen. Sein eisgraues Haar wirkte immer ein wenig zerzaust genau wie seine buschigen Augenbrauen. Dagegen wirkte Basilius’ kurz gestutzter Bart geradezu modisch. Doch im Gegensatz zu den anderen wohlhabenden Bewohnern der Marktstrasse achtete er weniger darauf, was das modebewusste Italien oder das feine Frankreich denen, die es sich leisten konnten, diktierte. Basilius war eher praktisch veranlagt und ließ sich von Äußerlichkeiten nicht so schnell beeindrucken.

      »Heute zur zweiten Mittagsstunde habe ich eine Verabredung mit Johannes von der Wehr. Gemeinsam treffen wir uns im Kontor der Fernhandelsgesellschaft. In den frühen Morgenstunden ist ein Handelszug aus Genua eingetroffen und nun hoffen wir auf die bestellten Waren aus Afrika«, sagte Basilius und lehnte sich satt in seinem Stuhl zurück.

      »Johannes von der Wehr?«, fragte Luzia lauernd. Ihr war nicht entgangen, dass ihr Onkel keine Gelegenheit ausließ den jungen Medicus zu erwähnen. Nachdem sie Jakobs Vorhaben entgangen war, fürchtete Luzia bereits Basilius’ Heiratspläne. Noch in diesem Jahr würde sie zwanzig werden. Nicht mehr lange, und sie würde als alte Jungfer gelten. Sie sah bereits die besorgten Gesichter und hörte die wohlmeinenden Ratschläge.

      »Leider hattet ihr immer noch keine Gelegenheit euch kennenzulernen, dabei habe ich Johannes schon so viel von dir erzählt. Immer wenn er zu mir in die Apotheke kommt, bist du gerade ausgegangen. Aus diesem Grund sollte ich ihn recht bald auf ein Nachtmahl zu uns nach Hause einladen.«

      Es läutete zwei Uhr, und Luzia reichte ihm seinen schwarzen Talar und das Barett. In der Tracht des Gelehrten machte Basilius einen sehr respektablen Eindruck. Nachdem sie ihren Onkel zur Tür gebracht hatte, schloss sie die Apotheke für die Dauer seines Fortseins ab.

      Luzia machte sich daran den Boden aus schweren Eichenbrettern zu kehren. Zuerst in der großen Küche, weiter im behaglichen Wohnraum. Hier rückte sie die mit Schaffellen gepolsterten Scherenstühle um den großen, runden Tisch zurecht. Im offenen Kamin hatte Basilius bereits das Feuerholz aufgeschichtet. Entlang der weißgekalkten Wände standen einige Truhen und halbhohe Schränke. Als alles fertig war, ging sie über die reich geschnitzte Treppe in die Schlafkammern. Ihren Raum hatte Basilius besonders gemütlich eingerichtet. Neben einem schmalen Bett aus Kirschholz befand sich eine kleine Nachtkommode, und an der Wand stand ein zierlicher Schreibtisch, auf dem das Herbarius Maguntie Impressus, welches ihr Pater Wendelin zu Abschied geschenkt hatte, darauf wartete, bewundert zu werden. Luzia setzte sich und blätterte ein wenig darin.

      Unter dem Fenster standen zwei Truhen für ihre Kleidung. Auf dem Boden lagen dicke Wollteppiche und an der Wand hatte Basilius einen gestickten Wandteppich befestigt.

      Eine schmale Stiege mit knarrenden Stufen führte in den zweiten Stock. Hier, in einem schmalen, aber hohen Dachraum mit kleinen Fenstern befand sich die Bibliothek ihres Onkels. Langsam öffnete sie die Tür und sah hinein. An jeder Wand standen Regale, die bis unter die Decke reichten. Lediglich die bleiverglasten Fenster waren freigelassen. Sie waren schon lange nicht mehr geöffnet worden. Es roch nach Bienenwachs, Leder und vergilbtem Pergament. Wohl geordnet nach Themen standen die unvorstellbar vielen Bücher und Schriftrollen auf den grob gezimmerten Brettern. Voller Ehrfurcht ließ Luzia ihre Finger über die großen schweinsledergebundenen Folianten gleiten. Mit äußerster Vorsicht berührte sie die kleineren Quart- und Oktavbände. Eine Abschrift des Libellus de aegritudinibus infantum,

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