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bohrten sich in ihre Knie. Harte Riemen schnitten schmerzhaft in ihre Handflächen. Dann wurde alles dunkel und still. Die Bewusstlosigkeit zog sie in die Tiefe.

      Als Luzia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, was passiert war. Sie fühlte sich matt und krank. Alle Kraft hatte ihren Körper verlassen.

      Elisabeth hatte den Kopf ihrer Nichte in ihrem Schoß gebettet und streichelte ihre Wange. Jakob stand hinter seiner Frau und machte ein sorgenvolles Gesicht. »Komm, versuch dich aufzusetzen«, sagte Elisabeth sanft zu ihr. »Und dann trink einen Schluck.« Sie hielt ihr einen Becher heißen Weins mit den Blättern der Raute hin.

      Luzia setzte sich an den Küchentisch und trank in kleinen Schlucken. Dabei ließ der Schwindel in ihrem Kopf etwas nach.

      »Du hast das Bewusstsein verloren«, sagte Jakob. Seine Stimme klang fremd, irgendwie hölzern.

      »Ich weiß nur noch, dass Mutter gestorben ist. Doch da war noch etwas anderes. Eine Stimme, die mir unbeschreibliche Angst gemacht hat. Fast vergessen, drang sie ungefragt in mein Bewusstsein. Die Nachricht von Mutters Tod war nur der Auslöser. Der Schlüssel für ein Schloss, das ich für immer verschlossen glaubte …« Luzia senkte hilflos den Kopf und begann wieder zu weinen. Ihre Mutter war tot, die Frau, die ihr das Leben geschenkt und die sie gleichzeitig gehasst hatte. Seit beinahe sieben Jahren hatte sie kein Wort mit ihr gewechselt. Sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit ihr auszusprechen.

      Elisabeth nickte und tupfte ihre Tränen mit einem Zipfel ihrer Schürze fort.

      Luzia fühlte sich unendlich leer. »Jakob, sei so gut und lies mir vor, was mein Onkel noch schreibt.«

      Jakob nahm den Brief vom Tisch und begann mit ruhiger Stimme zu lesen.

      Liebste Luzia, liebe Elisabeth, werter Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, deshalb werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.

      Es tut mir schrecklich leid, dass du erst unter diesen Umständen wieder einmal von mir hörst. Leider sehen wir uns viel zu selten. Um dir eine Sorge zu nehmen, habe ich die Verstorbene, wie ich hoffe, in deinem Sinne beerdigt. Hiermit möchte ich euch allen mein Beileid aussprechen. Mein Mitgefühl ist euch in diesen Stunden gewiss.

      Luzia, nun zu dir. Ich habe mir Gedanken über deine Zukunft gemacht, wie es meine Pflicht ist.

      Du solltest möglichst bald nach Ravensburg kommen, um das Grab deiner Mutter zu besuchen.

      Deine Mutter Anna hat eine Hebammentasche zurückgelassen. Sie gehört jetzt dir. Entscheide selbst, was du brauchen kannst. Nachdem nun deine Mutter nicht mehr ist, fehlt unserer Stadt auch eine tüchtige Hebamme. Ich bin der festen Meinung, dass du ihre Nachfolge antreten solltest.

      Ich kann mir denken, dass du mit Schrecken an deine Kindheit in Ravensburg zurückdenkst. Ich weiß, was Eusebius Grumper dir angetan hat. Er ist nach wie vor als Kaplan und Notar in der Stadt tätig. Dennoch hoffe ich inständig, dass ich dich überzeugen kann, nach Ravensburg zurückzukommen. Auch an Grumper ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen, und auf meine Unterstützung kannst du zählen. Zudem hättest du als Hebamme die Möglichkeit das Bürgerrecht zu erlangen. Dies würde deine Position stärken.

      Nach einer kurzen Vorstellung bei unseren Stadtärzten, am besten bei Johannes von der Wehr, unserem jungen Wundarzt, könntest du die Stelle schon bald antreten. Von der Wehr ist ein äußerst liebenswürdiger Mann, er bereitet dir sicher keine Schwierigkeiten.

      Liebe Luzia, ich bitte dich, meinen Vorschlag in deinem Herzen zu bedenken. Natürlich würdest du in meinem Haus wohnen, und ich würde für dein Wohlergehen sorgen und auf deinen Ruf achten. Seit Annegrets Tod ist das Haus so leer und für mich allein viel zu groß. Bitte überlege es dir, Ravensburg und ich freuen uns auf dich!

      Mit den allerherzlichsten Grüßen,

      euer aller Basilius. Im Jahres des Herrn 1483

      »Wie du es auch drehst und wendest, Ravensburg eröffnet dir ungeahnte Möglichkeiten!«, sagte Elisabeth und nahm sich seufzend ein weiteres Hemd aus dem Korb vor ihr, bei dem es ein großes Loch zu stopfen galt. »Luzia, Kind, du musst diese Gelegenheit nutzen! Auch wenn deine Erinnerungen nicht die besten sind. Bedenke, heute bist du eine erwachsene Frau, kein hilfloses Kind mehr!«

      Seitdem der Brief von Basilius eingetroffen war, redeten Elisabeth und Jakob mit Engelszungen auf ihre Ziehtochter ein, obwohl ihnen die Vorstellung, dass Luzia ihr Haus verlassen würde, Angst machte. Dennoch, eine solche Gelegenheit würde nicht wiederkommen! Elisabeth wusste, sie durfte jetzt nicht an sich denken.

      Luzia sollte Hebamme in einer der größten Städte der näheren Umgebung werden. Nur Konstanz, das sich auf der anderen Seite des Sees befand, zählte mehr Einwohner als Ravensburg.

      Und so wurde beschlossen, dass Luzia zum Herbst hin Seefelden verlassen und ihr neues Leben in Ravensburg beginnen sollte. Viel zu schnell gingen ihre letzten Wochen in der Fischergasse vorüber, und nun war schon der Tag des Abschieds gekommen.

      Noch heute Abend würde sie in das große Apothekerhaus ihres Onkels in der Marktstraße einziehen und fortan in Ravensburg wohnen. Matthias würde sie nach dem Achtuhrläuten mit ihren Habseligkeiten nach Ravensburg bringen.

      In den vergangenen Tagen waren Luzias Gedanken oft nach Ravensburg, die Stadt an der Schussen, gewandert. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie das erste Mal ohne die Mutter Basilius’ Apotheke betreten hatte. Sicher war sie auch vorher schon öfter dort gewesen. Dennoch hatte sich dieser Besuch eindeutig von den vorherigen unterschieden. Luzia hatte nicht vergessen, wie sehr sie sich bemüht hatte, die kleinen Buchstaben auf den vielen großen und kleinen Gefäßen in den mannshohen Regalen zu entziffern. Zuerst hatte sie gedacht, sie hätte über Nacht das Lesen verlernt. Dann hatte der Kaplan vielleicht doch recht gehabt? Weibliche Wissbegier außerhalb einer Klostermauer stellte für ihn eine schwere Sünde des von Natur aus schwachen und dummen Weibes dar. Immer hatte der Kaplan haarscharf zwischen ihr und den anderen Buben und Mädchen der Klasse unterschieden. Die wenigen anderen Mädchen waren äußerst widerwillig und gelangweilt zur Schule gekommen. Für sie war die Welt in Ordnung gewesen, wenn sie Nähen und Sticken durften. Der Umgang mit den Buchstaben war ihnen im Gegensatz zu Luzia sehr schwergefallen. Sie aber war aus freien Stücken gekommen. Lesen und Schreiben waren ihr in den Schoß gefallen. Für sie hatte es schon damals nichts Spannenderes gegeben, als die Welt zu verstehen, deshalb hatte sie immer viel zu viele Fragen gestellt. Schulmeister Grumper hatte ihre unbändige Fragelust unbarmherzig mit dem Stock oder dem Riemen bestraft. Freilich, auch die Buben hatte er bestraft, wenn auch nur für ihre frechen Antworten. Doch ihnen hatte der Schulmeister allenfalls den Hosenboden strammgezogen und das auch immer während des Unterrichts. Für Luzia hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht. Sie hatte nach dem Unterricht im Kämmerchen neben dem Schulraum zu erscheinen. Noch heute glühten ihre Wangen vor Scham, wenn sie daran dachte.

      Sie hatte so viele Strafen für ihre Wissbegier hingenommen, und jetzt konnte sie die Worte auf den vielen Behältern nicht lesen. Erst Basilius’ Erklärung, dass es sich hierbei um Latein, die Sprache der Gelehrten handele, hatte Luzia zumindest ein bisschen versöhnlicher gestimmt. Zumindest hatte sie das Lesen nicht verlernt.

      Schnell zog Luzia die wackelige Tür zur Schlafkammer hinter sich zu. Elisabeth sollte nicht sehen, wie sie schon wieder weinte. Auf dem Bett sitzend, kämpfte sie den in heißen Wogen aufflackernden Schmerz zurück. Erst als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, begann sie sich anzuziehen. Rasch bürstete sie die nassen, widerspenstigen Locken und nahm die fuchsrote Mähne im Nacken mit einem Lederband zusammen.

      Wehmütig ließ sie ihren Blick durch die kleine, gemütliche Kammer schweifen. Neben einem liebevoll gezimmerten Bett und einem Nachtkästchen aus dunklem Holz ließ sie den kleinen Schreibtisch zurück. Hier hatte sie oft mit Blick auf den See Pater Wendelins Pergamente beschrieben. Kleine Übersetzungen aus dem Lateinischen, Abschriften und manch andere Übung hatte sich der Pfarrer für sie ausgedacht. Sieben Jahre war dies ihre Heimat gewesen. In Seefelden hatte sie sich geborgen und angenommen gefühlt. Das Leben war leicht und selbstverständlich

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