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konnte sich zwar nicht erklären, warum. Aber vielleicht, weil sie eben nicht aus der kleinen Gemeinde stammte. Für ihn war sie eine aus der großen, weiten Welt gewesen. Wien, das er nur aus dem Fernsehen kannte.

      Als Schüler war er mit der Klasse einmal in der Hauptstadt gewesen. Auf dem Stephansdom oben und beim Riesenrad im Prater. War schon toll. Das hatte ihm gefallen. Und die Menschenmassen, hinter denen man sich anonym verstecken konnte. Nicht gesehen wurde, obwohl man da war. Anders als im Dorf. In der Stadt erlebte man etwas, ohne dabei selbst etwas erleben zu müssen, stellte er entspannt fest.

      Außerdem gefiel sie ihm, diese PR-Lady, mit all ihren Ecken und Kanten. Und mit ihrem großen Herz. Das sie versteckte, wenn ihr jemand zu nahe kam.

      Unabsichtlich.

      Das hatte er festgestellt. So für sich. Als er sie beobachtet hatte. Meist ohne dass sie es merkte. Heimlich. In ihrem Garten. Durch die Lücken in der Hecke. Gerne machte er sich so sein Bild von den Menschen. Unbeobachtet verhielten sie sich, wie sie eben waren. Sie verstellten sich nicht. Waren sie selbst. Wie diese Fremde in Großlichten es war. Mit ihrem frechen Kater Filou. Was er eben mochte. Etwas dafür übrig hatte. Fürs andere. Fürs Auffällige. Aus der Stadt, in die er deshalb selbst vor Kurzem gezogen war.

      »Verdammt und zugenäht!«, polterte es vor der Lifttür. »Wann erwische ich dich endlich!« Walli Winzer riss fahrig an ihrer viel zu vollen Tasche und versuchte weiter, deren Innenleben einigermaßen in den Griff zu bekommen, was ihr unter größter Mühe noch nicht gelang.

      Inzwischen hatte sich die Lifttür geöffnet und wieder geschlossen. Der Lift war ohne Fahrgast hinuntergefahren. Walli Winzer kramte weiter.

      »Ah, endlich«, stieß sie einen Laut der Befreiung aus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und sah einer eleganten jungen Frau nach, die an ihr vorbeiging. Also, eigentlich war es weniger die Frau, der ihre Aufmerksamkeit galt, als vielmehr das Kleid, das sie trug. Es war schwarz mit einem weißen, spiralförmigen Muster, wirkte frisch und aufregend zugleich. Es hypnotisierte richtiggehend, stellte sie nach längerem Hinsehen fest.

      Ihr Blick richtete sich wieder geradeaus auf den Lift, vor dessen geschlossener Tür sie weiterhin stand. Offensichtlich benutzten ihn jetzt auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um das Bürohaus in ihrer Mittagspause zu verlassen. Da hieß es sogar für die Chefetage: bitte warten.

      Sie blickte inzwischen auf ihr ungleiches Paar Schuhe. Der linke Fuß war immer noch kühler als der andere. Klar, schließlich war der Schuh noch nicht getrocknet. Sonst führte sie immer ein Reservepaar in ihrem Auto mit. Doch gestern wollte sie das Modell wechseln und hatte das neue Paar im Waldviertler Haus gelassen.

      Ihr Kater Filou hatte wieder einmal Unfug getrieben. Sie war sofort hinter ihm her gewesen, hatte die Schuhe ins Vorzimmer geworfen und vergessen, danach die Neuen ins Auto zu legen.

      Walli Winzer seufzte und beschloss, das Treffen mit ihrem Ex, Thomas, auch gleich dahin gehend zu nutzen, eines ihrer Lieblingsschuhgeschäfte in der Wiener City aufzusuchen, um für Nachschub zu sorgen.

      Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Es war das Hochklappen der Radfixierung am Postwagen gewesen. Der Mann, der zuvor im Zimmer mit dem Rücken zu ihr gestanden war, hatte sie an diesem gelöst und setzte sich mit seinem Rad langsam in Bewegung.

      »Nico? Nico Salmer?«, fragte sie erstaunt. »Das gibt’s doch nicht!«

      »Hallo, Frau Winzer«, freute sich dieser sichtlich über die unvorhergesehene Situation. Er verließ den Wagen und kam auf sie zu.

      Walli Winzer streckte ihm die Hand entgegen. Sie freute sich in dem Moment tatsächlich, ein vertrautes Gesicht aus Großlichten zu sehen. Obwohl: Nico Salmer hätte sie hier nie vermutet.

      »Es ist schon lange her, dass wir einander das letzte Mal gesehen haben.«

      »Fast a Jahr wird des jetzt her sein«, behielt er den Überblick.

      »Dass Sie so plötzlich aus dem Dorf weg sind, hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Aber nicht nur mich.«

      Nico Salmer hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Ma muass amoi aus der gewohnten Umgebung ausse. I wollt wissen, wie’s da in der Stadt is.«

      »Und wie ist es?«, fragte Walli verschmitzt und genoss es, ihr Gegenüber durch ihre Anwesenheit ein bisschen verlegen zu sehen.

      Eine Antwort blieb er ihr schuldig, denn die Lifttür öffnete sich. Walli Winzer ging darauf zu und stellte sich wenig damenhaft zwischen die Aufzugstüren. »Nico, wir sehen einander jetzt öfter. Ich werde nämlich die PR-Kampagne für die neue Produktlinie von Bachwirken betreuen und daher ab und zu vorbeikommen.«

      An seiner Mimik konnte sie erkennen, dass er angenehm überrascht war. Er hätte sicher gerne etwas länger mit ihr geredet, aber der Augenblick schien wenig geeignet zu sein. Daher sagte er wie so oft – nichts.

      Walli Winzer blieb noch kurz stehen. Sie wartete auf eine weitere Reaktion. Doch als sie merkte, dass er wie angewurzelt stehen blieb und keine Antwort von ihm kommen würde, stieg sie ohne abschließendes Wort ein. Mit ihren Gedanken war sie längst anderswo – bei Thomas, der schon auf sie wartete.

      3. Kapitel

      Was für eine Schnapsidee das von ihr war, mit dem Auto in Wien herumzufahren. Walli ärgerte sich. Bereits das dritte Mal war sie erfolglos um denselben Häuserblock im 18. Wiener Gemeindebezirk gekurvt. Kein Parkplatz weit und breit.

      Nur ruhig bleiben. Irgendwo würde sich schon etwas finden, hoffte Walli Winzer. Auch, wenn ihre Geduld bereits an einem seidenen Faden hing.

      Sie beobachtete bereits zum zweiten Mal, wie ein Mann versuchte, sein Motorrad zu starten, dessen Zündung offenbar streikte. Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ein Kleinkind an der Hand hielt, war während ihrer Runden auch nicht viel weiter gekommen. Und ein alter Mann, der zuvor auf der einen Straßenseite gestanden war und versucht hatte, mit dem Feuerzeug seine Zigarette anzuzünden, hatte es aktuell nur auf die gegenüberliegende Seite geschafft.

      Endlich! Walli Winzer war erleichtert, als schließlich jemand vor ihr aus einer Parklücke fuhr. Diese kleine Freude des Alltags hob gleich ihre Stimmung. Das war auch notwendig. Vor allem, wenn sie an die Moralpredigt von Thomas dachte, die demnächst auf sie niedergehen würde. Er wartete immerhin schon eine halbe Stunde auf sie. Und eines wusste Walli mit Sicherheit: dass er das ganz und gar nicht mochte.

      Zu warten. Auf sie zu warten.

      Wie er das früher, während ihrer Ehe, so oft getan hatte. Das von ihr hinnehmen musste, als sie noch verheiratet waren.

      Walli hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und begonnen, ihre Agentur aufzubauen. Viel Unvorhersehbares trat natürlich in den ungeeignetsten Momenten ein. Eh klar! Walli musste darauf reagieren und hatte Berufliches immer vor ihre Ehe mit Thomas Drexler gestellt. Ja, und? Okay, das geht mit einem bürgerlichen Mann nicht. Auf Dauer hatte sich das gerächt. Ihre Ehe zerbrach. Sicher nicht nur daran.

      Thomas war letztlich kein einfacher Charakter. Spröde und voll hoher Erwartungen an seine Umgebung. Natürlich war er das in gewisser Weise bis heute geblieben. Denn keiner konnte seine Persönlichkeit um 180 Grad ändern. Schließlich war bei jedem nur so viel da, wie eben da war. Auch wenn Mentaltrainer und Psychiater einem das mehr oder weniger anders verklickerten.

      Zugegeben, Thomas war in den letzten Jahren etwas nachsichtiger geworden. Musste er wohl auch, denn welche Frau ließ sich heutzutage von einem moralisierenden Spießer auf Dauer gängeln und sich permanent sagen, wo’s langginge?

      Walli Winzer nahm den Weg zum Café quer über den Platz.

      Bemängelte Walli einst Schrulliges an Thomas, reagierte der jedes Mal eingeschnappt. Irgendwann wurde es ihr zu bunt. Nämlich dann, als sie bemerkte, dass sie im Beruf immer erfolgreicher wurde und sich die charmantesten Männer für sie zu interessieren begannen.

      Als Thomas allerdings anfing, eine Reptiliensammlung anzulegen, und diverse Schlangen und Leguane zeitweise ihren Käfig verließen, um

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