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hinein, schloss sie leise hinter sich und blickte sich überrascht um. Die Kirche war – leer. Oder – beinahe leer. Über die ersten beiden Bankreihen verstreut saßen drei alte Frauen und ein Paar, ebenfalls weit im Rentenalter. Vorne beim Altar stand ein einsamer Pfarrer, kein Messner, keine Ministranten, niemand. Außer diesen sechs Personen war kein Mensch in der Kirche. Radek hatte noch nie in seinem Leben eine so leere Kirche gesehen, nicht einmal jene, die er im Urlaub als Sehenswürdigkeiten besucht hatte.

      Der Priester bemerkte ihn, zögerte einen kurzen Augenblick und fuhr dann mit seiner Messe fort.

      Radek blieb noch einige Minuten neben der Tür stehen, ließ die Liturgie und ihre Rituale, die ihm vor den wenigen Besuchern völlig sinnentleert erschienen, auf sich wirken. Anschließend verließ er die Kirche so leise, wie er gekommen war, und kehrte zurück ins Gasthaus »Falk«.

      Eine leere Kirche, ein Gottesdienst ohne Menschen. Das war ihm nicht geheuer.

      Radek hatte sich vorgenommen, eine Wanderung auf den Schneekogel zu machen. In der Broschüre, die ihm Falk am Vortag gegeben hatte, war eine einfache Rundtour mit einer Dauer von vier Stunden beschrieben, das erschien ihm ein überschaubarer Ausflug zu sein. Der Berg selbst wurde mit einer Höhe von etwas weniger als 1.400 Metern ausgewiesen. Er nahm nicht viel Ausrüstung mit. Einen kleinen Rucksack mit einem Regenschutz, Wasser und einen Apfel.

      Dann machte er sich auf den Weg, verließ das Dorf am Nordende, fand hinter der Kirche den markierten Wanderweg, der durch den Wald auf den Schneekogel führte, und folgte ihm in gemächlichem Schritt. Er hatte es nicht eilig. Es war halb elf, er rechnete damit, spätestens um 15 Uhr zurück zu sein.

      Er war etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ihm ein Reiter in leichtem Trab entgegenkam. Das verwunderte Radek, da er nicht vermutet hätte, dass auf einem Wanderweg Reitausflüge unternommen wurden. Der Weg stieg sanft an, war nicht allzu breit und erschien ihm für einen Ausritt wenig geeignet.

      Der Reiter trug hohe Stiefel, Breeches und einen kurzen Lodenmantel mit Halstuch. Auf dem Kopf hatte er eine Mütze fest in die Stirn gedrückt, unter der angegraute Haarlocken hervorlugten. Er hielt die Zügel in der rechten Hand, in seiner linken, die er auf die Hüfte stützte, trug er eine Reitgerte. Er verlangsamte sein Tempo nicht, machte auch keine Anstalten, das Pferd nur eine Handbreit auf die Seite zu führen. Radek musste in den Wald hinein flüchten, um den Reiter passieren zu lassen. Wäre er nicht ausgewichen, hätte der Typ ihn geradewegs umgeritten. Das Recht des Stärkeren, dachte der junge Polizist, und fragte sich, ob es nicht irgendeine Vorschrift gab, die das Reiten im Wald verbot.

      »Aufpassen! Fußgänger!«, rief Radek dem Mann mit provokantem Ton hinterher, doch der schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er saß gerade aufgerichtet, aber entspannt im Sattel und sein Oberkörper wippte im Takt der Schritte des Pferdes. Den Blick starr nach vorne gerichtet, ritt er wie in Trance an Radek vorbei. Er verhielt sich, als hätte er den Wanderer gar nicht gesehen oder als würde der Weg ihm gehören und jeder Besucher ein lästiger, bestenfalls geduldeter Gast sein.

      Arrogantes Arschloch, dachte Radek, du meinst wohl, der Wald ist für dich alleine da. Er wollte dem Mann eine entsprechende Bemerkung nachrufen, doch der trieb das Pferd durch einem schnellen Schlag mit der Gerte an und entfernte sich in scharfem Trab. Er hätte Radeks Unmut nicht mehr mitbekommen, deshalb schluckte dieser ihn hinunter und versuchte, den Zwischenfall zu vergessen. Er wollte sich den schönen Tag nicht durch einen blasierten Kavalleristen vermiesen lassen.

      10.

      Als der Friesenbichler-Bauer aus dem Wirtshaus kam, hatte er ordentlich getankt. Einen Moment lang musste er nachdenken, wo sein Auto geparkt war, bis ihm einfiel, dass er es gegenüber dem Gasthof »Zur Linde« abgestellt hatte, weil vor dem Lokal kein Parkplatz frei gewesen war und er sich darüber geärgert hatte. Ohne darauf Acht zu geben, ob ein Auto unterwegs war, torkelte er über die Straße. Dabei versuchte er sich halbwegs zusammenzureißen, nicht, weil er Angst davor hatte, gesehen zu werden oder aufzufallen, sondern weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, so betrunken zu sein, dass er seinen Gang nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die Leute im Dorf scherten ihn einen Dreck, die sollten denken, was sie wollten, diese Feiglinge, er würde nicht vor ihnen kuschen, und schon gar nicht würde er sich so benehmen, dass sie nicht in ihrem Anstand gekränkt waren. Sollten sie sich ruhig das Maul zerreißen, ihm war das egal. Von 9.30 Uhr bis jetzt am Nachmittag war er beim Stadelmaier gesessen und hatte gut eineinhalb Liter Wein getrunken, aber er fühlte sich noch fahrtauglich. Außerdem waren die Polizisten am Sonntag sowieso mit anderen Dingen beschäftigt: Mittagessen, Kaffeetrinken und ähnliche Sachen. Um Schandau scherten sie sich kein bisschen, das hatten sie noch nie getan, ganz egal, was hier alles passiert war. Warum sollten sie gerade heute damit anfangen?

      Der Friesenbichler hatte einige Schwierigkeiten, den Wagen aufzusperren, seinen dicken Bauch hinters Lenkrad zu quetschen, das Zündschloss zu finden und zu starten. Aber dann fuhr er im Retourgang aus dem Schrägparkplatz, ohne nach hinten zu schauen.

      Um diese Zeit fährt sowieso niemand auf der Straße, auch sonst läuft keiner herum, die sitzen alle zu Hause vor dem Fernseher und trauen sich nicht heraus. Es könnte ja irgendwer sehen, dass sie was Verbotenes tun. Feiglinge, allesamt, miese Feiglinge.

      Das Getriebe krachte undankbar, als er den ersten Gang hineinwürgte. Weil er die Kupplung zu schnell kommen ließ, schoss der Wagen mit einem Sprung nach vorne, bevor der Friesenbichler gemächlich aus dem Dorf hinausrollte.

      Etwa einen Kilometer nach dem Ortsende zweigte die Straße ab, die zu seinem Hof führte. Seine Alte würde maulen, weil er nicht zum Mittagessen gekommen und schon wieder besoffen war. Aber das interessierte ihn genauso wenig wie das Gerede der Leute im Dorf. Er arbeitete die ganze Woche wie ein Ochse, zwölf, vierzehn Stunden am Tag, trotz seiner 58 Jahre. Da konnte er sich wohl ab und zu einen richtigen Rausch gönnen. Und dafür war der Sonntag genau recht.

      Langsam schlängelte er sich den Weg höher. Er kam durch ein Waldstück und musste abrupt bremsen. Quer über der Straße lag ein Mountainbike. Er schaffte es gerade noch, den Wagen anzuhalten, wobei er dem Fahrrad gefährlich nahekam. Einen Moment lang überlegte er sogar, einfach drüberzufahren, mit seinem alten Nissan Terrano wäre das sicher kein Problem, aber er hatte Angst, sich den Tank oder den Auspuff zu beschädigen. Deshalb blieb er stehen und stieg laut fluchend aus.

      »Was für eine Scheiße ist denn das? Jetzt lassen diese Arschlöcher ihre verfluchten Drahtesel schon mitten auf der Straße liegen, wenn sie im Wald pinkeln.«

      Er war bei dem Fahrrad angekommen und bückte sich ächzend, um es hochzuwuchten und in den Straßengraben zu schmeißen. Doch bevor er danach greifen konnte, wurde er zur Seite gerissen und mit dem Rücken auf die Kühlerhaube seines Autos geschleudert.

      Ein maskierter Mann drückte ihm den Unterarm unter dem Kinn auf den Hals, und die Spitze eines Jagdmessers zielte auf sein rechtes Auge. Überrascht und unfähig, einen Ton zu sagen, starrte er zunächst auf die Messerspitze und dann auf das mit einer Sturmhaube maskierte Gesicht vor ihm.

      »Was willst du von mir, du blöder Saubub?«, presste Friesenbichler hervor, als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. »Lass mich in Ruh und schleich dich zu deinen beschissenen Kumpanen.« Der Druck des Unterarms an seinem Hals wurde stärker und sperrte ihm die Luft ab.

      »Halt dein Maul«, sagte der Maskierte leise, aber bestimmt, »und spiel auf deine alten Tage nicht den Helden, sonst lass ich dir die Luft raus.«

      Die Messerspitze befand sich plötzlich an Friesenbichlers Hals, er konnte sie deutlich unter seinem Kehlkopf spüren.

      »Scheißhund«, würgte er heraus, »was willst du von mir?« Doch als der Druck der Messerspitze stärker wurde, entschied er, nichts mehr zu sagen.

      »Friesenbichler, du bist ein alter sturer Bauernschädel. Es würde mir großen Spaß bereiten, ihn dir einzuhauen. Aber leider müssen wir noch ein bisschen miteinander im Geschäft bleiben. Deshalb bring ich dich nicht um.«

      »Geh scheißen!«, fluchte der Bauer. »Mit uns gibt’s kein Geschäft.«

      Der Mann stieß dem Friesenbichler das Knie zwischen die

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