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zu sein.«

      Sie kommt also nicht zurück zu Mama und Tatta1? Buchela blickt auf und wendet der Oberin ihr Tränen verschmiertes Gesicht zu.

      Sie sieht unter den großen weißen Flügeln der Haube ein kleines, verhungertes Exengesicht. Große Augen, eine mächtige Nase, aber einen kleinen Mund, der in einem Netz von Falten, die auf die schmalen Lippen zulaufen, gefangen ist. Ledern spannt sich die Haut über den Wangenknochen.

      Ich bin nicht Margaretha, will das Mädchen sagen. Ich bin Buchela. Schließlich ist sie unter einer Buche geboren. Aber das kann sie der Oberin nicht erzählen, denn sie hat beschlossen, keinen Mucks zu sagen.

      Jedes Mal, wenn sie in Honzrath das Lager aufschlugen, führte der Vater ihren Wohnwagen unter diese Buche. »Da siehst du«, sagte er, »die hat es gut mit dir gemeint, als du geboren bist.« Sie blickte auf zum Gewölbe der Baumkronen, das sich schützend über den Rastplatz spannte. Abends, wenn sie noch nicht eingeschlafen war, hörte sie im Frühling, wie die Buche ihre Blüten auf den Wagen warf. Im Herbst klackerten Bucheckern leise. Morgens sammelte sie die Ölfrüchte. Dann wieder klatschten Regen und Wind die Zweige des Baumes auf das Dach, übersäten die Wiese mit Brennholz für die nächsten Mahlzeiten.

      Allerdings hat die Matthis ihr die Geschichte etwas anders erzählt und behauptet, sie hätte ihren ersten Schrei auf dem Heu in ihrer Scheune getan. Denn ihr Geburtstag sei ein feuchter kalter Oktobertag gewesen. Aber auch diese Auskunft ändert nichts an der Tatsache, dass sie Buchela ist und bleibt.

      »Dann komm. Ich zeig dir den Schlafsaal.« Schwester Benedicta führt sie quer durch die große Eingangshalle zu einer ausgetretenen steinernen Wendeltreppe. Sie steigen ins Obergeschoss.

      Sie kommen zu einem Raum, in dem zwei Waschschüsseln auf einem Tisch stehen. »Wasch dir erst mal das Gesicht«, sagt die Schwester. »Ich hol dir ein Handtuch.« Sonst wäscht sich Buchela am Brunnen oder am Bach oder am Fluss. Am Brunnen nur die Hände und das Gesicht ein bisschen, wegen der Leute. Am Brunnen hat sie Angst, weil sie Gesichter drin sieht. Das schimmert so dunkel da unten. Obengt, der Teufel, kann sich einfach auf ihren Eimer setzen. Kaum hat sie ihn hochgezogen, fällt er vielleicht über sie her mit seinen langen Krallen und zerkratzt ihr das Gesicht. Er kann seine Nägel in ihre Kehle bohren, ihr den Hals brechen und sie rösten und auffressen. Deshalb ist sie schon mit leerem Eimer zurückgekommen, hat sich einfach nicht getraut, ihn ins dunkle Wasser zu tauchen. Aber dann setzt es was. Manchmal hilft ihr Anton. Anton hat sie beschützt. Auch wenn sie träumt und vor sich hinmurmelt am hellen Tag und ihr die Mutter deshalb eine Ohrfeige gibt: »Dass du nur aufwachst.«

      »Lass sie«, sagt Anton dann. »Lass sie, sie tut doch nichts.«

      Jetzt gießt Buchela vorsichtig Wasser aus einem Krug in die abgestoßene‚ weiße Emailleschüssel. Es ist klar. Sie füllt ihre Hände damit, betrachtet es. Dann klatscht sie sich das Wasser ins Gesicht. Wieder und wieder taucht sie ihre Hände in die Schüssel und füllt sie. Sie kann gar nicht aufhören damit, bis Schwester Benedicta sie an der Schulter berührt und ihr ein dünnes Tuch in die Hand drückt.

      »Das ist dein Haken, direkt neben der Tür. Wecken ist um fünf. Du gehst in den Waschraum und stellst dich an, damit du nicht ungewaschen zum Gottesdienst kommst. Der beginnt um halb sechs. Danach ist Frühstück und dann gehst du in den Unterricht. Du musst den Zeitplan genau einhalten.«

      Buchela sieht in das volle rote Gesicht von Schwester Benedicta. Ihr Blick bleibt an den Augen hängen, über die sich rosige Säckchen wie kleine, weiche Kissen auf die Lider herunterwölben. Buchela nickt, obwohl sie nicht weiß, was sie tun soll. Die Augen der Schwester sind freundlich, die Kissen darüber ganz weich.

      Buchela kennt die Uhr nicht. Sie kennt aber Jungen, die ihr hinterher gerannt sind und Steine nach ihr warfen. Die Jungen mit Ledertaschen auf dem Rücken kamen aus der Schule. Buchela mit dem Holzbündel unterm Arm kam aus dem Wald. Die Steine haben sie nicht getroffen, weil sie laufen kann wie ein Hase und Haken schlagen. Jetzt soll auch sie in die Schule, soviel hat sie verstanden.

      »Kopf nach vorn.« Schwester Benedicta zieht einen Scheitel auf der Mitte ihres Kopfes, dann noch einen links und rechts. »Hab ich’s mir doch gedacht!« Sie bürstet das verfilzte Haar. Sie tut es mit Hingabe. Buchela zuckt, als der Kamm ziepend durchs Haar fährt.

      »Stillhalten«, sagt die Schwester, »die Nissen müssen raus. Da sind ja richtige Nester!« Sie holt aus dem Flurschrank eine Dose und streut Pulver auf den Kopf des Kindes. Dann zieht sie noch einmal einen Strich mit dem Kamm über die Mitte, teilt das Haar in Strähnen und flicht zwei feste Zöpfe, die sie am Ende mit Spangen befestigt. Die Haut spannt auf Buchelas Kopf, als wolle man ihr das Fell abziehen.

      »Das sieht doch gleich ganz anders aus!«, nickt Schwester Benedicta.

      Im Schlafsaal bekommt Buchela eines der Eisenbetten, die links und rechts an den Wänden aufgereiht sind. Ihr Bett liegt ganz am Ende des Raumes. Darunter steht eine kleine Kiste, in die sie ihre Habseligkeiten räumen soll. Aber es gibt nichts, was sie in die Kiste legen kann. Deshalb führt sie die Schwester direkt in die Kleiderkammer.

      Da muss sie sich ausziehen, steht nackt neben dem Bündel Kleider, die sie am Leibe getragen hat, schlüpft in ein langes Hemd zum Überziehen, in Unterhosen, bekommt noch eine zweite Garnitur zum Wechseln. Die Schwester nimmt aus den Regalen Kleidungsstücke, legt die Hellen und Farbigen gleich wieder zurück. Die Dunklen faltet sie auseinander und überprüft nach Augenmaß die Größe.

      Buchela greift nach einer roten Bluse. »Nein«, sagt Schwester Benedicta und schüttelt den Kopf. »Das passt jetzt nicht, wo doch dein Bruder gestorben ist. Gib es mir zurück.« Sie nimmt ihr das Kleidungsstück aus der Hand. Buchelas Kopf sinkt auf die Brust.

      Anton. Rot war Antons Lieblingsfarbe. Immer hatte er ein rotes Tuch um den Hals gebunden.

      Stattdessen erhält Buchela ein schwarzes und ein dunkelblaues Kleid, zwei dunkle Überziehschürzen, zwei Paar Strümpfe, zwei Paar Socken. »Kannst du in den Schuhen überhaupt laufen?«, will Benedicta wissen und runzelt skeptisch die Stirn. Die klobigen alten Schuhe, die von einem schmutzighellen und einem schwarzen Schnürband gehalten werden, sehen viel zu groß aus. Aber Buchela nickt heftig. »Dann behalt sie.«

      Beim Herausgehen bückt sich das Mädchen nach dem ausgefransten Ärmel ihrer Männerjacke und zieht sie unter dem Haufen heraus. »Lass liegen«, sagt die Schwester. »Das muss alles verbrannt werden.«

      Als Buchela kurze Zeit später das erste Mal den Esssaal betritt, sieht sie aus wie eine traurige Krähe. Die Luft im Saal riecht abgestanden und nach Kohlsuppe.

      Neugierig wird die Neue beäugt, die steif neben der Nonne steht.

      »Das ist Margaretha«, wendet sich Schwester Benedicta an die Kinder.

      »Du holst dir den Stuhl«, sagt sie zu Margaretha, »und setzt dich an den Mädchentisch!«

      Während Buchela sich aus der Starre löst und den Stuhl herbeischafft, hört sie Flüstern und Kichern.

      »Getuschelt wird nicht!«

      Schwester Benedictas Stimme klingt scharf wie ein Küchenmesser.

      Zögerlich schieben die Mädchen ihre Stühle näher zusammen. Scharren, Schieben, bis der Stuhl endlich am Tisch steht und Buchela sich setzen kann. Dann wird es still.

      »Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.« Buchela presst die Handflächen gegeneinander wie die anderen, hält den Mund aber fest geschlossen.

      »Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen.«

      Das größte Mädchen erhebt sich, beginnt das Essen aus dem Topf in die Teller zu schöpfen. Dampfende Suppe. Daneben die Hände bewegungslos auf der Tischplatte. Scheppern vom Jungentisch, wo noch Teller angereicht werden. Schließlich wieder vollkommene Stille. Buchela blickt in Gesichter mit gesenkten Augen.

      »Guten Appetit!« Die feste Stimme von Schwester Benedicta hinter Buchelas Rücken.

      »Guten Appetit!« Ein Stimmenchor, dann Löffelgeklapper.

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