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sagt die Nonne. »Ich kann auch anders. Dann schick ich den Pastor zu dir.« Das Mädchen bleibt ungerührt sitzen, obwohl sie weiß, was das bedeutet. »Und du kommst mit, Änne.«

      Buchela hört, wie die Schritte der Schwester und das Schlurfen von Änne auf dem Flur leiser werden. Sie springt vom Bett auf, nimmt sich ihre Kiste vor. Viel hat sie nicht zu packen. Sie legt alles in ein großes Tuch, das sie verschnürt, und schultert das kleine Päckchen. Der Pastor wird sie nicht finden.

      Sie hätte sich noch etwas zu Essen organisieren sollen. Aber das ist jetzt auch egal.

      Sie schlüpft durch die Tür zur Kleiderkammer. Die Schwestern haben den Mädchen, bevor sie das Haus verlassen, einiges an Kleidern, Schürzen und Mänteln mitgegeben, damit sie nicht wie Bettler zu ihrer neuen Bleibe kommen. Das Zeug wird hier nicht mehr gebraucht. Auf der Stange hängen nur noch einzelne Stücke. Buchela schiebt die Bügel mit einem klackernden Geräusch zusammen, das der Deckenhaufen und die Strohkissen, die nun im Raum aufgeschichtet sind, sofort verschlucken. Von jedem Haufen nimmt sie ein Teil, schiebt es hinter die zurückgebliebenen Kleider und kriecht in die dunkle Ecke.

      Es ist wie im Schlafsaal, als sie sich hinter ihren Händen versteckt hat, leer. Aber irgendwie ist dies eine gefüllte Leere, eine Leere zwischen Dingen, während oben Geräusche nachhallten, versickern sie hier, verschwinden in den Dingen und zwischen den Gerüchen. Schweiß ungewaschener Decken, tote Motten, Staub, getrocknete Spucke. Sie hört ihren gleichmäßigen Atem, dazu irgendwann das sirrende Geräusch einer Fliege, die gegen die Glasscheibe fliegt. Das Geräusch hört auf. Dann beginnt es von Neuem. Die Fliege setzt alles daran, raus zu kommen. Aber sie, Buchela, will das nicht. Sie kratzt sich, die Haut juckt.

      Sie will bleiben. Bei Froschla und Bimbam. Schreiben lernen. Rechnen lernen. Singen. Sie steht noch einmal auf, trägt einen Stuhl vor das Fenster des Raumes, kriecht dann wieder unter die Kleider auf ihren Platz und kauert sich auf das Kissen.

      Sie wird das Fenster öffnen und auf den Stuhl steigen, wenn sie sie holen wollen. Sie wird herunterblicken auf den Hof und auf das Rot des Schuldachs. Sie sieht, wie sich Schwester Benedictas rosige Augensäckchen vor Entsetzen nach oben ziehen. Der Mund wird zu einem Rund geöffnet. Ein leiser Schrei, vor den sie die Hand schiebt, wenn sie Buchela auf dem Dach liegen sieht. Selbst der Priester, den die Schwester mitgebracht hat, steht starr da.

      Das haben sie davon. Sie wird hier bleiben oder sich herunterstürzen. Sie geht nicht in irgendeine Familie. Buchela denkt an Mama. Die schüttelt den Kopf. So was würde keine Sintiza nicht tun. Mit Anton war das nie nicht so. Wach auf.

      Der Tag kriecht wie eine Raupe über den Kohl. Er frisst sich satt an Buchelas Trauer und Wut, hängt am Abend dick und dunkel vor dem Fenster, ohne dass irgendetwas geschieht. Als die Glocke zehnmal schlägt, bewegt sich Buchela aus ihrem Versteck. Sie tastet sich aus dem Raum über den Flur zum Nähzimmer. Sie drückt ihr Ohr an die Tür. Sie fasst die kalte Klinke, öffnet vorsichtig. Sie geht zum Bettchen und fasst hinein, fühlt das steife Bettlaken, sonst nichts. Sie stolpert zum anderen Bett und greift auf die knisternde Strohmatratze.

      Niemand da. Außer Mama, die sich in ihren Kopf schiebt. Mein Mädchen bist du, sagt Mama. Kinder haben wir genug. Ich hol dich da raus, Buchela. Zu deinem Geburtstag sind wir wieder zusammen. Versprochen.

      13.

      Ihren Geburtstag feiert Buchela in diesem Jahr nicht. Auch nicht im nächsten und dem darauf folgenden. Sie ist zu Katholiken gebracht worden. Da spielt der Geburtstag keine Rolle. Allenfalls zum Namenstag gibt es Kuchen, wenn genug Eier da sind.

      Im Haus hängt der Geruch von Leder und Klebe. Die Häntgens haben ein Schuhgeschäft mit Werkstatt. Herr Häntgens fertigt neue Schuhe an aus feinem Rindsleder. Manchmal kauft er auch ein Paar Schuhe aus den Manufakturen in Pirmasens hinzu und erweitert so seine Dekoration im Schaufenster. Aber die Geschäfte laufen in der Kriegszeit schlecht. Viel häufiger bringen ihm die Leute Reparaturen. Manchmal schüttelt er nur mit dem Kopf, mit welchem Schuhwerk sie kommen. Und selbst wenn sie neue Schuhe wollen, sind es oft doch nur Holzklumpen, die sie kaufen können, wenn sie keinen Bezugsschein haben. Aber Holzschuhe kommen ihm nicht ins Haus. Auch nicht die schwarz angestrichenen, mit denen die Bauern am Sonntag zur Kirche gehen. Deshalb ist er froh, dass er hier und da noch ein paar Rindslederne unter der Hand verkaufen kann. Bei diesen Schuhen entwirft er ganz exklusive Modelle für die exklusive Gesellschaft, die scheinbar noch genug Geld hat.

      Obwohl Frau Häntgens sich noch nicht von der schweren Geburt der Jüngsten erholt hat und der Kaiserschnitt nicht heilen will, steht sie im Laden, bückt sich mit dem Schuhanzieher, damit die Füße der Kunden leicht in das Leder schlüpfen können, schreibt Rechnungen, nimmt Reparaturen an. Buchela sieht sie manchmal, wenn der Laden leer ist, auf den Stuhl sinken. »Das ist nicht gut, was Sie tun«, sagt sie zur Frau. »Man darf nie nicht mit einer solchen Wunde so lange stehen.« Aber die Frau winkt nur mit der Hand ab. Das Leben der Häntgens dreht sich ständig um das Geschäft und bei allem, was mit dem Geschäft zu tun hat, geht es ernsthaft und wichtig zu. Wie kann man das Geschäft so wichtig nehmen? Buchela sieht Frau Häntgens auf dem Stuhl und hat das Gefühl, dass sie’s so nicht lange machen wird.

      Die Häntgens nennen sie Grete oder Zigeunergrete. Buchela findet sich damit ab. Das ist besser als Sääwer und eine Abkürzung von Margarethe. Sie ist, was sie ist, egal wie man sie nennt, das hat sie gelernt. Morgens steht sie um 5 Uhr auf, sorgt für das Frühstück. Sie kleidet die beiden Jungen an. Sie kümmert sich um die Jüngste, ein kleines Würmchen, und legt ihm mehrmals am Tag Steinhägerflaschen mit warmem Wasser neben den kleinen Körper. Sie sorgt für das Mittagessen, für den Kaffee und das Abendbrot. Sie wäscht und putzt, versucht auf die Lebensmittelkarten etwas zu bekommen und abends fällt sie todmüde ins Bett. Sie mag die Kinder und ist immer für einen Unsinn zu haben. Aber nie mehr will sie einen so herben Verlust einstecken wie bei Bimbam und Froschla. Das hier sind keine Waisen. Das sind Kinder mit Mama und Tatta, sagt sie sich. Und sie, Buchela, ist das Kindermädchen und die Magd und die Zigeunergrete und irgendwie auf der Durchreise.

      Als sie im vierten Jahr bei der Familie ist, hört Buchela auf zu wachsen. Sie ist ein Meter fünfzig groß und schmal wie ein Handtuch. Ihr Körper verschwindet in den knöchellangen Kleidern, die viel zu wuchtig für sie genäht werden und einen Saum haben, den man noch auslassen kann. Aber da sie nicht zunimmt und auch nicht mehr wächst, hält sich der Zustand, dass die Kleider um ihren Körper schlottern als führten sie ein Eigenleben.

      Alltags weiß Buchela sich zu helfen. Sie bindet ihre Schürze fest um die Taille, zieht die Bänder straff und verknotet sie am Rücken, so dass die schwache Wölbung ihrer Brust sichtbar wird. Aber sonntagnachmittags, wenn sie für vier Stunden frei hat, schämt sie sich mit diesen Kleidern. Obwohl sie die Natur liebt, die Sonne, das Wiesenschaumkraut, die Trauerweiden am Fluss, geht sie sonntags selten in die Wiesen. Dort flanieren Familien und Paare und manchmal Soldaten, die auf Urlaub sind. Was sollen die Leute denken, wenn sie allein unterwegs ist? Und dann noch in so einem Kleid? Manchmal, wenn die Sonne allzu schön scheint, leiht sie sich aber Tilli, den Spitz vom Onkel. Der dient ihr als Vorwand, doch zum Fluss zu laufen, mögen die Leute über ihr Kleid denken, was sie wollen.

      Der Onkel Johann Baptist, wie ihn die Kinder, aber auch die Erwachsenen und Buchela nennen, ist der Bruder des Schuhmachers und unterhält gleich nebenan eine Landwirtschaft. Obwohl Krieg ist und er Abgaben leisten muss, schafft er so viel beiseite, dass die Familie Mehl, Milch und Gemüse hat, manchmal sogar Fleisch und Eier. Trotzdem schimpft auch er über die Kriegswirtschaft wie sein Bruder, denn sein letzter Knecht ist zum Kriegsdienst an der Westfront eingezogen worden, so dass er allein vor der Arbeit steht. Und aufpassen muss er in letzter Zeit, weil die Regierung Kontrolleure ins Haus schickt, die überprüfen, ob er tatsächlich alles, was erwirtschaftet worden ist, abgeliefert hat. »Als wär’ man nicht sein eigener Herr«, schimpft er. »Kein Saatgut, kein Dünger, keine Arbeitskräfte und dann schicken sie dir noch die Revision ins Haus.«

      Onkel Johann Baptist ist unverheiratet geblieben, und deshalb sitzt er bei den Mahlzeiten mit den Häntgens am Tisch und betet das Tischgebet vor. Das ist sein Familienleben. Und für alles andere hat er seinen Hund, mit dem er lange Gespräche führt, wenn er sich unbeobachtet fühlt.

      Buchela leiht

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