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Seeland, Graf von Flandern, Graf von Zutphen, Herzog von Geldern und Graf von Holland.89

      Keiner der burgundischen Herrscher war tatsächlich König, sie waren lediglich Herzöge. Doch mit ihrem höfischen Glanz, ihrem Reichtum, ihren Städten und ihrem üppigen Mäzenatentum übertrafen die Burgunder fast alle gekrönten Häupter dieser Zeit und waren de facto Könige, wenn sie diesen Titel auch nicht trugen.90

      Die territoriale Basis des neuen politischen Gebildes unterschied sich deutlich von jenem der vorgehenden burgundischen Reiche. Den Kern bildeten zwar das Herzogtum und die Grafschaft im Süden, doch der größere Teil des burgundischen Länderkomplexes lag in den Küstengebieten im Norden, und der Hauptteil des historischen Burgund wurde davon nicht umfasst. Das persönliche Erbe von Margarete von Dampierre, die aus Brügge stammte, war wesentlich größer und reicher als das ihres Ehemannes. Es erstreckte sich von den ehemals französischen Grafschaften Vermandois und Panthieu bis zu den früher deutschen Grafschaften Holland und Geldern und schloss alle großen niederländischen Städte ein: Amiens, Arras, Brügge, Gent, Brüssel und Amsterdam. Mehrere Lücken im Flickenteppich – Utrecht, Cambrai, Lüttich und Luxueil – waren abhängige Fürstbistümer. Eines der Fragmente des ehemals zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Burgund, an dem die deutschen Könige festhielten, war die Grafschaft Neuchâtel (heute ein Kanton in der Nordwestschweiz). Dies wurde möglich, weil König Rudolf I. Neuchâtel in seinen persönlichen Besitz nahm, bevor er es als Lehen an einen seiner Gefolgsmänner übergab. Da dieses Gebiet nahe an Deutschland lag, kümmerte sich der König fortlaufend darum, und so konnte es sich bis zum Westfälischen Frieden 1648 den Zugriffsversuchen sowohl des Hauses Valois-Burgund als auch der schweizerischen Eidgenossen entziehen.91 Von 1707 bis 1806 gehörte es seltsam genug zu Preußen.

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      Brügge, zu dieser Zeit die weltläufigste Handelsstadt im nordwestlichen Europa, war unzweifelhaft das pulsierende Herz [von Burgund]. Hunderte Ausländer hatten sich hier niedergelassen … Mindestens zwölf »Nationen« von fremden Kaufleuten … genossen rechtlichen Schutz. Vierzig oder fünfzig Kaufleute der Hanse hielten sich das gesamte Jahr in der Stadt auf. Noch zahlreicher waren die Süditaliener. Außerdem gab es Katalanen, Kastilier, Portugiesen, Basken, Schotten und Engländer.

      Brügge war das Zentrum eines weit verzweigten Netzes. Für den sechs Wochen dauernden Pfingstmarkt verließen alle Ausländer Brügge … und begaben sich nach Antwerpen. Dort beherrschten sie den Handel mit teuren Stoffen wie Leinen und Samt und mit Gütern aus Übersee wie Gewürzen, Wein, Öl, tropischen Früchten, Zucker und Pelzen. Somit können wir uns Brügge an der Spitze der Pyramide vorstellen, Antwerpen an der zweiten Stelle und dazu Gent und Ypern als regionale Marktorte.

      Seit dem 13. Jahrhundert hatten italienische Firmen den Herrschern der Niederlande Kredite gewährt … Herzog Philipp der Kühne unterhielt enge Beziehungen zu Dino Rapondi, einem Bankier aus Luca … Dino ließ sich in Flandern nieder und lieh dem Herzog und den Städten große Summen Geldes … Mit einem Wechsel über sechzigtausend Franc, einzulösen in Venedig, und einem umfangreichen Darlehen stellte Dino das Lösegeld für Johann Ohnefurcht bereit, der von den Türken 1396 gefangen genommen worden war.92

      Die Herrscher des Hauses Burgund unterhielten keinen ständigen Hof. Ihr Heimatstandort war der »Palais de Duc« in Dijon, wo sie den Winter verbrachten, doch im Frühjahr begaben sie sich auf ihren jährlichen Zug; regelmäßige Anlaufstellen waren die alten Grafensitze in Hesdin im Artois und in Mechelen in der Nähe von Antwerpen. Zeitgenossen beschrieben immer wieder ihren Glanz und Prunk. Die Bezeichnung »burgundisch« ist zu einem Inbegriff für teure Kleidung, aufwändige Lebenshaltung und ausgelassenes Feiern geworden. Die Umzüge und Festspiele zum »Einzug« der Herrscher und ihrer Gäste wurden bewusst als politische Schauspiele inszeniert. Der burgundische Hof fühlte sich ausnahmslos allen seinen Nachbarn ebenbürtig:

      Der König von Frankreich … reiste nach Troyes in der Champagne … Er wurde begleitet von seinem Onkel, dem Herzog von Bourbon, dem Herzog von Tourraine und vielen anderen Rittern … Bei seinem Einzug in Dijon wurde er von der Herzogin von Burgund mit hohem Respekt und Zuneigung empfangen, und alle, die gekommen waren, erwiesen ihm die Ehre. Große Volksbelustigungen wurden bei dieser Gelegenheit veranstaltet, und der König weilte acht Tage in Dijon.93

      Die herrschenden Kreise Burgunds pflegten die Kunst und das Ritterethos mit beispielloser Leidenschaft. Im Jahr 1430 wurde der Ritterorden vom Goldenen Vlies gegründet, der dem englischen Hosenbandorden nachempfunden war. Mit seinen Ritualen und Zeremonien stellte er alle anderen Ritterorden in den Schatten. Das Ordensabzeichen, ein an einer Collane hängendes Widderfell, waren mit den Worten Pretium Laborum Non Vile (»Kein geringer Preis der Arbeit«) versehen.94 Dass ein nichtchristlicher Hintergrund für den Orden gewählt wurde, signalisierte nach außen ein gewisses Interesse an der Antike. Gleiches gilt für die Manuskripte und literarischen Werke wie Épopée troyenne (»Trojanisches Epos«), die die Bibliotheken der burgundischen Herrscher schmückten. William Caxton, der erste englische Buchdrucker, brachte 1473 ein Recuyell of the Histories of Troye heraus, das auf einem burgundischen Original beruhte.95

      Die Malerei der flämischen Schule, ein zentraler Bestandteil der Renaissance in den Niederlanden, entwickelte sich mit burgundischer Unterstützung. Maler wie Robert Campin (um 1378–1444) und Jan van Eyck (um 1390–1441), die beide für den Grafen von Holland und Philipp den Kühnen arbeiteten, Roger van der Weyden (um 1400–1464) und Hans Memling (um 1430–1494), ein Deutscher, der sich in Brügge niederließ, trugen maßgeblich zur Verweltlichung der europäischen Kunst bei. Sie wandten sich aufgeschlossen neuen Genres zu, wie etwa Porträts, Stillleben, Alltagsszenen und Landschaften.96 Auch herausragende Bildhauer wurden gefördert. Der Niederländer Claus Sluter (um 1350–1405) wurde Hofbildhauer in Dijon. Sein bekanntestes erhalten gebliebenes Werk ist der Mosesbrunnen, der für die Grabkirche der Herzöge von Burgund im Kloster Champmol geschaffen wurde.97 Auch Tapisserien waren eine burgundische Spezialität. Die aufwändige Technik des Einwebens von Goldfäden in farbige textile Flächengebilde wurde in Arras erfunden. Im 15. Jahrhundert konnten die tapissiers große Wandteppiche anfertigen, die Schlachten, historische Szenen, Legenden und Landschaften darstellten.98

      Neben der bildenden Kunst blühte auch die Musik. Die Burgundische Schule entstand in der Herzogskapelle in Dijon, wo man bereits um die Jahrhundertwende den »burgundischen Geist im Lied« hören konnte.99 In der Folge verbreitete sie sich geografisch und veränderte sich auch stilistisch. Guillaume Dufay (um 1397–1470) aus Brabant war vermutlich der berühmteste europäische Komponist in dieser Zeit. Die spätere französisch-flämische Schule brachte eine Vielzahl von Talenten im Umfeld des genialen Joskin van de Velde (um 1450–1520) hervor, der besser bekannt ist unter dem Namen Josquin des Prez und die Polyphonie zu ihrer Vollendung führte.100

      Die Literatur der Renaissance befasste sich mit vielen Gebieten von der Dichtkunst bis zur Philosophie. Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der bedeutendste Humanist seiner Zeit, war ein Burgunder.101 Neben Latein entwickelten sich die französische und die niederländische Sprache, und die Vermischung der beiden Sprachen wurde als »ein Dialog zwischen zwei Kulturen« bezeichnet. Burgund bildete auch den Hintergrund für eines der wichtigsten historiografischen Werke des 20. Jahrhunderts, Johan Huizingas Herbst des Mittelalters (1919). Der Kulturhistoriker Huizinga, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden, entwickelte anhand einer detaillierten Analyse der Rituale, Kunstformen und Schauspiele am burgundischen Hof seine Theorie über den rohen und stark gefühlsbestimmten Charakter des Lebens im Spätmittelalter und widersprach damit der vorherrschenden Meinung, dass es eine von der Anmut der Renaissance, von Ästhetik und aufgeklärten Debatten bestimmte Zeit gewesen sei:

      Als die Welt noch ein halbes Jahrhundert jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen Leid und Freude,

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