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Geruchswelt unerträglich scheint. Autobiografische Berichte von Betroffenen weisen darauf hin, dass Auffälligkeiten in verschiedenen Wahrnehmungskanälen oft inkonstant sind. So klingt ein und dieselbe Lautstärke manchmal zu leise und kurze Zeit später so laut, dass sie unerträglich scheint (William, 1992; White, 1987; Grandin, 1986).

      Während vor einigen Jahren die Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus keine funktionale Sprache entwickelte, sind es mittlerweile nur noch etwa 25 %. Diese deutliche Verbesserung kann durch früher einsetzende Förderung, aber auch durch Ausweitung der Diagnose auf Kinder und Jugendliche mit milderen Formen von Autismus erklärt werden. Einige lernen durch Nachahmungstraining Laute, Worte und Sätze, während anderen spiel- oder erfahrungsorientiertes Vorgehen die erhofften Kommunikationsfähigkeiten näherbringt. Andere nicht-verbal kommunizierende Personen können ihre Defizite durch Einsatz von Bildern, Schrift, Kommunikationsgeräten oder Handzeichen kompensieren. Dennoch bleibt in den meisten Fällen die schulische und soziale Integration nicht-sprechender Kinder begrenzt.

      Nicht immer ist das Verhalten von Personen mit ASS so auffällig wie in den aufgeführten Beispielen. Probleme von Menschen am oberen Ende des Spektrums sind oft weitaus subtiler und betreffen das mangelnde Hineindenken in andere (Theory of Mind), Defizite im Sozialverhalten, der Selbständigkeit sowie der Exekutiven Funktionen (z. B. Aufmerksamkeit, Flexibilität, Planung, Selbstkontrolle). Auch hier ist gezielte Hilfe notwendig (Pellicano, 2012; Bernard-Opitz, 2014a).

      Fallbeispiel

      So schien der zehnjährige Mark nach intensiver jahrelanger Therapie »geheilt«. Die Eltern berichteten jedoch das folgende Erlebnis: Eines Tages verschwand Mark spurlos auf einer Party, die die Familie in der Nachbarschaft besuchte. Ausgiebiges Suchen war ergebnislos und die Eltern riefen die Polizei zur Hilfe. Die fand den schlafenden Jungen in seinem eigenen Bett. Die Erklärung für sein Nachhausegehen bestand darin, dass es dunkel war und dass er dann immer schlafen gehe.

      Kommentar: Mark hatte nicht gelernt, sich in seine Eltern hineinzudenken, die sich Sorgen machen, wenn man sie nicht informiert. Für ihn war es lediglich wichtig, seinen gewohnten Regeln zu folgen, wie »ist es dunkel, geh’ ich schlafen«.

      Betroffene mit ASS zeigen ein sehr heterogenes Intelligenzprofil. Zwischen 25 und 45 % haben nach Fombone et al. (2011) eine normale Intelligenz. Eine Erhebung des Entwicklungsstandes oder des Intelligenzprofils mit seinen Stärken und Schwächen sollte in jedem Therapieplan berücksichtigt werden. Der sog. »frühkindliche Autismus« steht im Allgemeinen am äußersten Ende der Skala von Autismus-Spektrum-Störungen, da er in 75 bis 80 % der Fälle durch eine deutliche Intelligenzminderung gekennzeichnet ist (Goldberg Edelson, 2006). Demgegenüber weisen Kinder und Jugendliche mit sog. »Asperger-Syndrom« meist eine normale bis überdurchschnittliche Intelligenz auf (APA, 1994). Wie bereits betont, werden Kinder mit frühkindlichem Autismus oft als Gruppe mit niedrigem Funktionsniveau (»low functioning«) von der Gruppe mit hohem Funktionsniveau (Englisch: »high functioning«) abgegrenzt (CMHO, 2002). Therapieprogramme für beide Gruppen sind im Allgemeinen deutlich verschieden. Während für Kinder eines niedrigen Entwicklungsniveaus der Aufbau von Blickbezug, Nachahmung, Sortieren, einfacher Kommunikation, Sozialverhalten und Spiel vorrangig ist, steht bei Personen mit hohem Funktionsniveau die Entwicklung von komplexerem Sozialverhalten, emotionaler Intelligenz, Selbständigkeit, Selbstkontrolle und die Kompensation von etwaigen Lernschwächen im Vordergrund.

      Bei der Erhebung des Entwicklungs- und Intelligenzstandes sollte sichergestellt werden, dass Testaufgaben motivierend sind und in dem Lernkanal angeboten werden, der für das Individuum geeignet ist. So konnten Kinder, die zunächst als »untestbar« vorgestellt wurden, durch Auswahl geeigneter Tests oder Abwandlung herkömmlicher Tests zum Teil altersangemessene nicht-verbale Intelligenzwerte erreichen.

      Notwendige Kriterien der Intelligenztestung von Kindern und Jugendlichen mit ASS

      Images Motivierend

      Images Visuell

      Images Kurze Testabschnitte

      Die Testung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen ist nicht einfach, da der Tester zum Teil mit mangelnder Motivation, Verweigerung und Verhaltensproblemen konfrontiert wird. Daneben muss er mit einem breiten Spektrum von Testverfahren für sehr niedrige bis sehr hohe Intelligenz vertraut sein und Aufgaben so standardisiert wie möglich, aber auch so flexibel wie nötig an das betroffene Kind anpassen. Daneben ist es unabdingbar, angemessene Testverfahren für das jeweilige Individuum und die Fragestellung zu wählen (Bölte & Bormann-Kischkel, 2009). So ist es bei jungen bzw nicht-sprechenden Kindern sinnvoll, Entwicklungstests (z. B. Bayley Scales of Infant Development, Reuner et al., 2007; Entwicklungstest 6–6 Revised, Macha & Petermann, 2013) oder sprachfreie, visuelle Testverfahren wie z. B. die Leiter International Performance Scale (Roid & Miller, 1997) oder die Colored Progressiven Matrizen (Raven, 2003) einzusetzen. Hierbei muss das Kind Bausteine bzw. Karten mit verschiedenen Farben, Formen, Symbolen oder Abbildungen in zugehörige Aussparungen einfügen bzw. einpassen.

      Auch bei Betroffenen ohne intellektuelle Beinträchtigung müssen traditionelle Intelligenztests zum Teil abgewandelt werden, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. So zeigten bei der verbreiteten Wechsler-Testserie einige Kinder erst dann angemessene Leistungen, wenn die Testabschnitte kurzgehalten wurden, Kinder für ihr Bemühen (nicht für richtige Antworten!) sozial oder materiell verstärkt wurden, kurze Pausen ermöglicht wurden und wenn Aufgaben visuell statt rein akustisch dargeboten wurden. Falls eine Testung unter Standardbedingungen nicht möglich ist, sollten obige Anpassungen toleriert werden. Es ist sinnvoller, Ergebnisse unter »testing the limit«-Bedingungen zu erzielen, als keine Angaben machen zu können (Bölte & Bormann-Kischkel, 2009).

      Screening-Verfahren zu bestimmten Bereichen können ebenfalls sinnvoll sein. So gibt eine Erfassung des Sprachentwicklungsstands oft wichtige Einblicke in das Sprachverständnis, den Wortschatz oder das auditive Gedächtnis (Heidelberger Sprachentwicklungstest, SETK 3–5, Grimm & Schöler, 2010, Tipp mal App (https://tippmal.com/)). Bei Auffälligkeiten in der Artikulation, Semantik und Syntax ist eine enge Zusammenarbeit mit Logopäden und Sprachheiltherapeuten sinnvoll.

      Skalen zur Erfassung der Selbständigkeit wie die Vineland Social Maturity Scale (Sparrow et al., 1984) und ihre deutschsprachigen Versionen (Bondy et al., 1977; Duhm & Huss, 2002) sollten ebenfalls herangezogen werden. Sie sind speziell bei Kindern mit Asperger-Syndrom oder Kindern mit frühkindlichem Autismus und guter Intelligenz sinnvoll, um etwaige Defizite in der Selbständigkeit realistisch einzuschätzen.

      Eine ausführliche Darstellung der neuropsychologischen Testverfahren übersteigt den Rahmen dieses Buchs. Um Bereiche der emotionalen Intelligenz, exekutiver Funktionen und der zentralen Kohärenz abzuklären, wird auf die ausgezeichnete Zusammenfassung von Bölte & Bormann-Kischkel (2009) hingewiesen.

      Oft sind Eltern und Erzieher zunächst jedoch an einem Überblick über den Stand der Entwicklung des Kindes im Vergleich zu allgemeinen Altersnormen interessiert. Hier bietet das sensomotorische Entwicklungsgitter (Kiphard, 2006; Sinnhuber, 2011) einen ersten Einblick in Entwicklungsnormen für Sprachausdruck und Sprachverständnis, Fein- und Grobmotorik sowie optische Wahrnehmung an. Da Betroffene mit Asperger oft motorisch ungeschickt sind, sollte auch die Motorik mit in die Befunderhebung einbezogen werden (Remschmid, 2000).

      Neben obigen norm-basierten Testverfahren und Screening-Methoden können kriterienbasierte Verfahren eingesetzt werden. Hierbei geht es nicht um den Vergleich der Leistung des Getesteten mit der seiner Altersgenossen, sondern um das Erfassen von zentralen Fähigkeiten, die für die Entwicklung bedeutsam sind. Das kann mit einem Fahrtest verglichen werden, bei dem man auch davon ausgeht, dass der Getestete ausreichendes Wissen hat,

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