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viele Autisten. Sie sei speziell. Sechs von sieben Inselbegabten waren männlich und weltweit waren nur hundert als erstaunlich talentiert einzustufen.

      Da Kaya ein Mädchen war, überdurchschnittlich gut, was Sprache, Musik und Erinnerungsvermögen anging, war sie weiter davon entfernt normal zu sein als ihre Leidensgenossen.

      Kaya sah auf ihre Fingernägel, die sie am Morgen frisch lackiert hatte. Sie liebte den warmen Farbton von Waldbeere. Für sie persönlich allerdings ein Indiz dafür, dass sie noch verschrobener sein musste, als Bekka annahm. Im Gegensatz zu anderen talentierten Sonderlingen ihrer Art konnte sie sich ausgesprochen gut artikulieren und sie hatte ein gewisses Gespür für ihre Umgebung und für sich selbst. Es war nicht so, dass sie auf einer Insel im weiten Ozean saß und wie ein Gestrandeter nichts vom Rest der Welt mitbekam. Trotzdem tat sie sich unendlich schwer Gefühle zu verstehen und Bekkas beißender Witz war für sie ein Buch mit sieben Siegeln.

      „Melvin möchte nur zwei Tage bleiben. Weihnachten durfte er nicht kommen und Silvester wird er wieder weg sein. Bleibt mal locker!“ Bekkas Tonfall war diesmal ohne Zweifel ärgerlich. Da blieb kein Raum für Spekulationen.

      „Fährt er etwa mit dem eigenen Auto? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bis zu unserem Haus durchkommt“, wandte die Mutter ein.

      „Linette, lass den jungen Mann kommen, sonst dreht unsere Bekka noch durch“, sagte Kevin augenzwinkernd. „Wenn es sein muss, ziehe ich Melvin mit meinem Hoover zu uns hinauf.“

      Bekka streckte ihm die Zunge raus und Kaya seufzte erneut, weil sie darauf niemals kommen würde und auch nicht verstand, warum Vater das komisch fand.

      Die Sonne würde um 17:35 untergehen. Zu Fuß brauchte man ungefähr 36 Minuten. Um nicht bei völliger Dunkelheit durch den frischen Schnee stapfen zu müssen, verließ Kaya genau um 16 Uhr das Haus. Vater hatte oft gesagt, er würde den Weg mit dem Hoover viel schneller bewältigen, doch Kaya war gerne allein in der Natur unterwegs und außerdem mochte sie es, wenn der Tag nach festen Abläufen gestaltet wurde.

      Als sie die Tür hinter sich zuzog, hörte sie Bekka über den miesen Fernsehempfang schimpfen. Das war ungewöhnlich, denn seit Jahren funktionierte das Internet hier oben reibungslos, weil Vater sich vehement bei Wetcom beschwert und schon mit Streik gedroht hatte, da er so seine Arbeit nicht ordentlich machen konnte.

      Kaya zog sich die Mütze tief ins Gesicht und drückte die Schneebrille zu recht. Die Kälte griff sofort nach ihren Wangen, den einzigen freien Hautstellen, aber das frostige Gefühl würde bald verschwunden sein. Die Creme, um den Wärmeaustausch zu fördern, würde in ein paar Minuten wirken. Das war auszuhalten.

      Der glitzernde Schnee knirschte unter Kayas altgedienten Mountain-Travel-Boots. Sie bewegte sich trainiert und geschickt durch das vertraute Gebiet. Ein paar Hasen hatten vor ihr die Schneedecke passiert. Hier und da rieselte es wie weißer Kristallregen von den Tannen.

      Kaya dachte an Melvin, den blonden Kommilitonen ihrer Schwester, der seit geraumer Zeit weit mehr zu sein schien. Bekka sagte, es wäre nicht die große Liebe, was auch immer das heißen sollte, doch zum Aushalten sei es schon und es zeigte sich kein interessanteres Individuum, das einen vollständigen Satz ohne Ähhs sprechen konnte und halbwegs gutaussehend war. Bei seinen seltenen Besuchen im elterlichen Haus ließen sich weder er noch Bekka viel blicken und Kaya hatte keine Möglichkeit sein Vokabular auf das Fehlen von Ähh’s zu testen. In der Nacht drangen durch die Zimmertüre Worte und Geräusche, die auch nicht auf gepflegte Konversation schließen ließen.

      Kaya würde gerne wissen, was Liebe bedeutete und wie sie sich anfühlte. Nicht der rein körperliche Akt zwischen Mann und Frau, sondern das große Geheimnis dahinter. Das Einvernehmen, welches zwei Seelen teilten. Auch dieser Wunsch unterschied sie bestimmt meilenweit von anderen Inselbegabten und Kaya biss sich auf die Lippe bei dem wiederkehrenden Gedanken, dass sie eigentlich etwas anderes sein musste. Ihre Fähigkeiten waren nicht auf eine einzige Sache beschränkt. Sie konnte vieles und ihr war bewusst, dass die Gesellschaft von ihr ein bestimmtes Verhalten forderte, um sie zu akzeptieren und sie sehnte sich danach in dieses Format zu passen.

      Kaya schob den Arm ihrer dicken Jacke mühsam zurück und kämpfte sich bis zu ihrer Armbanduhr durch. 16:29 Uhr. Sie war fast da.

      Plötzlich ertönte ein Zischen, gefolgt von einem hohen Pfeifen von oben. Die Wipfel der Bäume begannen zu flirren. Kaya zog unbewusst den Kopf ein. Dann schien die Luft zu surren, beinahe zu vibrieren. Heißer Wind schlug Kaya entgegen. Moment? Heiß? Die Tannen peitschten ihre Zweige wie verrückt hin und her, als wollten sie sich wehren. Kaya riss die Mütze höher. Der Pfeifton wurde kreischend. Ein Glühen färbte die Baumspitzen rot. Dann explodierte der Wald.

      Kaya wurde in die Luft geschleudert. Ein ohrenbetäubendes Brüllen zerriss ihr fast das Trommelfell. Schnee klatschte auf sie herab. Der graue Himmel über ihr tanzte und drehte sich wie wild, als hätte sich die Rotation der Erde um ein Vielfaches beschleunigt. Kaya presste die Hände auf ihre Ohren. Ihr Brustkorb fühlte sich so eng an, als wäre er zerquetscht worden.

      Sie schrie.

      Ihre eigene Stimmte hörte sich dumpf an, als wäre sie meilenweit weg. Ein gelbglühender Schweif zog an ihr vorüber und presste sie mit unwiderstehlicher Wucht tiefer in den Schnee. Sie wollte fliehen und konnte nicht. Irgendwas war vom Himmel gestürzt und hatte Bäume entwurzelt. Es stank nach Rauch und anderen widerlichen Dingen, die Kaya in der Nase stachen. Sie lag schwer atmend auf dem Rücken und verschluckte sich beinahe durch ihr zu schnelles Luftholen. War ein Flugzeug hier runtergekommen? Langsam nahm Kaya die Hände von den Ohren. Sie spürte, dass warme Flüssigkeit aus ihrem Mund quoll. In ihren Ohren fiepte es, als würde sie an Tinnitus leiden. Sonst hörte sie gar nichts mehr. Irgendwann schaffte sie es den Kopf zu drehen und sah eine graue wabernde Wolke in den Himmel ragen.

      War tatsächlich ein Unglück passiert? Kaya kämpfte sich taumelnd auf die Beine. Der Boden schwankte, schien auf sie zuzurasen. Kaya schüttelte sich. Ihr Gleichgewichtssinn musste erheblich gestört sein. Kaya spuckte in den Schnee. Rote Blasen auf weißem Grund. Benommen tastete sie in ihre Taschen auf der Suche nach ihrem Dic-Da-Dic. Wenn Leute verunglückt waren, musste Rettung her! Nach einer gefühlten Unendlichkeit lag das kleine Telefon in Kayas zitternden Händen, aber der Empfang war gleich null. Nicht einmal die Notfalltaste wollte ihre Pflicht erfüllen.

      Kaya stolperte weiter. Sie hörte immer noch nichts und sie konnte kaum einschätzen ob das Gefühl in ihrer Magengegend nur blanke Angst war. Sie torkelte durch ein Gestrüpp. Dahinter wies die Schneedecke riesige schwarzbraune Flecken auf. Der Brandgeruch biss Kaya in den Augen. Ein seltsamer grauer Schimmer lag in der Luft. Wie ein Netz, das sich ständig verformte und an eine riesige Seifenblase erinnerte. Bei dem Versuch es zu berühren, ging Kaya in die Knie. Der Schimmer zappelte auf und nieder wie Wackelpudding. Kaya fragte sich, ob sie ein Knistern oder ein Prasseln hören würde, wenn sie nicht gerade taub wäre.

      Sie stemmte sich auf die Knie. Wie sollte sie den Weg nach Hause schaffen? Den Rettungsdienst konnte sie auch nicht rufen. Plötzlich nahm sie eine Bewegung in den Schneewehen war. Weiß bewegte sich auf weiß. Es war schnell. Es hatte Arme und Beine. Es war kein Tier. Kaya kapierte, dass sie entdeckt worden war. Obwohl sie dringend Hilfe brauchte, war das kein Anlass erleichtert zu sein.

      Eine Gestalt in einem Anzug landete vor Kaya, der wie weißer Lack glänzte. Stiefel, Handschuhe, ein Helm mit blickdichtem grauem Visier. Alles daran würde an einen Tiefseetaucher oder einen Astronauten erinnern, würde die Person nicht so ungemein athletisch in der Montur aussehen. Kaya hörte ein dumpfes Pochen, gefolgt von einem verzerrten Singsang. Sie konnte nicht anders, als sich erneut zu schütteln. War ihr Trommelfell geplatzt?

      Der weiße Anzugträger kniete sich vor Kaya in den Schnee. Diese sah ihr eigenes Spiegelbild im Visier. Eine fellbesetzte blaue Kapuze und eine orange Schneebrille. Der eiförmige Helm neigte sich zur Seite, als würde eine Frage in der Luft hängen. Der Singsang erklang wieder. Aha, man sprach mit ihr. Die Stimme klang weiblich. Ohne Vorwarnung klappte das Visier zurück.

      Kaya erschrak so sehr, dass sie ihren eigenen Aufschrei hörte und unfein auf den Hintern plumpste. Das war kein Astronaut. Noch nicht einmal ein Tiefseetaucher im verschneiten Nirgendwo auf der Zugspitze.

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