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Annahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker als Grundsatz des Friedensschlusses war nie umstritten. Voraussetzung dafür war eine furchtbare Mißachtung der komplexen Völkerwirklichkeit Zentral-, Ost- und Südeuropas und ein gerütteltes Maß an Heuchelei und Inkonsequenz. Denn die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf die mindestens neuneinhalb Millionen Deutschen, die am Ende des Ersten Weltkriegs außerhalb Deutschlands lebten, verbot sich von vornherein, wollte man nicht das Ergebnis des Krieges auf den Kopf stellen. Voraussetzung war aber auch eine rassistisch fundierte Blindheit für die Sprengkraft des neuen Prinzips. Weder Lloyd George noch Clemenceau wäre im Traum eingefallen, der Friedensgrundsatz könnte auch für Irland oder ihre Kolonialreiche gelten. Ungehört blieben auch die Unabhängigkeitsforderungen der Araber. Die Einigung, die deren Gesandtschaftsleiter Emir Faisal mit dem zionistischen Vertreter Chaim Weizmann im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz hinsichtlich des Status Palästinas gefunden hatte, blieb somit null und nichtig. Und der Südstaatler Wilson, der als Präsident der Universität Princeton wie als Staatschef die Bestimmungen zur Rassentrennung in den USA erheblich verschärft hatte, verspürte ebenfalls keinen Drang, die von ihm propagierte Selbstbestimmung allen Menschen gleichmäßig zugute kommen zu lassen. Eine auf der Friedenskonferenz eingebrachte Anti-Diskriminierungsklausel wurde flugs gekippt und ihr Urheber, Japan, mit der chinesischen Provinz Shantung abgespeist.

      Die Bindung der Idee der Selbstbestimmung an ethnische Kategorien, seinerzeit auch »nationale Idee« genannt, bescherte Wilson 1919 kurzzeitig weltweiten Ruhm. In Mittelamerika und der Karibik, von Mexiko über Nicaragua bis Kuba, wollte man allerdings nach den wiederholten kriegerischen Interventionen der USA im Namen der Freiheit vom demokratischen regime change à la Wilson schon damals nichts mehr hören. Und in Europa mußte der Versuch an der gemischten Bevölkerungswirklichkeit des alten Kontinents scheitern. Die neuen Staaten, deren Grenzen nach ethnischen Gesichtspunkten auf dem Boden der gestürzten Vielvölkerreiche gezogen wurden, waren nicht weniger multinational als zuvor. Als Marschall Piłsudski 1926 in Polen die vierzehnte Regierung seit der Neugründung des Staates im Winter 1918/19 wegputschte, hatte das Land 33 ethnische und 26 polnische Parteien, von denen 31 im Parlament saßen. Langfristig setzte die Zerschlagung der alten »Völkerkerker« in Europa einen Prozeß der vielfach blutig durchgesetzten ethnischen Homogenisierung auf Kosten der historisch gewachsenen heterogenen Strukturen in Gang. Der Preis dafür war mit der kulturellen Selbstzerstörung noch lange nicht bezahlt. Welche Drachensaat hier aufgehen sollte, deutete sich vielmehr 1923 an, als der unter Führung Frankreichs und Großbritanniens ausgehandelte Lausanner Vertrag den griechisch-türkischen Krieg mit der zwangsweisen gegenseitigen Bevölkerungsvertreibung beendete.

      Es ist irreführend, so weit zu gehen wie der britische Historiker Eric Hobsbawm, der Hitler »einen konsequenten Wilsonschen Nationalisten«25 genannt hat. Schließlich ist nur den Deutschen eingefallen, ihren völkischen Furor in fabrikmäßigen Vernichtungslagern auszuleben. Außer Frage steht aber, daß die Einführung ethnischer Landkarten durch die Pariser Friedensmacher in Europa einen gewalttätigen Wettstreit konkurrierender Nationalismen und Irredentismen hervorrief, der die jeweiligen Minoritäten schon 1919 in Lebensgefahr brachte. Noch während in Paris über die Hinterlassenschaft des Weltkriegs getagt wurde, fanden zahlreiche neue kriegerische Auseinandersetzungen sowie in Lwów und Pińsk Pogrome statt. Und unbestritten ist auch, daß der Minderheitenschutz erst ganz am Ende mit dem Eintreffen der deutschen Delegation auf die Pariser Konferenzagenda kam. Denn die Bilanz der deutschen Politik in dieser Hinsicht war im internationalen Vergleich schon am Ende des Kaiserreichs durchaus ansehnlich. Dazu gehörte etwa, daß die Deutschen im Frieden von Bukarest 1918 Rumänien zur Aufhebung seiner Diskriminierungsgesetze gegen die jüdische Minderheit gezwungen hatten.

      Den Siegermächten hat so in Paris nicht nur, was Deutschland betrifft, das Verständnis für die Grundlagen wie die Querverbindungen zwischen ökonomischen und sozialen Bedingungen und demokratischer Politik gefehlt. Keynes’ dunkle Prophezeiung sollte sich bewahrheiten: Aus den Demokratien, die sich 1919/20 in Mittel- und Ost- und Südeuropa etabliert hatten, waren schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs allerorten autoritäre und diktatorische Systeme geworden. 1938 schließlich wurde die Tschechoslowakei regelrecht dafür abgestraft, die letzte funktionierende Demokratie in Zentraleuropa zu sein.

      Die Geschichte der in Versailles den Deutschen auferlegten Tribute ist erst seit kurzem zu Ende. Der Grund waren die Restzahlungen für Auslandsschulden nach der Londoner Schuldenkonferenz von 1953, die sogenannte Schattenquote. Die Schattenquote wurde in London für den, wie es damals schien, eher unwahrscheinlichen Fall einer deutschen Wiedervereinigung festgelegt. Die Bundesrepublik, so befanden seinerzeit die westlichen Gläubiger, solle als Teilstaat nicht über Gebühr für jene öffentlichen Schuldtitel aufkommen, die ihr das Deutsche Reich auch in Form von Reparationsanleihen hinterlassen hatte. Zwar zahlte Westdeutschland bis ins Jahr 1980 rund 14 Milliarden D-Mark für Zins und Tilgung auf diese Papiere. Doch im Schatten der deutschen Teilung gab es zumindest für die zwischen 1945 und 1953 angefallenen Zinsen einen Rabatt. Als die Wiedervereinigung 1990 unverhofft Wirklichkeit wurde, lebte auch die Schattenquote auf: 251 Millionen D-Mark, davon rund drei Viertel aus reparationsbezogenen Anleihen. Es war ein kaum nennenswerter Posten, der im Bundeshaushalt 2002 weniger als vier Millionen Euro betrug.26 Fast hundert Jahre nach Versailles, im Oktober 2010, ist die letzte Schuld beglichen worden.

      Weitaus mehr als dieses Reparationskuriosum, das wie ein rostiger Nagel bis in unsere Tage an die Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs erinnerte, kann indes die demokratische Euphorie zur Jahrtausendwende als ein spätes Echo des Jahres 1919 gelten. Nicht zufällig ist sowohl 1919 wie 1990 das Ende der Geschichte ausgerufen worden. Und seitdem der Presbyterianer Wilson 1917 den Krieg gegen Deutschland als Kreuzzug gegen »den natürlichen Feind der Freiheit« aufnahm, ist Amerikas civilizing mission selten, auch während der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs nicht, so emphatisch artikuliert worden wie unter der Präsidentschaft von George W. Bush. Trotz ihrer Verachtung völkerrechtlicher Institutionen beriefen sich denn auch nicht nur die akademischen Vordenker des martialischen Demokratie-Exports in den Irak durch den Dritten Golfkrieg ausdrücklich auf Wilson, der seine zahlreichen militärischen Interventionen in Mittelamerika und der Karibik »moralische Diplomatie« nannte. Und tatsächlich ist dem amerikanischen Selbstbestimmungspostulat damals wie heute sowohl die religiöse Fundierung und der Anspruch einer höheren Moralität als auch der schwache Sinn für die Mühen der Ebene des nation-building eigen.

      Wie 1919 zeigen sich deren Schwierigkeiten vom Balkan bis zur Ukraine auch wieder mitten in Europa. Daß die nationalen Entflechtungskriege der 1990er Jahre in Südosteuropa wieder die Verwerfungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar werden ließen, stellte noch achtzig Jahre später der in den Pariser Vorortverträgen niedergelegten Friedensordnung kein gutes Zeugnis aus. Aber auch der Friedensschluß von Dayton hat 1995 Grenzen gezogen, mit denen auf dem Balkan kaum jemand zufrieden ist. Vielleicht gibt es sie heute so wenig, wie es sie 1919 geben konnte. Dies gilt auch für die Ukraine, was übersetzt Grenzland bedeutet. Dort haben sich zwischen Krim und Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, in der Ostorientierung der einen und der Westorientierung der anderen nur scheinbar unvermutet die alten Grenzen der vor rund hundert Jahren untergegangenen Vielvölkerreiche Rußland und Österreich-Ungarn aufgetan. Derweil träufelt das Gift des von Wilson (und Lenin) propagierten Prinzips der Selbstbestimmung der Völker weiter, das ethnische Kollektive über individuelle Menschenrechte und Minderheitenrechte setzt. Ungarn, das nach dem Ersten Weltkrieg als Kriegsverlierer mit dem Verlust von zwei Dritteln seines Staatsgebiets territorial weitaus härter beschnitten wurde als der Bündnispartner Deutschland, fordert im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Heimholung der ungarischen Minderheiten in der Westukraine und anderswo. Im Jahr 2010 führte die ungarische Regierung einen nationalen Gedenktag ein, der an die Unterzeichnung des Vertrags von Trianon im Juni 1920 als aktuelles Trauma erinnert. In einer Phase, in der Europa erneut auch finanziell zusammenstehen muß, sind die Europaverächter in den EU-Gründungsstaaten hingegen mit einem immer kürzeren Gedächtnis geschlagen. Kurzum: Versailles ist uns heute näher, als man denkt, und wohl auch näher, als uns lieb ist. Man sollte die nachfolgende Streitschrift eines klugen Engländers, der gegen die neue Weltordnung von 1919 die Notwendigkeit des wirtschaftlichen und politischen Zusammenhalts Europas darlegte, mit Demut lesen.

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