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»Die einzigen, die jemals geglaubt haben, daß die Deutschen ihre Reparationsverpflichtungen erfüllen konnten«, hat der verstorbene Doyen der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, der Amerikaner Gerald D. Feldman, daher ironisch bemerkt, »sind einige Historiker«23. Die Wahrheit ist, daß auch jenseits des reparationspolitischen Theaterdonners weder Deutschland die ihm abverlangten Tribute in voller Höhe je hätte zahlen können noch die Alliierten dies je gewollt hätten. Der Revisionismus nach Versailles ist nicht nur ein deutsches Syndrom gewesen.

      Gegenteiligen Behauptungen zum Trotz sind die anfänglichen Bemühungen Deutschlands, seinen Reparationspflichten nachzukommen, tatsächlich sehr ernsthaft und substantiell gewesen. Doch der soziale und ökonomische Druck, den sie im Innern produzierten, war ebenfalls enorm. Eine solche Anstrengung hätte angesichts des innenpolitischen Belagerungszustands der Weimarer Republik, die bis 1923 mehrere links- und rechtsradikale Putschversuche erlebte, keine deutsche Regierung über längere Zeit durchhalten können. Die Wirtschaft war, wie der 1922 ermordete Walther Rathenau als Wiederaufbauminister im September 1921 meinte, in der Tat das Schicksal. Denn die Alliierten, auch die USA, weigerten sich strikt, die großen Handelsbilanzdefizite mit Deutschland zu akzeptieren, die für erfolgreiche Reparationszahlungen in Gold und ausländischen Währungen notwendig gewesen wären. Es war ihnen nicht zu verdenken: Um einen anhaltenden Reparationsfluß zu ermöglichen, hätten sie ihre Märkte für deutsche Billigexporte öffnen müssen; sie zogen protektionistische Maßnahmen vor, um ihre Bevölkerung vor der Arbeitslosigkeit zu schützen, die mit der Warenflut aus Deutschland einherging. Dies bedeutete aber, daß Deutschland die Exportüberschüsse, die es zur Reparationstilgung gebraucht hätte, gar nicht aktiv erwirtschaften konnte. Sie wären alternativ nur über eine radikale Rückführung der deutschen Wirtschaftstätigkeit zu erreichen gewesen, eine Drosselung von Importen und Volkseinkommen bei gleichzeitiger hoher Arbeitslosigkeit, die durchgehend um die 20 Prozent hätte liegen müssen. Höchstens eine Besetzung durch alliierte Siegertruppen oder aber eine pro-französische Diktatur hätte derlei soziale Kosten auf Dauer durchsetzen können. Statt dessen hat die Weimarer Republik in den zwanziger Jahren nur ein einziges Mal einen signifikanten Exportüberschuß erzielt: als nämlich während der Rezession im Winter 1925/26 bei einer Arbeitslosenquote von fast 23 Prozent sowohl das deutsche Volkseinkommen als auch die Importe nach Deutschland einbrachen. Zu den vielen Paradoxien der Reparationsfrage gehört denn auch diese: Der Revisionismus war über alle politischen Lager hinweg der politische Kitt, der die Weimarer Republik zusammenhielt, während er sie zugleich von innen aushöhlte; er war eine demokratische Überlebensfrage, bevor er Deutschland in die politische Irrationalität trieb.

      Die Auswirkungen der Mitte der zwanziger Jahre einsetzenden amerikanischen Stabilisierungspolitik in Deutschland sind nicht minder widersprüchlich gewesen. Obschon es die Ruhrkrise war, die das neuerliche Engagement der USA in Europa erzwungen hatte, lief dieses bloß informell über amerikanische Finanzexperten und hielt überdies die Leugnung einer Verbindung zwischen den Reparationen und den inter-alliierten Schulden aufrecht. Zugleich brachten die erst im Dawes- und hernach im Young-Plan von den USA etablierten Reparationsregime neben Erleichterung neue Kalamitäten. Einerseits wäre ohne die wirtschaftliche Sicherung durch den Dawes-Plan die Verständigungspolitik von Locarno, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund und die Räumung des Rheinlandes kaum möglich gewesen. Andererseits war die kurzzeitige ökonomische Erholung der Weimarer Republik – ohnehin geringer, als es das Schlagwort von den goldenen zwanziger Jahren vermuten läßt – wahrlich trügerisch. Denn die Seniorität, die kommerziellen Schulden im Dawes-Schema vor den Reparationen eingeräumt worden war, lockte im Gefolge der Dawes-Anleihe Riesenmengen ausländischen, mehrheitlich amerikanischen Kapitals in das eigentlich bankrotte Land. In der Folge bezahlte Deutschland nicht nur neue Schulen und Krankenhäuser, sondern allzu gern auch seine Reparationen auf Pump. Der Dawes-Plan setzte einen gewaltigen Schuldenkreislauf in Gang, in dem die USA mit Krediten die deutschen Reparationen finanzierten, mit welchen wiederum die europäischen Alliierten ihre Kriegsschulden bei den Amerikanern abstotterten. Deutschlands Interesse an diesem Spiel war ganz offensichtlich, die Reparationen auf Kredit zu bezahlen, um sie dann ganz loszuwerden. Seitens der Geldgeber funktionierte das ingeniöse Schema allerdings nur aufgrund der weithin geteilten optimistischen Annahme, daß sich die USA in absehbarer Zeit zur Streichung der inter-alliierten Schulden durchringen würden. Statt dessen trat Ende 1928 das Gegenteil ein: Der amerikanische Kongreß lies sich nicht erweichen; Frankreich und die USA unterzeichneten vielmehr eine Vereinbarung über die volle Wiederaufnahme des französischen Schuldendienstes innerhalb eines Jahres. Nun trat alsbald ein, wovor der Gouverneur der amerikanischen Zentralbank schon im Juli 1927 gewarnt hatte. Die deutsch-amerikanische Kreditrecyclingmaschinerie, hatte er vorhergesagt, werde innerhalb von ein oder zwei Jahren zusammenbrechen und die schlimmste Weltwirtschaftskrise der Geschichte hervorrufen. In Deutschland, das neben den Reparationsschulden nun zusätzlich einen Berg kommerzieller Schulden aufgetürmt hatte, sollte sie nicht nur in eine Bankenkrise, sondern auch in eine Staatskrise übergehen. Die Republik war schon im Ausnahmezustand, als der Hamburger Privatbankier Carl Melchior – John Maynard Keynes hat ihn noch postum in einem Erinnerungsstück an gemeinsame Tage in Versailles gewürdigt24 – 1932 in Lausanne für Deutschland das Ende der Reparationen aushandelte. Zins und Tilgung auf die Dollar-Anleihen, mit denen man sie zuletzt finanziert hatte, freilich blieben. Die »Fesseln von Versailles«, von denen Hitler kurz darauf das deutsche Volk zu befreien vorgab, bestanden nur noch aus Papier. Daß der Mythos vom »Schanddiktat« ihm dennoch die Leute zutrieb, gehört durchaus zu den ökonomischen Folgen des Friedensvertrages.

      Keynes’ Streitschrift zu den wirtschaftlichen Folgen von Versailles ist im Dezember 1919 als erste einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen erschienen, in denen sich selbst hochrangige Vertreter aus den Reihen der britischen und amerikanischen Delegation, bis hin zum amerikanischen Außenminister Lansing, von dem Friedensvertrag aus moralischen oder inhaltlichen Gründen nachträglich distanzierten. Allerdings hat keine von ihnen auch nur annähernd die Wirkung erzielt, die Keynes’ ebenso meisterhafter wie maliziöser Darstellung beschieden sein sollte. Zwar hatte die britische Bevölkerung im Winter 1918 Lloyd Georges Ankündigung, die Deutschen wie eine Zitrone auszuquetschen, noch johlend begrüßt. Doch nach den schier endlosen Pariser Verhandlungen traf Keynes’ Buch auf den Resonanzboden eines liberalen Establishments, das durch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Friedensordnung gründlich desillusioniert war. Die Versailles-Kritik wurde zu einem Bestseller, der den Cambridger Wirtschaftsprofessor schlagartig weltweit berühmt machte. Innerhalb von sechs Monaten lagen Übersetzungen in vierzehn Sprachen vor. In Deutschland freilich nahm man das Buch gleichsam als Gütesiegel für den vorherrschenden Eindruck vom »Schandvertrag«. Und der Erfolg hält noch immer an. In Großbritannien sind die Economic Consequences seit der ersten Auflage im Dezember 1919 bis heute ohne Unterbrechung nachgedruckt worden.

      Die Kritik, die die akademische Historiographie Keynes’ Polemik angedeihen läßt, hat vor allem zwei durchaus zusammenhängende Themen: Frankreich und die Reparationen. Was letztere betrifft, läßt sich trefflich streiten, zumal Keynes’ Zahlenmaterial seinerzeit auf den Schätzungen des britischen Schatzamts beruhte und in vielem überholt ist. Im Grundsatz aber lag er richtig. Was Frankreich angeht, irrte Keynes hingegen in der Tat. Denn in der historischen Forschung besteht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, daß es weniger die vermeintlich rachedurstigen Franzosen waren, die in Versailles eine moderate Reparationslösung verhinderten, als vielmehr der britische Premier Lloyd George. Zweifellos sollten sich die Franzosen mangels anderer Möglichkeiten an den Klauseln des Versailler Vertrags zumeist wie Ertrinkende festhalten. Aber in der Enttäuschung über ihre alliierten Partner hatten sie schon unmittelbar nach Versailles eine enge ökonomische Kooperation mit Deutschland als alternative Lösung ihres Sicherheitsdilemmas erkannt. Nachdem der französische Wirtschaftsminister Etienne Clémentel auf der Pariser Konferenz vergebens für einen alliierten Wirtschaftsverbund geworben hatte, galten vernünftige Vorschläge nun vor allem der deutschfranzösischen Kooperation. Die meisten von ihnen scheiterten allerdings am Einspruch Englands. Das Zwingende solcher Gedanken, das Keynes schon 1919 gesehen hatte, ließ sich auf Dauer aber nicht abweisen. Bezeichnenderweise ist es mit Jean Monnet ein enger Mitarbeiter Clémentels gewesen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gründungsvater erst der Montanunion und dann der Europäischen Gemeinschaft wurde.

      Ihre prekärste Erbschaft haben die Siegermächte

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