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erklärte: »Bevor wir euch brünftige Hirsche auf die zivilisierte Menschheit loslassen können, müssen wir jeden von euch genau unter die Lupe nehmen. Anständig und vorschriftsmäßig zu grüßen habt ihr ja gelernt. Wir möchten auch in dieser Hinsicht keinerlei Klagen zu hören bekommen.«

      Vor mir stand der in Wien beheimatete Franz Plaschok in der Warteschlange. Er lag mit uns in der Stube. Der Maat befahl: »Fingernägel vorzeigen! Schuhe ausziehen und Socken runter!« Dann begann der Maat laut zu schnuppern. »Nun seht euch diesen Kerl an! Die Duschen wurden extra für euch geheizt, und dieses Ferkel möchte mit Stinkefüßen Ausgang bekommen. Habt ihr schon mal so was gerochen?« Er blickte Plaschok vorwurfsvoll an. »Füße waschen und frische Socken anziehen! Heute wollen wir mal gnädig sein. Ihr Ausgangsschein bleibt hier bei mir liegen. Sie können später noch einmal bei mir vorsprechen – aber dann wie ein deutscher Matrose! Treten Sie ab!« Sofort wandte er sich an mich. »Kamm vorzeigen!« Wie alle anderen vor mir musste auch ich den Hosenlatz meiner Ausgehuniform öffnen und herunterklappen, damit meine Unterhose auf ihre Sauberkeit überprüft werden konnte. Anschließend war das jedem von uns überlassene Kondom vorzuzeigen. »Wir können euch doch unserer Stammkundschaft in der Stadt nicht schutzlos überlassen! Wehe demjenigen von euch, der sich irgendetwas einfängt! So etwas ist Wehrkraftzersetzung, und die wird bekanntlich strengstens geahndet! Dabei wird keiner froh. Deshalb also: unbedingte Sauberkeit und Hygiene in jeder Lebenslage!«

      Zum dritten Kriegsweihnachtsfest im Marinedurchgangslager Leer bekam jede Stube einen äußerst dürftigen Weihnachtsbaum zugeteilt. Heinz Lücker erzählte uns, er habe auf einem seiner ausgedehnten Spaziergänge eine einsam gelegene Baumschule mit prachtvollen Tannenbäumchen entdeckt. »Dort hätten wir große Auswahl!« Sogleich stand der Entschluss unserer Stubenbesatzung fest: »Wenn wir schon nicht zu Hause feiern dürfen, weil diese Heinis immer noch nicht wissen, wohin Sie uns abkommandieren wollen, dann wollen wir wenigstens einen anständigen Baum haben!« Lücker meinte noch: »Wenn jemand dort draußen zugegen sein sollte, dann können wir ja zusammenlegen und uns ein Bäumchen kaufen!« Es war jedoch niemand in dieser Baumschule vorzufinden, und eine Stunde später beging ich als Stubenältester mit dem Absägen eines sehr sorgsam ausgewählten Tannenbäumchens den einzigen Diebstahl meiner jungen Jahre.

      Am anderen Morgen riss ein Matrose aus einer Nachbarbaracke unsere Stubentür auf und warnte: »Die kommen gleich zu euch. Es wird ein gestohlener Weihnachtsbaum gesucht.« Blitzschnell riss Lücker das Tannenbäumchen aus dem Ständer und hastete damit aus der Stube: »Ich versteck’ das Ding im Nebenraum der Baracke in der Dachnische! Stellt ihr inzwischen das Fichtenbäumchen wieder an seinen Platz!« Rasch verschwand er und war im Handumdrehen wieder bei uns. »Die finden das Bäumchen niemals. Was ein anständiger ostpreußischer Gärtner versteckt hat, bleibt unentdeckt.« Horst Krause und ich waren gerade damit fertig geworden, das magere Fichtenbäumchen wieder auf dem Tisch zwischen den beiden Bettreihen unserer Stube zu platzieren, als auch schon die Tür aufgerissen wurde. Oberbootsmann Heinisch und ein Herr in grüner Lodenjoppe schauten forschend in unsere Stube. Wir standen alle stramm und blickten die beiden so fragend wie nur irgend möglich an. Ich jedenfalls war erleichtert, als sich der Bootsmann an seinen Begleiter wandte: »Nun, Herr Manser, das war die letzte der hier zurzeit belegten Stuben. Die anderen sind alle verschlossen. Unsere Matrosen sägen doch keine fremden Tannen um! Mir war dies vorher schon klar.«

      Am 9. Januar 1942 betrat ich an der Seite von Heinz Lücker und vier anderen Kameraden aus Bergen op Zoom in Gotenhafen bei Danzig das Deck der »Wilhelm Gustloff«. Wir wussten alle, dass mit diesem Schiff der NS-Organisation »Kraft durch Freude« vor dem Krieg verdiente Volksgenossen in die Fjorde Norwegens, zu sehenswerten Küstengebieten Europas und in entferntere Gegenden gefahren waren. Jetzt diente es der 2. U-Boot-Lehrdivision als schwimmende Kaserne. Es erschien mir riesengroß.

      Da ich als gelernter Orgelbauer keinen technischen Beruf hatte, war ich genau wie Lücker für die seemännische Laufbahn auf einem U-Boot vorgesehen. Wegen unseres selten guten Gesundheitszustandes und unserer ärztlich bestätigten ausgezeichneten Sehkraft sollten wir als Ausguck auf dem Turm und die anderen Aufgaben der Brückenwache ausgebildet und mit dem Gebrauch der Bordkanone vertraut gemacht werden. Es überraschte uns, dass wir auf einem der unteren Decks, knapp über der Wasserlinie, in einer Zweibett-Außenkabine untergebracht wurden. Hier wohnte unsere Ausbildungskompanie. Rasch und wie schon oftmals geübt, leerten wir unsere Seesäcke und ordneten unsere Klamotten genau nach Vorschrift in die Spinde. Lücker war kurz vor mir fertig, prüfte sein Werk mit kritischem Blick, beobachtete dann kurz mich und bemerkte anschließend zufrieden: »Toni, uns beide kann wohl auch hier kein UvD am Wickel kriegen! Hoffentlich ist nicht dieser unsympathische Maat, du weißt schon, dieses kantige Flachgesicht, das wir vorhin grüßen mussten, in unserer Kompanie.« Mir war dieser Mann auch aufgefallen, und ich musste Lücker zustimmen. Dann aber meinte ich: »Egal, Heinz. Vor allem ist gut, dass wir zwei hier zusammen sind. So können wir uns gemeinsam bemühen, gut durchzukommen.«

      Einige Tage lang kam uns das Gewirr von Längsund Quergängen wie ein Labyrinth vor. Wir verwechselten mehrmals die Zwischendecks und fanden nicht ohne Schwierigkeiten zu den Unterrichtsräumen. Einmal mussten wir sogar unseren Speisesaal suchen.

      Von nun an übten wir täglich beinahe bis zum Erbrechen, sichere Seemannsknoten in Rekordzeit zu knüpfen, lernten Leinen punktgenau zu werfen und mussten uns anhand zahlreicher Schautafeln die verschiedenartigen deutschen und gegnerischen Kriegsschiffe sowie ihre Bewaffnung und Kampfkraft einprägen. Auch Flugzeugtypen und ihre Reichweiten mussten wir auf Anhieb erkennen, wobei sich unsere Ausbilder nicht immer als geduldig erwiesen. Ebenso unermüdlich trainierten wir die visuelle Verständigung mittels Winkfähnchen oder Morselampen von Schiff zu Schiff, kurzum alles, was auf einem U-Boot-Turm erforderlich war. Auch hier auf der »Wilhelm Gustloff« war jeder Ausbilder ein König, und fast alle von ihnen bereiteten uns in einem überaus einprägsamen und rauen Umgangston auf das vor, was uns erwartete. »Auf einem U-Boot ist jedes Besatzungsmitglied auf das Können und die Zuverlässigkeit seiner Kameraden angewiesen. Ganz egal, an welcher Stelle des Bootes er eingesetzt ist!«

      Morgens, jeden Tag pünktlich um sechs Uhr, riss uns die schrillende Trillerpfeife des UvD aus dem Schlaf: »Raus aus eurem Scheißkorb!« Sofort mussten wir alle in unseren knielangen weißen Nachthemden vor den Kojen strammstehen. Wehe dem Unglücksraben, dem dies nicht schnell genug gelang. »Verschlafenes Muttersöhnchen! 30 Liegestützen!« Vor allem das kantige Flachgesicht demonstrierte gerne seine Macht.

      Lücker, das wusste ich schon aus Unterhaltungen in Bergen op Zoom, entstammte wie ich einer Familie, deren Angehörige man nicht gerade als überzeugte Nationalsozialisten bezeichnen konnte. Wir beide waren inzwischen enge Freunde geworden, die einander rückhaltlos vertrauten. Wenn wir nicht zu müde waren, flüsterten wir auch nach der befohlenen Nachtruhe, er aus der oberen und ich aus der unteren Koje, leise miteinander und tauschten zum Beispiel Kindheits- und Jugenderinnerungen aus. So erzählte ich ihm, dass ich im März 1932 als Neunjähriger mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Lisa und zusammen mit meinem Vater im Auto von dessen SPD-Freund über Land gefahren war. Zwar war es wirklich keine Spazierfahrt gewesen, trotzdem hatten wir Kinder riesigen Spaß dabei, in den Dörfern SPD-Flugblätter gegen die Wahl Hitlers aus den Autofenstern zu werfen. Schon im Jahr darauf wurde mein Vater deshalb einige Zeit in sogenannte »Schutzhaft« genommen, und Lücker wusste, dass es mir unerklärlich war, wie mein Vater sich dazu hatte überreden lassen, als überzeugter Sozialdemokrat schließlich dennoch in die NSDAP einzutreten.

      Von Heinz wusste ich, dass seine Eltern in Allenstein mit einer jüdischen Arztfamilie befreundet gewesen waren. Als diese Familie über Nacht plötzlich verschwunden war, bekam sein Vater, ein Katholik, wegen judenfreundlicher Äußerungen ganz ähnliche Schwierigkeiten, wie mein alter Herr sie erfahren hatte.

      Dennoch glaubten wir beide, dass wir diesen Krieg gewinnen würden. Tägliche Erfolgsmeldungen, die nicht nur von der U-Boot-Waffe kamen, bestärkten uns in diesem Glauben und auch darin, dass wir den Krieg für gerechtfertigt hielten, denn der Friedensvertrag von Versailles, vielfach »Schandfrieden« genannt, konnte einfach nicht hingenommen werden. Solche und ähnliche Gedanken diskutierten wir oft, sobald wir ein wenig Zeit hatten.

      Unnötige Schikanen unserer Ausbilder stießen uns beide gleichermaßen ab. Immer wieder kam es vor,

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