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sekundenlang alles andere, bis Max Kreitmeier ärgerlich feststellte: »So ein Blödsinn! Als ob einer von uns sich vor seiner Einberufung drücken könnte! Jeder weiß doch, was mit einem Drückeberger geschieht! So einer wird doch ohne viel Federlesens an die Wand gestellt und als ehrloser Volksverräter und Feigling erschossen!«

      Nicht nur ich zuckte erschrocken zusammen, als ein mir unbekannter Mann von einem der Nachbartische laut kommentierte: »Genauso ist es! Und so soll es auch bleiben! Mein Sohn ist schon längst in Russland! Beeilt euch also und helft ihm beim Siegen!«

      Nur wenige Sekunden herrschte betroffenes Schweigen an unserem Tisch, und Hans Weber beeilte sich zu sagen: »Sie sehen doch, dass wir auf dem Weg sind!« Julius Scheuer beendete die heikle Situation, indem er abwinkte: »Hans! Lass diesen alten Krauterer doch sagen, was er will! Der kann uns doch alle!« Wir wandten uns ab und unterhielten uns weiter, unsere jugendliche Sorglosigkeit gewann wieder die Oberhand. Später am Abend, kurz vor der Polizeistunde, bat uns der Wirt in die Gaststube: »Drinnen könnt ihr so lange feiern, wie ihr wollt. So jung kommt ihr alle nicht mehr zusammen, und die Ortspolizei wird wegen der Sperrstunde heute sicher für unsere künftigen Vaterlandsverteidiger ein Auge zudrücken.«

      Nur wenige verabschiedeten sich. Auch ich blieb, und als wir sehr spät und auf etwas unsicheren Beinen auf den Marktplatz hinaustraten, konnten wir über den Dächern Grafings schon die heraufdämmernde Morgenröte erahnen.

      Am Abend des 28. September 1941, fünf Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag, betrat ich mit sehr gemischten Gefühlen das Gelände einer Kaserne der Kriegsmarine. Es war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben und lag auf offenem Gelände, nicht weit von der Stadt Buxtehude entfernt. Der erste Eindruck meines zukünftigen Aufenthaltsorts war mehr als ernüchternd. Die sauberen, grauen Baracken erinnerten mich unangenehm an die des RAD zu Hause, und als mir ein mürrischer Maat in der Schreibstube den Weg zu meiner Stube beschrieb, fühlte ich mich nicht nur wegen der langen Anreise mit der Bahn wie gerädert. Als zwölfter und letzter Ankömmling in meiner Bude bekam ich natürlich nur noch das Bett, das vom einzigen Fenster in dem muffigen Raum am weitesten entfernt stand.

      Am nächsten Morgen ging es los: Die schrillende Pfeife eines Maates riss uns aus dem Schlaf. Nach dem Frühsport – bei dem wir nur unsere noch saubere Unterwäsche trugen – und einem nicht gerade als üppig zu bezeichnenden Frühstück in der Kantinenbaracke wurden wir zum Appell auf dem weiträumigen Kasernenhof befohlen. Wir waren etwa 300 angehende Rekruten, denen ein Oberbootsmann in beeindruckender Lautstärke befahl, in drei gleich starken Gruppen anzutreten, und zwar in einem zu ihm hin geöffneten Viereck. Jetzt machte sich die vormilitärische Ausbildung der HJ bemerkbar, und nur einige Ausbilder, die von ihrer Wichtigkeit sehr überzeugt zu sein schienen, traten laut brüllend in Aktion, während sich die geforderten Dreierreihen verhältnismäßig rasch zu bilden begannen.

      Ein tadellos uniformierter Oberleutnant zur See trat aus einer der Schreibstuben. Der Oberbootsmann ging ihm in strammer Haltung einige Schritte entgegen, grüßte und machte Meldung. Der Oberleutnant erklärte: »Sie werden nicht hier bei uns eingekleidet, sondern bei der für Sie zuständigen Ausbildungseinheit in Bergen op Zoom. In einigen Tagen geht ihr Transport nach Holland!« An dieser Stelle machte der Marineoffizier eine Kunstpause und blickte prüfend an unseren schnurgerade ausgerichteten Reihen entlang. »Bevor Sie uns hier wieder verlassen, müssen wir versuchen, aus Ihnen einigermaßen brauchbare Marinesoldaten zu machen! Der Führer erwartet von jedem unbedingten Gehorsam und vollen persönlichen Einsatz zur Verwirklichung unserer großen Ziele!«

      In den folgenden Tagen fragte ich mich wieder und wieder, ob es richtig gewesen war, sich freiwillig zur Kriegsmarine zu melden. Wir wurden in Gruppen eingeteilt, und wildwütige Ausbilder der Kasernenstammmannschaft, Gefreite, Obergefreite, Maate, hetzten uns in unserer Zivilkleidung mit unbeschreiblicher Härte über den Kasernenhof: »Still gestanden!«

      »Die Augen links!« Oder: »Volle Deckung!«

      »Sprung auf! Marsch, marsch!« Jeden Abend waren wir damit beschäftigt, unsere zwangsläufig stark verschmutzten Anzüge zu reinigen und unsere verschwitzte Unterwäsche zu waschen. Dabei hofften wir, dass sie trotz der schon beginnenden feuchten Herbst-kühle bis zum nächsten Morgen wieder trocken würde. Wir schliefen oftmals nackt, denn keiner von uns hatte damit gerechnet, so lange Zeit auf seine Privatkleidung angewiesen zu sein. Jeden Tag war Stubenkontrolle, und wehe dem Unglücksraben, dessen Bett nicht vorschriftsmäßig gebaut war oder in dessen Spind der Unteroffizier vom Dienst ein Stäubchen fand. Einige von uns fingen an, nachts laut zu träumen, und ich hoffte inständig, es möge in Holland besser für uns werden.

      Endlich, erst sieben Tage später, begleiteten uns die Ausbilder in für die Kriegsmarine reservierten Eisenbahnwaggons nach Holland und übergaben uns am Bahnhof in Bergen op Zoom einigen feldgrau uniformierten Marinesoldaten. Wir wussten natürlich längst: Ab heute begann unsere Infanterieausbildung, die drei Monate lang dauern sollte.

      Herbstlich milde Sonnenstrahlen übergossen die holländische Tiefebene mit warmem Licht, als wir, das kleine Köfferchen wie befohlen in der rechten Hand, laut singend an den Wachen vorbei durch das Kasernentor marschierten. Die gepflegten rotbraunen Klinkerbauten der ehemals niederländischen Kaserne strahlten auch im Inneren vor Sauberkeit. So hatte ich mir eine Kaserne der Kriegsmarine vorgestellt, und ich atmete wohl nicht als Einziger erleichtert auf, als ich mit elf anderen Rekruten in die uns zugewiesene Stube trat.

      Schon am folgenden Morgen wurden unsere wohl etwas überzogenen Erwartungen im Keim erstickt. Die »Kammerbullen« bewiesen bei unserer Einkleidung Routine und ließen kaum einen von uns mit Einwänden wie »diese Stiefel sind mir zu groß – oder diese Drillichjacke ist für mich zu klein« zu Wort kommen. Die Antworten lauteten fast durchwegs: »Tauschen Sie doch die Stiefel mit einem anderen, Sie Flasche!« Oder: »Die Jacke passt schon, Sie Muttersöhnchen. Ihr Bauch ist zu dick! Das wird sich aber bald ändern!« Nach kaum drei Stunden waren wir alle schon damit beschäftigt, unsere Spinde – noch etwas unbeholfen – nach Heeresdienstvorschrift einzuräumen. Ein Gefreiter des Stammpersonals lief durch den langen Flur, und als er die Tür unserer Stube aufstieß, brüllte er: »Zivilkleidung ist unverzüglich und in tadellosem Zustand in die mitgebrachten Koffer oder Kartons zu verpacken! Jedes Gepäckstück ist in gut leserlicher Schrift mit der jeweiligen Heimatanschrift zu versehen! Das geht aber zack, zack! Bis morgen kann sich keiner dazu Zeit lassen, auch wenn er schnell noch ein Brieflein an Mutter dazulegen möchte! Morgen werdet ihr auf unseren Führer Adolf Hitler, auf Volk und Vaterland vereidigt! Dann machen wir hier stramme Marinesoldaten aus euch verweichlichten Waschlappen!« Schon schlug der Gefreite die Tür wieder zu. Der Ostpreuße Heinz Lücker hatte seinen Spind neben meinem. Er blinzelte mir zu und murmelte leise: »Dieser kleine Angeber wird zwar irgendwann vor Wichtigkeit platzen, aber die Fische werden ihn kaum zu fressen bekommen. Diese Typen bleiben doch immer auf sicherem Land.« Schon in Buxtehude hatte ich mich hin und wieder darüber gewundert, wie offen und vertrauensvoll Heinz zu mir sprach, und auch ich erzählte ihm mehr als anderen.

      Am nächsten Morgen waren wir mit unseren feldgrauen Uniformen, durchwegs blank polierten Stiefeln, den Knobelbechern, und Stahlhelmen in offenem Viereck zur Vereidigung angetreten. Schon am Nachmittag nach diesem feierlichen Treueschwur, den wir vor einem Korvettenkapitän, unserem Kompaniechef und einigen Marineoffizieren leisten mussten, entpuppten sich einige unserer Ausbilder als einfallsreiche Sadisten. Heinz Lücker und ich waren der gleichen Gruppe zugeteilt und schienen mit unserem Gruppenführer einen Glücksgriff getan zu haben. Bootsmann Maiwald schrie zwar genauso laut wie die anderen Ausbilder über den Kasernenhof, doch unter seiner rauen Schale glaubten wir schon am ersten Tag seinen gutmütigen, vielleicht sogar nachsichtigen Kern erkennen zu können. Wir schätzten, dass er etwa drei, vier Jahre älter als wir sein mochte. Das schwarze Verwundetenabzeichen, das Band des Eisernen Kreuzes auf seiner Brust und dazu sein leicht hinkender Gang verrieten uns, dass er schon im Einsatz gewesen sein musste, bevor er hier als Ausbilder gelandet war.

      Doch auch unser Infanterie-Ausbilder hatte den Ausbildungsplan genau zu befolgen, denn Kapitänleutnant Wolters sah alles. Unseren unnachsichtig strengen Kompaniechef nannten wir schon nach wenigen Tagen den »Schrecken der Nordsee«, denn er hatte die unangenehme Angewohnheit, unvermutet bei irgendeiner der Gruppen zu erscheinen, dabei jeden Mann genau zu beobachten und hart

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