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Tages hingen dunkle Herbstwolken über den Niederlanden, als wir den »Schrecken der Nordsee« wieder einmal auf dem Übungsgelände hinter den Kasernenblöcken umherstolzieren sahen. Ich ahnte Schlimmes, als ich ihn direkt auf unsere Gruppe zukommen sah. Wir übten gerade das korrekte Vorbeigehen an Vorgesetzten in strammer Haltung. Kaleu Wolters war nur noch wenige Meter von uns entfernt, als er schrie: »Alles hört auf mein Kommando!«

      Schon nach wenigen Minuten fühlte ich, wie mir der Schweiß von der Stirn lief und in meinen Augen brannte. Wir mussten nämlich in unseren grauen Drillichanzügen mit angelegten Gasmasken und vorgehaltenen Karabinern durch das feuchte Herbstgras robben. Das hieß, eng an die Erde geschmiegt sich so rasch wie möglich vorwärts zu bewegen. Durch den Filter der Gasmaske bekam ich kaum genügend Luft und hörte unseren Kompaniechef: »Das geht schneller! Einige von euch lahmen Enten glauben wohl, sie seien hier in einem Erholungsheim! Sprung auf! Marsch, marsch! Das Atmen auf Kriegsschiffen kann viel anstrengender sein als hier. Lernt also besser jetzt schon, sparsam zu atmen!« Heinz Lücker erzählte mir später, dass »dieser Arsch« ihn beim Robben mit dem Stiefel nach unten gedrückt und dabei halblaut gefragt habe: »Sie wollen sich wohl einen Heimatschuss einhandeln, weil Sie Ihr Hinterteil so zielgerecht darbieten?« Nach einer halben Ewigkeit entfernte sich der »Schrecken der Nordsee« endlich, nachdem er einige von uns mit verächtlichen Blicken bedacht hatte. Ich glaubte, dass seine stahlblauen Augen länger auf mir ruhten als auf meinen Kameraden.

      »Gasmasken ab!« Die Stimme von Bootsmann Maiwald klang wie eine Erlösung. Heinz Lücker stand neben mir, als wir unsere Gasmasken von den Gesichtern zerrten. Wütend blickte er dem Offizier nach und raunte mir dabei halblaut ins Ohr: »Jetzt will er wohl die Gruppe Schmidt mit seinem Charme beglücken. Glaubt denn diese wandelnde Vogelscheuche, wir müssen demnächst in England landen, um dort mit unseren Knobelbechern und Karabinern nach London zu marschieren?«

      Noch bevor ich antworten konnte, bemerkte ich Bootsmann Maiwald, der dicht hinter uns stand und leise feststellte: »Das möchte ich überhört haben, Lücker.« Laut wandte er sich an uns alle, die wir – immer noch schwer atmend – damit beschäftigt waren, unsere Gasmasken in den länglich-runden Blechbehältern zu verstauen. »Ihr könnt einen Halbkreis bilden und euch setzen.« Dieser hochwillkommenen Anordnung wollte ich gerade Folge leisten, als mich ein Wink Maiwalds zurückhielt: »Herr Kaleu Wolters scheint Sie besonders in sein Vaterherz geschlossen zu haben. Ich soll Sie fragen, ob Sie sein Aufklarer werden möchten.« Für alle anderen unhörbar fügte er leise hinzu: »Wehe Ihnen, wenn Sie es wagen sollten, dieses großzügige Angebot abzulehnen. Das würde für Sie hier künftig die Hölle auf Erden bedeuten.« Wieder laut fragte er: »Was kann ich Herrn Kaleu melden?«

      In Sekundenschnelle wog ich die mir entstehenden Vor- und Nachteile gegeneinander ab, die mir durch die unmittelbare Nähe zum »Schrecken der Nordsee« entstehen würden. Dann stand ich stramm und meldete: »Diese Aufgabe übernehme ich gerne, Herr Bootsmann!«

      Maiwald nickte mir kurz zu: »Dies und nichts anderes wird von Ihnen erwartet, Matrose Staller.«

      Als am folgenden Tag meine Kameraden abends nach dem üblichen Kasernendrill damit beschäftigt waren, sämtliche Stuben, die Flure, die Duschen und auch die Toiletten aufzuklaren (reinigen), bevor der UvD kam, um sie zu inspizieren, musste ich mich bei Kaleu Wolters melden. Insgeheim fragte ich mich, ob ich etwa künftigen Strafmaßnahmen durch meine Tätigkeit als Aufklarer des Chefs entgehen könnte. Es war nämlich schon mehrmals sehr schlecht um unsere Nachtruhe bestellt gewesen, wenn der UvD in unserer Stube Staub- oder Schmutzreste in irgendwelchen Ritzen gefunden hatte und uns deshalb stundenlang über den Kasernenhof gejagt hatte.

      Den Rat Maiwalds befolgend, ging ich nun mit blank gewienerten Knobelbechern, tadellos gereinigten Fingernägeln und sauberem Drillichanzug in den ersten Stock des Kasernenblocks und klopfte mit unguten Erwartungen an die Tür des Zimmers, hinter der unser allgewaltiger »Schrecken der Nordsee« wohnte.

      Die Tür wurde schwungvoll geöffnet; ich stand stramm, grüßte vorschriftsmäßig und meldete mich zur Stelle. Zu meiner Überraschung benahm sich der Chef so freundlich zu mir, wie ich ihn niemals zuvor gesehen hatte. Er bat mich höflich in sein Zimmer, zeigte mir seine in einem großen Schrank hängenden Uniformen und die zu ihrer Pflege vorgesehenen Kleiderbürsten, seine Stiefel, die eleganten Schuhe der Ausgehuniform und seine sonstigen persönlichen Gegenstände, denen ich in den nächsten beiden Monaten meine Aufmerksamkeit zu schenken hatte. Von Maiwald wusste ich, dass der Chef besonderen Wert auf blankes Schuhwerk legte, und kannte auch schon einige Besonderheiten meines Vorgesetzten, die ich unbedingt beachten sollte. Am Ende unserer infanteristischen Ausbildung in Holland war ich selbst überrascht, wie gut es mir gelungen war, den gestrengen »Schrecken der Nordsee« fast immer zufrieden zu stellen.

      Einige Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1941 – dieser strenge Winter war auch in den Niederlanden ungewöhnlich kalt – wurden wir von einem Ärzteteam der Kriegsmarine sehr gründlich untersucht. Als einer der Letzten stand ich, nur mit meiner Unterhose bekleidet, in der mäßig beheizten Turnhalle der Kaserne vor dem Oberstabsarzt, der mir mit anerkennendem Kopfnicken einen Schein überreichte, auf dem ich als abschließende Bemerkung lesen konnte: »GFU«.

      Vorschriftsmäßig stramm stehend fragte ich: »Bitte Herrn Oberstabsarzt fragen zu dürfen. Was bedeutet GFU?«

      »Mann! Darauf können Sie stolz sein! Dieses Ergebnis steht nur bei sehr wenigen. Mit Ihrem seltsamen Beruf können Sie natürlich nicht in einem Maschinenraum oder an Elektromaschinen dienen. Aber für die seemännische Laufbahn auf einem U-Boot sind Sie gesundheitlich hervorragend geeignet. GFU bedeutet Geschützführer Unterseeboot!« Vor Schreck fiel mir nichts anderes ein: »Aber ich möchte doch über Wasser fahren. Dort unten bekomme ich ganz sicher Platzangst und gefährde dadurch andere. Ich halte mich für die U-Boot-Waffe für völlig ungeeignet.«

      Die bisher zur Schau gestellte Freundlichkeit des Oberstabsarztes war wie weggeblasen: »Schweigen Sie!«, rief er laut und lenkte dadurch die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf uns. »Wo Sie für Führer, Volk und Vaterland eingesetzt werden, bestimmen nicht Sie! Für irgendwelche Sonderwünsche ist die Kriegsmarine nicht zuständig. Wir alle haben unsere Pflicht dort zu erfüllen, wo wir hingestellt werden! Wegtreten!«

      Schon am folgenden Morgen wurden wir am Bahnhof in Bergen op Zoom erneut in einige Eisenbahnwaggons gesetzt. Keiner von uns hatte von der holländischen Stadt viel zu sehen bekommen, denn wegen eines Falls von Scharlach in einem der Kasernenblöcke war wochenlang für alle Ausgangssperre angeordnet worden. Und als jetzt unsere Waggons angekoppelt wurden, herrschte Schneetreiben, das sich wie ein undurchdringlicher weißer Vorhang vor alle Fenster legte, sodass wir wieder nichts sahen.

      Während der zögerlichen Fahrt in östlicher Richtung klarte es auf, und gegen Abend rief einer der Matrosen: »Wir überqueren die Ems! Jungs, wir sind fast schon wieder zu Hause!«

      Bald danach hielten wir. Wir waren in Leer in Ostfriesland. Innerhalb kürzester Zeit waren alle auf dem Bahnhofsvorplatz angetreten und marschierten singend hinter den blau uniformierten Maaten zum Durchgangslager der Kriegsmarine. Es bestand aus einigen umzäunten unscheinbaren Baracken und lag auf freiem Feld außerhalb der Stadt. Nach dem Abendessen wurden wir wie immer auf die Stuben verteilt. Heinz Lücker lag neben mir, und jeder mutmaßte bis spät in die Nacht: Wann und wo würden wir nun wohl endlich für den Feindeinsatz auf Schiffen ausgebildet? Ich war der Stubenälteste und kassierte daher gegen Mitternacht von einem Gefreiten eine üble Rüge, denn auch unsere Stube hätte gefälligst die Nachtruhe einzuhalten: »Euer lautes Geschwafel ist überall zu hören! Schluss damit!«

      Am Morgen stampfte ein Maat mit lauter Trillerpfeife durch den Barackenflur und rief: »Jungs! Seid froh darüber, dass ihr hier bei uns so friedlich schlummern konntet. Unsere Landser holen sich zurzeit in Russland erfrorene Glieder. Alles raustreten! Nach dem Frühstück die grauen Klamotten in tadellosem Zustand abliefern! Ihr werdet neu eingekleidet!«

      Am Mittag bewunderten wir uns in den schmucken blauen Ausgehuniformen gegenseitig. Endlich Ausgang! Endlich wieder freundliche Zivilisten sehen. Endlich wieder mit jungen Mädchen lachen und plaudern … In kleineren Gruppen drängten wir zum Lagertor. Zuvor jedoch wurde jeder von uns in einer Bude neben der Wachstube

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