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Vom Himmel in die Hölle. Christian Wilhelm Huber
Читать онлайн.Название Vom Himmel in die Hölle
Год выпуска 0
isbn 9783475543661
Автор произведения Christian Wilhelm Huber
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ab 1460 gab es in Bamberg keinen Gundloch mehr. Man wandte sich nach Hessen, nach Großalmerode. Dort erschienen Heinrich und Kurt Gundlach 1461 erstmals in den Quellen – dieselben, die das letzte Mal 1453 in Bamberg genannt worden waren. Es gab eine Änderung der Schreibweise des Namens: aus Gundloch wurde Gundlach, was aber keine Absicht gewesen sein muss, sondern auch auf die Nachlässigkeit eines Schreibers zurückzuführen sein könnte.
Großalmerode war das Zentrum der Glasmacher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wie das in zahlreiche Einzelherrschaften gegliederte Deutschland damals genannt wurde. Die Gundlachs mussten sich umstellen und erlernten das Glasmacherhandwerk. Aufgrund ihrer Führungsqualitäten stellten sie ab 1537 ununterbrochen für die nächsten 150 Jahre die Vorstandsmitglieder der Glasmacherzunft. Jeden Pfingstmontag mussten alle Zunftmeister des Reiches nach Großalmerode kommen. Am Vormittag wurde getagt und neue Zunftregeln wurden beschlossen. Schirmherr war der Landgraf von Hessen. Nachmittags briet man einen Ochsen, und es gab ein Volksfest.
Gerhard las tagelang in den Büchern und konnte sich nicht losreißen. Immer weiter vertiefte er sich in die Familiengeschichte und malte sich aus, wie seine Vorfahren ausgesehen hatten, wie sie gesprochen, wie sie sich vermehrt und über halb Deutschland ausgebreitet haben mochten.
Im achten Kirchenbuch stieß er auf das 16. Jahrhundert. An dessen Ende wurde eine neue Wirtschaftsform entwickelt, der Merkantilismus. Um die Wirtschaft zu stärken, sollten möglichst alle benötigten Waren im eigenen Land hergestellt werden. Die absolutistischen Herrscher sorgten mit dirigistischen Eingriffen in die Wirtschaft dafür, dass möglichst viel exportiert und möglichst wenig importiert wurde. Glas gehörte zu den kostspieligen Produkten, sodass sich jeder Herrscher Glashütten in seinem Herrschaftsgebiet wünschte. Die Glasmacher waren gefragte Leute, und viele Fürsten baten die Spezialisten aus Großalmerode, bei ihnen eine Glashütte zu errichten.
So folgten auch die Gundelachs dem Angebot eines Fürsten und zogen 1655 nach Preetz in Holstein. 1705 erhielten sie von der schwedischen Verwaltung in Stettin eine Einladung, im Bereich der Ueckermünder Heide eine Glashütte zu bauen. Dort wuchs auf dem sandigen Boden bestes Brennmaterial: Buchenwald, soweit das Auge reichte. Johann Jürgen Gundelach folgte dem Ruf. Er besaß in Mecklenburg mehrere Glashütten, war Glasmeister, ein Unternehmer großen Stils. Als Standort für sein Heim und seine Manufaktur wählte er den Scharmützel, eine kleine Erhebung, auf der heute die Ferndinandshofer Kirche steht. Zur Herstellung von Glas benötigte man Pottasche, und im Dorf befand sich bereits eine Pottaschebrennerei. Außerdem war Ueckermünde mit seinem Hafen nicht weit, um Glaswaren zu verschiffen.
Am 21. Dezember 1705 wurde in Stettin ein entsprechender Vertrag geschlossen, und 1707 konnte der Betrieb aufgenommen werden. Gundelach kam mit mehreren Verwandten, die ihn auch während seiner Abwesenheit vertraten, und Glashüttenarbeitern. In einer Glashütte wurden verschiedene Handwerker gebraucht: Aufbläser, Strecker, Hohlbläser, Schürer, Werker, Scheiterhauer, Aschefahrer, so hießen die Tätigkeiten. Gebraucht wurden zudem Fuhrleute und Kistenmacher.
Das Unternehmen wurde jedoch schon bald vom Unglück verfolgt: 1708 griff die in Polen wütende Pest auf Ostpreußen über und tötete ein Drittel der Bevölkerung. 1712 drangen russische Soldaten bei der Verfolgung schwedischer Truppen in Vorpommern ein und plünderten die Glashütte vollständig aus. Man flüchtete ins Ausland – drei Kilometer weit, ins benachbarte Mecklenburg. Drei Jahre lag der Betrieb still, bis das Land im Juni 1714 an Preußen fiel. Die Hütte wurde instand gesetzt und die Arbeit wieder aufgenommen. Sie blieb in Betrieb, bis sie 1743 geschlossen wurde.
Gundelach baute auf dem Scharmützel sein Haus, das erste in Ferdinandshof, und die Kirche. Von einer Reise nach Lübeck brachte er einen Taufengel mit. Gundelach starb 1737 in Ueckermünde und wurde in seiner Kirche beigesetzt. Neben ihm wurde Christoph Ludwig Henrici aus Ueckermünde begraben, Königlicher Amtsnotar, Wirklicher Kriegs- und Domänenrat, Amtmann von Königsholland, ein Verwaltungsbezirk, etwas kleiner als der spätere Kreis Ueckermünde.
Preußen beteiligte sich unter Führung König Friedrich Wilhelm I., des Soldatenkönigs, an der Seite Russlands, Dänemarks und Sachsens am Großen Nordischen Krieg gegen Karl XII. von Schweden und bekam 1715 als Kriegsbeute einen Teil Vorpommerns, von der Oder bis zur Peene. Der westliche Teil, »Schwedisch-Pommern«, blieb schwedisch und wurde erst 1815 preußisch. Preußen ging es vor allem um den Hafen Stettin. Gerhard Ehlerts Heimat wurde also preußisch – und bis Meiersberg war es nicht mehr lange hin.
Im Dezember 1747 tobte ein Orkan über Vorpommern, der in der Ueckermünder Heide großen Schaden anrichtete. Prinz Moritz von Dessau, höchster Beamter Pommerns, jüngster Sohn des »Alten Dessauers«, kam in Begleitung des Oberforstmeisters Meier, des höchsten Forstbeamten Vorpommerns mit Sitz in Torgelow. Nach der Besichtigung wurde beschlossen, am Waldrand mehrere Glashütten zu errichten, um die riesige Menge toten Holzes sinnvoll zu verarbeiten.
Ehlerts Heimatdorf verdankt seine Entstehung also einem Naturereignis. Als Gründungsjahr wird 1749 angegeben, weil es am 1. Februar 1749 zum ersten Mal mit dem Namen Meiersberg – zu Ehren des besagten Oberforstmeisters Meier – schriftlich erwähnt wurde. Sicher ist, dass bereits 1748 mit dem Bau der Glashütte begonnen wurde. Auf deren Grundstück eröffnete Gerhards Großtante Anna Koppermann, Ehefrau von Otto Koppermann, dem jüngsten Bruder seines Großvaters Albert Koppermann, um 1900 einen Gemischtwarenladen, damals auch Kolonialwarengeschäft genannt. Um die Waren für ihr Geschäft einzukaufen, fuhr sie regelmäßig nach Stettin.
Eine bemerkenswerte, tatkräftige Frau, dachte sich Gerhard beim Lesen der schwergewichtigen Lektüre. Denn Gerhards Großtante bewerkstelligte alles allein. Ihr Mann arbeitete mit vier anderen Koppermanns, darunter Gerhards Großvater, seit 1885 in Berlin als Maurer am Bau des Reichstagsgebäudes. Es war nicht das letzte Mal, dass die Familie Ehlert und ihre Vorläufer an epochalen deutschen Monumenten arbeiteten oder an epochalen Ereignissen teilhatten.
Ihren vier Kindern schärfte Großtante Anna ein, auf dem Hof nicht zu buddeln, weil sich dort noch Relikte der aufgelassenen Glashütte in Form scharfkantigen Glasflusses befinden könnten. Das erzählte später ihre jüngste Tochter Wally dem kleinen Gerhard während eines Besuchs in Göttingen.
Annas Geschäft ging irgendwann in andere Hände über, doch als Junge war Gerhard des Öfteren bei seiner Großtante zu Besuch. Und beim Lesen der Kirchenbücher erinnerte er sich wieder an all die verlockenden Gerüche, die ihm im Geschäft der Tante Anna in die Nase gestiegen waren. Er spürte den unverwechselbaren Geruch von Holzpantoffeln, Stoffen, Sauerkraut, Heringen, Peitschen für kleine Jungs und Kautabak, Priem genannt. Und eine Melancholie ergriff ihn, sodass er minutenlang innehielt.
Irgendwann schlug er die nächsten Seiten auf. Da las er von Glasarbeitern seiner Familie, die sich in dem Dorf ihre reetgedeckten Holzfachwerkhäuser errichteten. Das Reetdach war damals das Dach armer Leute, heute ist es die wohl teuerste Art der Eindeckung. Die Glasarbeiter hatten eine kleine Landwirtschaft von fünf Hektar Grund, auf dem sie Roggen und Kartoffeln anbauen konnten, eine Wiese, die das Heu für die Kühe lieferte, drei Schweine, zwei Kühe und Hühner. Die landwirtschafliche Arbeit besorgten die Frauen, die außerdem noch ihre vielen Kinder aufzogen. Manchmal half noch ein Großelternteil im Haus mit. Der arbeitsfreie Sonntag war für die Männer in der kleinen Landwirtschaft fast das ganze Jahr über ein voller Arbeitstag.
Das Holz des großen Orkans von 1747 war knapp zehn Jahre später bis auf wenige Reste verarbeitet, und die Glashütte wurde geschlossen. Die meisten Arbeiter blieben, denn sie lebten längst nicht mehr ausschließlich von ihrer Arbeit, sondern hatten eine kleine Landwirtschaft aufgebaut und waren Selbstversorger. Bei den meisten reichten deren Erträge freilich nicht zum Lebensunterhalt, und so mussten sie andere Berufe erlernen. Damit entwickelte sich aus dem Dorfteil Meiersberg eine Handwerkersiedlung. Die Herkunft der Glasarbeiter ist nicht genau bekannt, doch es ist anzunehmen, dass viele aus dem Südwesten Deutschlands kamen.
Der andere Teil des Ortes, ein Bauerndorf gleich im Anschluss am westlichen Rand des bereits bestehenden