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glaubst doch nicht, dass ich seine kriminalistischen Neigungen unterstütze? Ich habe ihn gebeten, sich mehr um seine Schulaufgaben zu kümmern.«

      »Das hast du«, meinte Alexander begütigend. »Nur tut er es nicht. Das Schicksal des kleinen Tim fasziniert ihn eben viel mehr als Latein und Mathematik. Ich kann das verstehen.«

      Aus Alexanders Worten hatte die Zuneigung gesprochen, die er für seinen Stiefsohn empfand. Denise war glücklich darüber. »Wir wollen nicht mehr darüber reden, Alexander«, bat sie leise. »Dieser Abend soll uns ganz allein gehören.«

      »Ich wüsste nicht, was mir lieber wäre.« Alexander führte seine Frau auf die Tanzfläche zurück, denn eben begann die Musik erneut zu spielen. »Manchmal bin ich ärgerlich darüber, dass wir so wenig Zeit füreinander haben. Dann aber sehe ich wieder ein, wie gut es ist, dass jeder von uns eine Aufgabe hat, die ihn ausfüllt. Du in Sophienlust und ich auf Gut Schoeneich. Oft frage ich mich, wie du das alles schaffst, Familie und Sophienlust.«

      »Es ist ganz einfach, weil du mir dabei hilfst.« Glücklich schmiegte sich Denise in den Arm ihres Mannes, drehte sich mit ihm im Takt der Musik.

      *

      Die Pause zwischen der ersten und zweiten Schulstunde dauerte nur fünf Minuten. Trotzdem wurde in Nicks Klasse unglaublich getobt. Da flogen Geschosse aus Papier, da wurden Duelle mit Linealen ausgetragen, da zielte ein kleiner Rothaariger mit einer Wasserpistole auf seine Kameraden. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.

      Nick kümmerte sich nicht darum. Er sah nachdenklich aus dem geöffneten Fenster. Wieder einmal dachte er an das mysteriöse Schicksal des Findelkindes Tim.

      Ein Klassenkamerad stellte sich neben ihn. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er befremdet.

      Nick gab keine Antwort. Seine Aufmerksamkeit galt einem schweren Wagen, der von einem Chauffeur in Uniform gefahren wurde. Als Junge wusste er natürlich, dass dies eines der teuersten Modelle war, die der Markt bot. Ein schlankes blondes Mädchen stieg aus, die Schultasche in der Hand.

      »Wer ist denn das?«, fragte Nick seinen Kameraden gleichgültig.

      »Das weißt du nicht?«

      »Na, hör mal. Unser Gymnasium hat mehr als tausend Schüler. Da kann man doch wirklich nicht jeden kennen.« Nick beobachtete, wie das Mädchen mit raschen Schritten den Vorplatz überquerte. Das lange blonde Haar flog im Wind.

      »Das ist die Tochter vom alten Langenburg. Ihm gehört das Verlagshaus. Du weißt schon.«

      »Hast du Langenburg gesagt?« Nicks Interesse war plötzlich hellwach. »Welche Klasse?«

      »Woher soll ich das wissen? Oberstufe.«

      Nick stürmte bereits zur Tür des Klassenzimmers.

      »Das ist aber nichts für dich. Sissi ist doch wesentlich älter als du!«, rief der verblüffte Mitschüler ihm nach.

      Nick hörte das nicht mehr. Im Treppenhaus traf er Elisabeth Langenburg. »Ich wollte dir nur sagen, dass es eurem Baby gut geht«, sprach er das Mädchen an.

      Sissi blieb stehen, zog die Augenbrauen hoch und sah Nick, der ihr den Weg verstellte, verständnislos an.

      Nick wurde verlegen. Seine Ohren wurden glühend heiß, seine Wangen verfärbten sich rot. »Tim …, Tim meine ich«, stotterte er verlegen. Er kam sich plötzlich richtig dumm vor. Warum musste er auch ständig an das Findelkind denken? Dieses hübsche junge Mädchen, das aus der Nähe betrachtet noch weitaus reizvoller war, als er zunächst angenommen hatte, interessierte sich bestimmt ebensowenig für Tim wie Frau Langenburg selbst.

      »Tim?«, fragte Sissi, plötzlich hellhörig geworden.

      »Das Findelkind, das deine Mutter zu uns gebracht hat.« Nick ärgerte sich über sich selbst. Dort drüben kam sein Lateinlehrer. Was würde er denken, wenn er ihn hier bei einem Mädchen der Oberstufe stehen sah? Außerdem würde es eine empfindliche Strafe geben, wenn er nicht rechtzeitig im Klassenzimmer war. »Ich muss gehen. Der Unterricht beginnt gleich«, stieß er hastig hervor und rannte ohne weitere Erklärung davon.

      Sissi stand noch einige Sekunden regungslos und schaute ihm nach. Sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, dem dunkelhaarigen Jungen zu folgen. Eben verschwand er in einem Klassenzimmer, das fast gleichzeitig von Dr. Rieder, dem Lateinlehrer, betreten wurde.

      In der nächsten Schulstunde war Elisabeth Langenburg äußerst unaufmerksam. Sie hörte gar nicht, was die Biologielehrerin von der Zellbildung erzählte. Und als sie einmal aufgerufen wurde, schrak sie zusammen und wusste keine Antwort. Ungeduldig wartete sie auf das Ende der Stunde. Als es soweit war, verließ sie als erste den Biologiesaal. Sie rannte die Treppen hinunter und wartete vor Nicks Klassenzimmer.

      Es war große Pause. Jetzt würde sie mehr Zeit haben, sich mit dem großen dunkelhaarigen Jungen zu unterhalten. Sie erkannte ihn sofort wieder. »Bitte, erzähle mir mehr über das Findelkind«, drängte sie.

      Nick biss herzhaft in sein Vesperbrot und kaute mit vollen Backen. »Es hat schon dreihundert Gramm zugenommen und ist kerngesund. Frau Dr. Frey meint, Schwester Regine darf es nicht mehr so gut füttern, weil es sonst zu dick wird«, berichtete er.

      »Und meine Stiefmutter hat es zu euch gebracht?«, erkundigte sich Sissi, die nun überhaupt nichts mehr verstand.

      »Weißt du denn das nicht?«

      Sissi schüttelte den Kopf. »Sie hat nichts davon erzählt. Wo hat sie das Kind denn gefunden? Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Wie sieht es aus?« Die Fragen sprudelten nur so aus Eli­sabeth heraus. Ihre blauen Augen glänzten lebhaft.

      »Moment, Moment!« Abwehrend hob Nick die Hände. »So viele Fragen kann ja keiner auf einmal beantworten. Also, sie hat es in Österreich, am Attersee, gefunden. Und es ist ein Junge. Da er Tim heißt, dürfte das ja auch klar sein. Er ist etwa fünfzig Zentimenter groß, hat dicke Bäckchen, dunkle Augen …«

      Weiter kam Nick nicht. »Das ist doch nicht wahr!«, unterbrach Sissi ihn aufgeregt. »Sie will am Attersee ein Baby gefunden haben?«

      Nick und das Mädchen wurden von den nachdrängenden Schülern weitergeschoben. Die Menge strebte zum Schulhof. Da die Gänge des Schulhauses nicht sehr breit waren, gab es kein Ausweichen, kein Stehenbleiben. Sissi und Nick gelangten ins Freie.

      Der Junge zog ein weiteres Stück Brot aus der Tasche. Doch Elisabeth hätte an diesem Morgen keinen Bissen hinuntergebracht. Nur mühsam beherrschte sie sich, unterdrückte ihre Nervosität.

      »Frau Langenburg hat uns versichert, dass alles seine Richtigkeit habe. Sie habe den Fund polizeilich gemeldet und in Österreich hinterlassen, dass sie das Kind bei uns unterbringen werde.« Nick freute sich über Sissis Interesse. Endlich hatte er jemanden gefunden, mit dem er über die Mangelhaftigkeit dieser Angaben diskutieren konnte. Zufrieden kaute er sein Schulbrot.

      »Warum zu euch? Warum hat sie es nicht nach Hause gebracht, das Baby?« Sissis Herz schlug unregelmäßig und laut. Sie ballte die schmalen Hände zu Fäusten, als wollte sie mit einem unsichtbaren Feind kämpfen.

      »Sie hat es nach Sophienlust gebracht, weil sie der Ansicht ist, dass Tim dort gut versorgt wird.«

      »Ist das nicht ein Kinderheim?«

      »Ein sehr gutes sogar«, erwiderte der Junge stolz. »Manche Leute sagen, es ist das Haus der glücklichen Kinder. Meine Urgroßmama hat es mir vererbt. Bis ich erwachsen bin, verwaltet es meine Mutti für mich. Früher war es ein Gut. Aber die Urgroßmama hat bestimmt, dass ein Heim für elternlose Kinder daraus werden soll. Und das war gut so. Du glaubst ja gar nicht, wie schön es bei uns ist.«

      Sissis Nervosität war jetzt offensichtlich. Doch Nick wusste sie nicht zu deuten.

      »Darf ich …, darf ich Tim einmal sehen? Ein einziges Mal nur?«, keuchte das Mädchen erregt.

      »Warum nicht? Du kannst mich heute Nachmittag besuchen«, antwortete Nick unbefangen.

      »Kann

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