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      Wieder einmal war Nick unbändig stolz auf seine Mutti. Jung und hübsch sah sie aus in dem hellen Leinenkleid, das einen so wundervollen Kontrast zu ihrem glänzenden dunklen Haar bot. Eben ging sie die Aufstellung durch, die Magda ihr gebracht hatte.

      »Seit Tim im Haus ist, kann man mit den Mädchen nicht mehr reden. Sogar Pünktchen ist nicht ansprechbar«, beschwerte sich der Junge.

      Denise von Schoenecker sah von ihrer Liste auf. »Du musst berücksichtigen, dass wir schon lange kein Baby mehr hatten«, meinte sie lächelnd. »So ein Säugling weckt in den Mädchen Muttergefühle. Das ist ganz natürlich und letzten Endes auch erfreulich, nicht wahr?«

      »Wie lange bleibt Tim eigentlich?«

      »Ich weiß es nicht«, antwortete Denise wahrheitsgemäß.

      »Glaubst du eigentlich, dass Frau Langenburg ihn gefunden hat?« Nick hatte auf der Schmalseite des Schreibtisches Platz genommen und baumelte ungeniert mit den Beinen.

      »Warum sollte Frau Langenburg nicht die Wahrheit sagen?« Denise hätte nie zugegeben, dass auch sie längst an den Angaben der Verlegergattin zweifelte.

      »Weil das alles doch recht merkwürdig klingt. Sie findet in Österreich ein Kind und bringt es ausgerechnet zu uns. Warum?«

      »Man hat ihr erzählt, dass es die Kinder bei uns besonders gut haben. Deshalb.« Denise wandte sich wieder ihrer Aufstellung zu. Doch wenn sie geglaubt hatte, Nick damit zum Gehen zu veranlassen, dann hatte sie sich gründlich getäuscht.

      »Wenn sie so besorgt um Tim ist, weshalb kümmert sie sich dann jetzt nicht mehr um ihn? Seit einer Woche ist er hier, und sie hat sich nicht mehr sehen lassen. Hat sie wenigstens angerufen?«

      Denise schüttelte den Kopf. »Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es dem Kleinen an nichts fehlt. Alles andere geht uns nichts an. Du solltest deine Aufmerksamkeit mehr den lateinischen Vokabeln schenken, Nick.« Ein leiser Vorwurf schwang in diesen Worten mit. Nick hatte über solchen Dingen schon mehr als einmal seine Schularbeiten vergessen. Das äußerte sich dann in schlechten Noten und bescherte eine Menge Ärger.

      »Du hast recht, Mutti«, gab der Junge leise zu. In der letzten Woche hatte er tatsächlich kaum etwas gelernt. Einmal beschäftigte ihn Pünktchens veränderte Haltung, und zum anderen gab ihm das Rätsel um den kleinen Tim immer neue Probleme auf.

      »Von ihrer nächsten Reise nach Österreich bringt uns Frau Langenburg das Protokoll der polizeilichen Ermittlungen mit. Dann sind ihre Angaben bestätigt, und alles ist in Ordnung.« Denise sagte das mehr, um sich selbst zu beruhigen. Denn auch sie machte sich Gedanken über das Findelkind Tim. Dr. Anja Frey, die Hausärztin von Sophienlust, hatte den Jungen untersucht und festgestellt, dass er nicht älter als zwei Tage gewesen sein konnte, als Frau Langenburg ihn nach Sophienlust gebracht hatte. War es Zufall oder Unwissenheit, dass Frau Langenburg ausgesagt hatte, der Kleine sei eine Woche alt?

      »Und wenn sie es vergisst? Ich meine, absichtlich?«, fragte Nick in Denises Gedanken hinein. »Vielleicht existiert ein solches Protokoll gar nicht.«

      »Wie kommst du denn darauf?« Erstaunt sah Denise ihren großen Sohn an. Dabei stellte sie fest, dass Henrik, der Junge aus ihrer Ehe mit Alexander von Schoenecker, seinem Bruder immer ähnlicher wurde, obwohl Nick aus ihrer ersten Ehe stammte. Nicks Vater war verunglückt, als der Junge noch gar nicht geboren war.

      »Warum hat Frau Langenburg das Protokoll nicht gleich mitgebracht?«, fragte Nick zurück.

      »In solchen Fällen ist man immer aufgeregt und vergisst leicht etwas«, belehrte die junge Frau ihn, obwohl sie von ihrer These selbst nicht überzeugt war.

      »Und wenn sie Tim nun jemandem weggenommen hat?«, bohrte der Junge weiter.

      Denise schüttelte missbilligend den Kopf. »Wie kannst du so etwas behaupten? Welchen Grund sollte sie dazu haben?«

      »Ich behaupte es ja nicht. Aber schließlich muss man doch an alle Möglichkeiten denken. Weißt du, Mutti, ich habe einfach das Gefühl, dass irgendetwas mit Tim nicht stimmt. Alle mögen ihn so gern. Nur seine eigene Mutter nicht? Das ist doch komisch.«

      »Man weiß ja nicht, in welcher Lage sich Tims Mutter befand.«

      Nick fuhr sich sorgenvoll über die Stirn. »Schau, als ich zur Welt kam, warst du auch allein, und niemand kümmerte sich um dich. Hättest du mich deshalb auf eine Bank gelegt und einfach im Stich gelassen?«

      Denise lächelte wehmütig. Nur ungern erinnerte sie sich an die schlimmste Zeit ihres Lebens. Ihre reichen Schwiegereltern hatten sie nicht anerkannt, weil sie Tänzerin gewesen war, und ihr Mann, der so jung gestorben war, hatte ihr nichts hinterlassen können. Oft hatte sie damals nicht gewusst, wovon das Baby und sie selbst am nächsten Tag leben sollten.

      »Es reagieren nicht alle Menschen gleich, Nick. Auch nicht alle Mütter.«

      »Man müsste diese Frau finden.« Nick trommelte nervös mit zwei Fingern auf die Schreibtischplatte. Schon oft hatte er daran gedacht, dass er das Rätsel um Tim bestimmt lösen könnte, wenn das Kind in der Umgebung von Sophienlust gefunden worden wäre. Aber so konnte er nichts tun. Nur überlegen und grübeln.

      »Das ist nicht unsere Aufgabe, Nick.«

      »Aber vielleicht gibt es irgendwo in Östereich eine Frau, die ihr Kind sucht. Sie wird natürlich nicht daran denken, dass dieses Kind ins Ausland gebracht worden sein könnte. Und deshalb wird sie es auch nicht finden.«

      Denise legte sanft die Hand auf den Arm ihres Ältesten und sah ihm direkt in die Augen. »Die Fantasie geht mit dir durch, mein Großer. Bitte, denk nicht mehr darüber nach. Beschäftige dich lieber mehr mit der Schule.«

      Nick wich dem Blick seiner Mutti aus und nickte ergeben.

      Jetzt flog die Tür des kleinen Büros auf, Henrik wirbelte herein. »Mutti«, schrie er triumphierend, »stell dir vor, Tim hat zweihundert Gramm getrunken! Das Milchfläschchen ist ganz leer.« Ohne Nick zu beachten, rannte er zu seiner Mutti und schmiegte sich liebebedürftig an sie.

      »Wir bekommen lauter Experten in Babypflege«, spottete Nick, der über die Störung ein bisschen ärgerlich war.

      »Nicht wahr, wir behalten Tim? Er gehört ja niemandem. Also bleibt er bei uns.« Beifallheischend sah Henrik zu seiner hübschen Mama auf.

      Denise, zu deren Grundsätzen es gehörte, immer Zeit für ihre Kinder und die kleinen Schutzbefohlenen von Sophienlust zu haben, nahm ihren Jüngsten liebevoll in den Arm.

      »Woher willst du eigentlich wissen, dass Tim niemandem gehört?«, erkundigte sich Nick und sah seinen kleinen Bruder dabei herausfordernd an.

      *

      Der Beifall im Festsaal der Sorbonne galt Frank Brehm. Als jüngster Jura-Student hatte er sein Examen mit Auszeichnung bestanden. Aus den Händen des weißhaarigen Präsidenten nahm er eine Auszeichnung entgegen, die nur alle paar Jahre verliehen wurde. Eine Auszeichnung für überdurchschnittliche Leistungen, für ein enormes Wissen.

      Frank zu Ehren hielt der Dozent die Festansprache in deutscher Sprache. Auch das war ungewöhnlich. Die Studenten horchten auf, sahen voll Respekt auf den großen schlanken Deutschen, der außerordentlich bescheiden wirkte. Er hatte ein schmales blasses Gesicht, und sein Anzug war längst aus der Mode. Auffallend waren nur die klugen dunklen Augen und das lockige braune Haar, das dem markanten Gesicht des jungen Mannes etwas Heiterkeit verlieh.

      Die grünen Nadelbäume in Kübeln verdeckten zum Saal hin Franks tadellose, aber etwas steife Verbeugung. Ruhig und ernst ging er auf seinen Platz zurück. Kein Lächeln flog über sein Gesicht. Man konnte nicht erkennen, ob er stolz war, ob er sich überhaupt freute.

      Es folgten einige Ansprachen von Professoren und Studenten in französischer Sprache. Eine Melodie von Haydn, gespielt von einem ausgezeichneten Studentenorchester, beendete die Feierstunde.

      Die Ehrengäste in ihren dunklen Anzügen erhoben sich von ihren Plätzen. Ihnen folgten Studenten in verwaschenen

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