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auf sich hält, muss dort hinein. Um stramme zweihundertfünfzig Rupien leiste ich mir im Dress Circle den »ersten« Platz. Ein sündteures Vergnügen, aber es ist jeden Cent wert. Das Kino ist gesteckt voll. Es wird gegessen und getrunken, die Stimmung ist bestens. Plötzlich schnellen alle wie auf ein geheimes Zeichen von ihren Plätzen auf: Über die riesige Leinwand flattert die indische Fahne. Mit einem Mal herrscht Ruhe im Saal. Ehrfurchtsvoll, die Hand am Herzen, lauschen wir der Hymne. Danach geht’s los: Party! Der Streifen heißt Aiyaary und spielt in indischen Geheimdienstkreisen. Die Sprache ist Hindi, ich verstehe Bahnhof, kein Wunder bei meinem heutigen Programm. Egal, ich bin der Zuschauer wegen hier und das entschädigt das Fehlen jeglichen Fachwissens. Mein erster Tag in Indien geht zu Ende, wie er begonnen hat: in einem Bollywood-Märchen.

       Die Kuhherberge von Panjrapole

      Mumbai, 17. Februar

      Ich sitze im Study Center des Municipal Children’s Park, so wie viele rund um mich. Der Platz der Stille inmitten dieser wirbeligen Metropole ist der Familie Shekhar zu verdanken, in zweiter Generation tätig bei der Stadtverwaltung Mumbais. Hier wird gelesen, geträumt und geschrieben. Das ist was für mich. Dahinter befindet sich ein riesiger Kinderspielplatz.

      Was immer ich in Südostasien gesehen habe, es wird in den Schatten gestellt von dem, was ich in dieser Stadt erlebe. Mumbai ist unglaublich, in jeder Beziehung: Grell und laut und bunt und voller Leben. Mumbai ist der Wahnsinn! Hier nimmt niemand auf niemanden Rücksicht, am wenigsten auf sich selbst. Schon die Straßenseite zu wechseln, ist Abenteuer pur. Kreuz und quer strömen die Kohorten. Die Mutigen lassen sich treiben, inmitten von Lastenträgern, Kindern und Bettlern. Sie schieben, schubsen, stoßen, drängeln. Man stolpert vorbei an Krüppeln, Heiligen, Unberührbaren. Man plumpst in Löcher, gerät an Kühe, Ziegen und Hunde, verheddert und verkeilt sich in Massen von Menschen, von denen jeder, sein Ziel vor Augen, Gleiches tut. Handkarren, beladen mit meterlangen Stangen, Rohren, Eisenteilen sind ebenso unterwegs wie Fahrräder, Busse, Taxis, Motorräder. Die Polizisten, dem Ganzen nicht gewachsen, pfeifen und tröten, was das Zeug hält. Sie fuchteln mit den Armen, rollen die Augen, wackeln mit den Köpfen und schreien sich die Kehlen heiser, es nützt nichts. Der Moloch gehorcht eigenen Gesetzen. Der Starke gewinnt, der Schwache gibt nach. Einen Tag in Mumbai herumzumarschieren heißt, sich durchs Fegefeuer zu kämpfen. Es gibt nichts Aufregenderes, als auf eigene Faust in Maharashtras Hauptstadt unterwegs zu sein. Überlebenskampf pur.

      Den haben die Kollegen meines heutigen Zieles bereits hinter sich. Ich marschiere die Maharshi Karve Road entlang, in Richtung Sonapur, einer Art Open-Air-Krematorium. Gegründet und gespendet wurde die gespenstische Location zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Mr. Jagannath Shankarseth, Millionär und Menschenfreund, der seinen Landsleuten die ewige Ruhe geschenkt hat. In diesem »Vorraum des Schlafes« wird in Schichten gearbeitet, die Öfen brennen Tag und Nacht. Über den Holzstößen sind riesige Abzugshauben angebracht, wie sie in Großküchen hängen. Nur dass das Grillgut ungleich delikater ist. Dicke, runde Scheite, gut eineinhalb Meter lang, darüber das schmälere Zündholz. Die Toten sind in Tücher gehüllt, um den Hals tragen sie Blumenschmuck. Hindus müssen innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach ihrem Tod verbrannt werden – und das öffentlich. Die Stimmung der Trauergemeinde ist alles andere als gedrückt. In der Regel bedeutet der Eintritt in ein neues Leben eine zweite Chance. Und die darf ruhig auch gefeiert werden, besonders wenn die Vergangenheit nur mäßig komisch war.

      Mehr als eine Steinbüste ist von Mr. Shankarseth nicht übrig, die aber ist gut erhalten. Allerdings dreht er seinen Schützlingen den Rücken zu. Hat er schon zu viel gesehen? Dabei hätte er seine Freude daran, die Branche brummt. Eine Lagerhalle ist bis unters Dach mit den unterschiedlichsten Hölzern befüllt. Und das Material ist alles andere als billig. Weitaus günstiger für die Hinterbliebenen ist das nahe gelegene Electric Crematorium. Hier wird die Sache umweltfreundlicher erledigt, allerdings auch weniger romantisch.

      Die konventionelle Verbrennungszeremonie in Mumbai geht so vor sich: Ein junger Mann umkreist den Scheiterhaufen. Auf der Schulter trägt er einen Tonkrug, aus dem Wasser tropft. Bei der zweiten Umrundung wird das Leck größer geschlagen, bei der dritten noch etwas mehr. Danach landet der Krug am Boden, er zerbricht. Das irdische Leben hat ein Ende. Jetzt beginnt die Einäscherung. Am nächsten Tag kommen die Angehörigen und holen die Asche ab. Sie wird in ein Gefäß gefüllt, auf einen Fluss gesetzt und die symbolische Reise ins nächste Leben beginnt.

      Einige Männer hocken in dem Bereich, der den Trauernden vorbehalten ist. Ich nicke und nehme Platz. Einer der Herren blickt mich feindselig an. Seine Augen laufen Gefahr, aus den Höhlen zu treten. »That’s life«, brummt er, angesichts des Todes. Die anderen brüllen vor Lachen, und ich verstehe auf sehr einfache Weise etwas mehr vom Leben.

      Zurück aus dem Reich der Toten nähere ich mich dem Mumbadevi Tempel. Er ist jener Göttin geweiht, die der Stadt ihren Namen gibt. Ihr will ich meine Reverenz erweisen, ich denke, das gehört sich so. Im Innenhof stehen ihre unmittelbar Untergebenen, die heiligen Majestäten – gut genährte Kühe. Gläubige versorgen sie mit frischem Gras. Die fetten Damen blinzeln mich träge an. Vorsichtshalber murmle ich einer von ihnen ein nettes Wort ins Ohr, man weiß ja nie. Draußen kann ich mich kaum der Liebesbezeugungen eines Krätzigen erwehren, der mich in einen heiligen Bund aufnehmen will. Er umklammert mein rechtes Handgelenk und ist dabei, mir dreckige rote Wollbänder umzubinden, als äußeres Zeichen innerer Reinheit. Ich habe Glück, eine Woge Menschenleiber spült mich in die Bhuleshwar Road, wo ich in einem Marktgewirr von Tieren und Waren aller Art lande. Zu beiden Seiten der Straße: Tempel. Keinen davon nehme ich wahr, zu sehr nimmt mich das hiesige Leben gefangen.

      Ein Gewürzladen zieht mich an: »Mr. Motilal Masalawala« steht in roten Lettern über dem Geschäft, und ich lese in meinem »gescheiten Buch«, dem Lonely Planet, dass der Gewürzladen eine Anlaufstelle heimischer Hausfrauen in Sachen Gaumenfreuden ist. Ich schnuppere mich durch die Regale. Mr. Motilal nickt mir zu und bleckt dabei seinen zahnlosen Mund. Ich erwidere den Gruß – allerdings mit Zähnen. Zwei Herren unterschiedlicher Welten nicken mit den Köpfen. Der Duft göttlicher Gewürze bewirkt Völker verbindendes Einverständnis.

      In der nächsten Gasse stolpere ich über eine Seltsamkeit: die »Kuhherberge von Panjrapole«. Was hat man sich darunter vorzustellen? Sehr einfach, hier werden Heiligtümer gemästet. Von wem? Von zahlenden Gläubigen. Und davon gibt’s jede Menge. An der Kassa, gleich neben dem Eingang, gibt man, was man gerne gibt. Entsprechend der Donation rollen Kugeln, geformt aus Rohrzucker und Getreide, in eine Blechbüchse. Man könnte auch einfach nur Gras kaufen, aber das ist zu banal. Der Kugelverkäufer verbietet mir zwar, zu fotografieren (den Gefallen kann ich ihm nicht tun, mein Verlag hätte was dagegen), verspricht aber als Folge der Fütterung spirituelle Reinigung. Wer kann das nicht gebrauchen? Ich nähere mich einem der Pferche und suche mir eine entsprechend dünne Kuh aus.

      »Where are you from?« Ein Kindergesicht strahlt mich an. »Australia? You have money in Australia?« Ohne Umwege sind wir am Punkt. Rajiv heißt der Stöpsel. Hinter meiner biederen Maske vermutet er den alten Rothschild. Gefehlt. Aber wie ihm das beibringen? Rajiv wird deutlicher.

      »Money!«

      »And what do you give me?«, frage ich.

      »Babys«, sagt er und deutet hinüber zum gegenüberliegenden Stall. Dort stehen die heiligen Bäuche. Gleich daneben ist die Säuglingsstation. Jede Menge Winzlinge purzeln herum.

      »Yesterday born. Money!«

      Unter seiner Anleitung füttere ich die Frischlinge und fühle, wie sich meiner eine innere Kraft zu bemächtigen beginnt. Rajiv sieht mich an. Ich zücke die Börse, eine kleine, schmutzige Hand fährt dazwischen und holt ein paar Rupien heraus. Gleich darauf ist der Kleine wieder da, in der Blechdose rollen vier Getreidekrapfen, das Restgeld steckt in seinem Hosenbund. Und er hat jemanden mitgebracht: seine Freundin Tina. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass ein australischer Bankier die Säuglingsstation besichtigt.

      »Money!«

      Rajiv ist ein harter Fall.

      »He is mental«, flüstert mir Tina zu und verdreht die Augen.

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