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hatte, zog sie ihre Tochter ruckartig zu sich. Gestenreich entschuldigte sie sich und verabschiedete sich dann.

      Als ich mich von der Frau abwandte, stand Lechat bereits am Kiosk. »Das meinte ich.« Verärgert knallte er ein paar Euromünzen auf den Tresen.

      »Ich verstehe nicht ganz?«

      »Na, Pia Lehnens blöde Anspielungen auf den Fall.«

      »Na ja, so dramatisch fand ich das jetzt nicht. Aber woher kennt sie Sie überhaupt?«, fragte ich.

      »Weil Nadja, die Kleine von gerade eben …«, begann Lechat, bevor er zwei Päckchen der blauen Gauloises bestellte und sich dann wieder mir zuwandte, »… den Schülerkalender des Jungen gefunden hat.«

      »Die Kleine mit dem Hund?«, fragte ich erstaunt.

      »Ja, sag ich doch. Nadja Lehnen.«

      »Solange die beiden die Angelegenheit diskret behandeln, ist doch alles gut. Ich denke, wir sollten das Ganze nicht überbewerten«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

      Lechat stoppte unvermittelt, baute sich vor mir auf und fixierte meine Augen. »Ich fürchte, ich muss Ihnen was erklären.«

      Sosehr ich Lechat in der kurzen Zeit auch schätzen gelernt hatte, nach einer Standpauke von einem pensionierten Kleinstadtpolizisten stand mir wirklich nicht der Sinn. Mein Blick wanderte unweigerlich wieder zu seinen orangegelben Barthaaren, die sich mit seinen Lippen auf und ab bewegten.

      »Was glauben Sie, warum wir hier sind? Weil wir so tolle Ermittler sind? Kann sein. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Ich sag Ihnen, warum wir hier sind: weil den Job sonst niemand machen wollte. Wir sollen in dem Fall ermitteln, klar. Aber in erster Linie sollen wir hier kein Trara machen. Damit hier nicht wieder zwanzig Pressewagen antanzen. So wie das alle paar Jahre geschieht, wenn die Haarspange eines Opfers gefunden wird.«

      Das war deutlich.

      Was ich befürchtet hatte, war also tatsächlich wahr: Der Fall war gar kein Fall.

      Danke, Ron, du Penner!

      Mir blieb nur Galgenhumor.

      »Wir sind also die Trottel vom Dienst«, resümierte ich.

      »Wenn Sie mir einen Vergleich mit der Tierwelt erlauben, Herr Donker: Raaffburg ist eine ausgeschlachtete Sau, zu der die Aasgeier auf ihrer Sommerlochroute immer wieder gern zurückkommen. Die Einwohner Raaffburgs sind so oder so die Leidtragenden.«

      Die Skepsis gegenüber Fremden hatte ich im Bistro ja bereits am eigenen Leib erfahren dürfen.

      »Was hat Karls Ihnen erzählt? Dass das ein großer Fall ist? Es ist ein großer Fall. Aber nur, wenn wir den Jungen finden. Tot oder lebendig.«

      Ich war also mehr Krisenmanager als Kriminalermittler.

      Der Krisenmanager von Raaffburg.

      Wäre ich nicht selbst betroffen gewesen, ich hätte laut aufgelacht. Stattdessen setzte ich mich auf eine Bank und starrte benommen auf den Boden. Die kleinen rauen Kieselsteine waren ein Abbild meines Seelenzustands. Zerbrochen in kleine Stücke.

      Ich, der ehemalige Fels in der Brandung.

      Zuerst die Trennung auf Zeit von Elise. Dann, inmitten des Auszugs und des ständigen Auf und Abs zwischen Verlustangst und Hoffnung, starb mein Kollege Tim. Und die Zerschlagung des algerischen Clans gleich mit ihm. Den Gipfel der Enttäuschung und Bitternis bescherte mir dann aber wieder Elise. Sie vögelte mit einem wildfremden Typen, unsere Ehe war kaputt. Und wenn es ganz schlecht für mich lief, würde ich auch noch meine Tochter verlieren.

      Als wäre das alles nicht genug, schickten meine tollen Chefs mich ins Sankt Obernimmerland, wo ich den Parkplatzwächter spielen durfte.

      Was für eine Scheiße!

      Kopfschüttelnd hielt ich den Blick gesenkt. Doch je länger ich die Steine anschaute, desto wütender wurde ich.

      Verdammt! Du bist nicht umsonst hergekommen!

      Ich hatte die Schnauze voll davon, mich selbst zu bemitleiden.

      »Lassen Sie uns den verfluchten Jungen finden!«, raunte ich.

      Lechat blickte mich verwirrt an, als ich aufstand.

      »Und lassen Sie die Leute tuscheln. Darauf haben wir sowieso keinen Einfluss.«

      Lechat nickte und presste entschlossen seine Lippen zusammen. Dann warf er die noch qualmende Zigarette in den Kies.

      »Wir werden ihn finden«, sagte er schließlich, als wollte er sich dadurch selbst ermutigen.

      Entschlossen hob ich den Kopf. Meine Augen fixierten die schreienden Graffiti-Gesichter, mit denen der Kiosk versehen war. Und mir war, als erkannte ich darin den vermissten Jungen.

      8

      Sie fuhr nicht gern weite Strecken. Die Fahrt von Köln nach Raaffburg war schon zu lang. Der Stau auf der A 4 und die warme Luft im Auto hatten sie müde werden lassen. Immer wieder klappten ihre Lider zu. Und am liebsten hätte Ella sie ganz zufallen lassen.

      Immerhin verlief der Check-in im Hotel problemlos. Lechat hatte alles geregelt. Ella erhielt die Juniorsuite, da alle anderen Zimmer belegt waren. Offenbar fand in der Nachbarstadt eine Handwerkermesse statt.

      Während ein Angestellter ihr Gepäck nach oben brachte, nutzte sie die Gelegenheit, vor dem Hoteleingang eine Zigarette zu rauchen. Als sie gerade den letzten Zug nahm und wieder den Weg zurück ins Hotel antreten wollte, erklang aus dem Bushäuschen nebenan plötzlich eine dunkle Stimme.

      »Ella?«

      Sie schaute sich um und konnte die Stimme einem schwarzhaarigen Mann in Lederjacke zuordnen, der sich mit qualmender Zigarette langsam auf sie zubewegte.

      »Ja?«, sagte Ella zögerlich. »Kennen wir uns?«

      »Erinnerst du dich nicht?«, fragte der Unbekannte mit einem selbstsicheren Grinsen, während er den Kragen des weißen Hemdes richtete, das er unter der Lederjacke trug. Sein Gesicht schien frisch rasiert, der Bartschatten war jedoch sichtbar. »Marlon Merks.«

      »Marlon?«, fragte Ella verdutzt.

      Jetzt erkannte sie ihn. Damals war er kleiner und schmächtiger gewesen. Er musste mit siebzehn oder achtzehn noch mal einen Schuss gemacht haben. Früher hatten einige Mädels aus Ellas Klasse Marlon angehimmelt. Mit seinem südländischen Aussehen hatte er bei Mädchen hoch im Kurs gestanden.

      Dein Vorhaben, keine Bekannten zu treffen, klappt ja wunderbar!

      »Was machst du denn hier?«

      Und jetzt stellt er auch noch Fragen …

      »Ich musste hier zur Gemeinde wegen einer Formalität«, erwiderte sie.

      »Jedenfalls ist es schön, dich mal wiederzusehen. Gut siehst du aus!«, sagte er und zog dabei gekonnt eine dunkle Augenbraue hoch.

      Ella fühlte sich geschmeichelt, obschon sie gleichzeitig das Gefühl beschlich, dass er log. Sie hielt sich selbst keineswegs für gut aussehend. Ihr Gesicht empfand sie als zu rund und ihre Brille als zu spießig. Zudem hatten ihre Haare in den letzten Monaten wenig Aufmerksamkeit erhalten und fristeten ein widerspenstiges Dasein.

      »Lust, morgen einen Kaffee trinken zu gehen? Wir haben uns sicher viel zu erzählen«, fragte Marlon und blickte Ella erwartungsvoll in die Augen.

      Ella konnte sich nicht daran erinnern, jemals mehr als drei Worte mit ihm gesprochen zu haben. Er war damals in dieselbe Klasse wie Gregory gegangen, daher kannte sie ihn.

      Los, sag was, bevor er weitere Fragen stellt!

      Er kam ihr zuvor.

      »Hör zu, da kommt mein Bus. Meine Schicht bei Rehnhof fängt gleich an. Gibst du mir deine Handynummer?«, fragte Marlon und zückte sein Handy.

      Tu es nicht!

      Der Bus war schon vorgefahren. Unmöglich konnte

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