Скачать книгу

abgewinnen kann. Der Bauernbunddirektor führt eine scheinbar endlos lange Marschkolonne an. Er hat „seine“ Bauern nach Wien gerufen, und sie sind seinem Aufruf gefolgt. Es geht um „Sein oder Nichtsein Österreichs“, wie er als Schriftleiter im „Bauernbündler“ getitelt hat. Die Sozis und die Nazis bedrohen den Staat, sind eine Gefahr für die Heimat. Man muss an das Verantwortungsgefühl der Menschen, an ihr Bekenntnis zu Österreich, appellieren. Der Ruster lässt seinen Blick zufrieden über die Marschierenden schweifen: Junge und Alte, Männer und Frauen, Bauern und Knechte ziehen einträchtig über den Ring. Nie zuvor hat Leopold Figl solche Menschenmassen auf den Straßen Wiens gesehen. Seit sechs Uhr früh rollt Zug um Zug aus Niederösterreich auf die Bahnhöfe und spuckt immer neue Kundgebungsteilnehmer aus. Man hat ihm berichtet, dass selbst der Schwarzenbergplatz die vielen Bauern nicht fassen konnte. Die Kundgebungsteilnehmer standen bis zum Karlsplatz. All diese Menschen sind nach Wien gekommen, um Engelbert Dollfuß in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Der Kanzler, der selbst aus einer Bergbauernfamilie stammt, soll sehen, dass er sich auf seine Bauern verlassen kann.

      Schon kann Leopold Figl den Kanzler erkennen, der den Bauern von seiner Ehrentribüne vor dem Kriegsministerium freudig zuwinkt. Es muss ein großartiger Anblick sein, der sich Engelbert Dollfuß bietet: Die Bauern marschieren in 16er-, ja sogar 20er-Reihen, die die ganze Breite der Ringstraße ausfüllen. Sie tragen Bezirkstafeln mit sich, die ihre Herkunft anzeigen. Rot-weiß-rote Fahnen werden geschwenkt. Jede größere Abordnung hat ihre eigene Musikkapelle mitgebracht. Man sieht Spruchbänder und Transparente aller Größen. „Österreich über alles, wenn es nur will! Wir wollen es!“, „Glaube, Volk und Vaterland“ und viele andere Parolen sind darauf zu lesen. Die Sturmscharmänner heben die Finger zum Schwur, als sie den Kanzler passieren.

      Je näher Leopold Figl der Ehrentribüne kommt, desto lauter werden die „Heil“-Rufe. Er weiß, dass sie nicht nur dem Kanzler, sondern auch ihm, dem Organisator des heutigen Tages, gelten. Alles hat reibungslos funktioniert. Die Feuertaufe als Bauernbunddirektor ist überstanden.

      Am 2. Februar 1934 »huldigen«, wie es damals heißt, 110 000 niederösterreichische Bauern auf der Wiener Ringstraße dem Kanzler, der seit dem 4. März 1933 ohne Parlament und damit ohne Kontrolle regiert. Engelbert Dollfuß mag sich an diesem Tag von der Bevölkerung anerkannt, ja geliebt fühlen, doch es ist ein trügerisches Gefühl. Gleichartige Aufmärsche seiner Gegner sind 1934 bereits untersagt.

      Seit Ende März 1933 ist der Republikanische Schutzbund verboten, ebenso Streiks und – zur Erbitterung der »Roten« – der traditionelle Maiaufmarsch. Anfang Mai 1933 werden alle Wahlen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene ausgesetzt. Erst am 19. Juni 1933 wird die NSDAP in Österreich verboten. Am 11. September verkündet Bundeskanzler Dollfuß bei einer Kundgebung am Wiener Trabrennplatz: »Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei! Wir lehnen Gleichschalterei und Terror ab, wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker, autoritärer Führung! Autorität heißt geordnete Macht, heißt Führung durch verantwor-tungsbewusste, opferbereite Männer.«7

      Viele Österreicher, zermürbt durch einen verlorenen Krieg, wirtschaftliche Not und gewalttätige politische Auseinandersetzungen, haben gegen dieses Führerprinzip nichts einzuwenden. In ihren Augen hat die Demokratie, ohnehin nur ein neumodisches Experiment, versagt. Sie sehnen sich nach wirtschaftlichem Auskommen, Ruhe und Ordnung.

      Einer jener Männer, der als Garant für Ordnung und als Bollwerk gegen die »Roten« und »Braunen« gilt, ist der niederösterreichische Landeshauptmann Reither. Am Lichtmesstag 1934 hält er eine flammende Rede für die Selbstständigkeit Österreichs: »Wir stehen aber nunmehr am Ende dieser unserer Gutmütigkeit. Wir haben Sie in ernster Stunde heute nach Wien gerufen, um in Wien aufzumarschieren und damit zu zeigen, dass hinter dem Bundeskanzler und seiner Regierung noch Männer stehen, die entschlossen sind, diese Regierung und ihren Kanzler im Kampfe um Österreichs Unabhängigkeit auch durch die Tat zu unterstützen.«8

      Reither wird diese kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus fünf Jahre später im KZ büßen. Auf den 31-jährigen Leopold Figl, für den Reither, wie er oft betont hat, immer ein Vorbild war, hat diese Rede sicherlich großen Eindruck gemacht. Auch er wird seinen Glauben an Österreich bald mit KZ-Haft bezahlen. Bundeskanzler Dollfuß, der nach dem Landeshauptmann spricht, warnt ebenfalls eindringlich vor der braunen Gefahr. Gleichzeitig droht er den Sozialdemokraten und Kommunisten: »All denen, die den Aufbau unseres Staates auf berufsständischer Ebene verhindern wollen, all denen, denen Parteipolitik über Staats- und Volkswohl geht, all denen rücksichtsloser Kampf!«9

      Nur zehn Tage später, in der »Kälte des Februars«, bricht der Bürgerkrieg aus. Der kleine Kanzler macht seine Drohung wahr und geht rücksichtslos gegen die Schutzbündler vor. Auch die Sturmscharen sind in jenen blutigen Februartagen im Einsatz. Der für das Sicherheitswesen zuständige Staatssekretär Carl Karwinsky lobt: »[D]ie Ostmärkischen Sturmscharen kämpften auf vielen Fronten unerschrocken mit. So nahmen drei Kompanien der Sturmscharen trotz heftigster Beschießungen vereint mit der Polizei den Gemeindebau auf dem Gaudenzdorfergürtel stürmend ein.«10

      Was immer auch die Aufgabe Leopold Figls in jenen traurigen Tagen gewesen sein mag, er wird sie mit wenig Begeisterung erfüllt haben.

      Bei der Kundgebung am Lichtmeßtag waren auf Transparenten auch noch versöhnliche Aufschriften zu lesen: »Wir sind mit den heimattreuen Arbeitern einig!« oder »Wiener, die Bauern reichen Euch die Hände«. Damit ist es ab dem 12. Februar 1934 vorbei. Der »Bauernbündler«, dessen Schriftleiter Leopold Figl ist, freut sich an diesem Tag über die »Niederschlagung der roten Revolution«.

      Die österreichische Gesellschaft ist zutiefst gespalten. Internierungen, Haftstrafen, standrechtliche Hinrichtungen und Todesurteile verbittern Sozialdemokraten, Kommunisten und deren Verwandte sowie Freunde. Die Regierung hat sich einen großen Teil der Bevölkerung zu Feinden gemacht. Menschen, die sie im Kampf gegen den übermächtigen Nationalsozialismus dringend brauchen wird. Die Patrioten jener Tage sind oftmals keine Demokraten, die Demokraten keine Patrioten. Ein Umstand, den der Anti-Demokrat und Anti-Patriot Hitler auszunutzen verstehen wird. Er wird den Untergang Österreichs bedeuten.

      Ein sonntäglicher Besuch: 6. März 1938

      Der Applaus klingt noch in seinen Ohren. Nur ungern hat Leopold Figl die Versammlung, auf der er gesprochen hat, verlassen. In Loosdorf hat ihn ein Anruf des Kanzlers erreicht: Er soll zurück nach Wien kommen. Das kann nur bedeuten, dass sich die Situation weiter zugespitzt hat. Seit Kurt von Schuschnigg vom Obersalzberg zurückgekehrt ist, wissen es alle Vertrauten des Kanzlers: Adolf Hitler wird nicht zögern, seine Macht auch gegen seine Heimat auszuspielen. Beim Gedanken an den demütigenden Besuch des österreichischen Kanzlers beim „Führer“ verhärten sich die Gesichtszüge Leopold Figls. Man darf nicht nachgeben, man darf den Nazis Österreich nicht kampflos überlassen. Das muss vor allem der Jugend klargemacht werden. Deshalb versucht er, möglichst oft zur Bevölkerung zu sprechen, wie heute in Loosdorf. Der Reichsbauernführer weiß, dass viele schon angesteckt sind vom „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“-Taumel. Aber warnen, denkt er trotzig, muss man doch. Auch er selbst wurde schon gewarnt: Er solle nicht gar so wettern gegen die Nazis. Wer weiß, was noch kommt. Doch irgendetwas in Leopold Figl weigert sich, diesem gut gemeinten Rat zu folgen.

      Das Auto wird langsamer, Rust ist erreicht. Eine Schar bloßfüßiger Buben in Lederhosen trabt neben der schwarzen Limousine her. Trotz aller Anspannung muss der Politiker lächeln. Modernisierung hin oder her, ein Auto ist in seinem kleinen Heimatort immer noch eine Seltenheit und damit eine Sensation. Der Fahrer hält vor dem Figl’schen Hof. Die Mutter kommt ihm entgegen, sie muss das Auto gehört haben. Forschend betrachtet Josefa Figl ihr drittgeborenes Kind. Ob etwas passiert ist, dass ihr der Sohn einen so überraschenden Besuch abstattet? Die Rusterin weiß, dass ihr „Poldl“ ein viel beschäftigter Mann ist.

      „Na, komm erst einmal herein!“, sagt sie und zieht ihren Sohn in die Küche. „Ich richt dir was her, du bist ja ganz schmal geworden!“

      Während sie sich am Herd zu schaffen macht, betrachtet Leopold Figl das faltige Gesicht seiner Mutter. 65 ist die Mutter mittlerweile, und man sieht ihr das Alter

Скачать книгу