Скачать книгу

brannten wie glühende Kohlen im langsam ausklingenden Fieber. Er presste die grauen, blutleeren Lippen fest an das Glas und versuchte, sich auf diese Weise verständlich zu machen: ›Servus Kinder!‹ Wir winken zurück. ›Servus Poldi, wie geht’s dir?‹ ›Dank euch schön, gut.‹ Und dann lachte er, lachte seit Wochen zum ersten Mal wieder und kniff beide Augen zusammen. ,Macht’s euch nix d’raus: Es dauert nicht mehr lang!« So beschreibt Rudolf Kalmar seinen Besuch bei der Isolier-Baracke rund 25 Jahre später.40

      Eine Typhusepidemie hat das Lager heimgesucht. Ein Menschenleben ist noch billiger geworden in Dachau. Die ohnehin schon geschwächten Gefangenen sterben reihenweise. Täglich führt der »Moorexpress« – ein Karren, der von Gefangenen gezogen wird – Leichen ins Krematorium. Leopold Figl steht an der Schwelle zum Tod, aber er überwindet auch diese Krise. Seine Freunde päppeln ihn wieder auf.

      Figl ist beliebt im Lager. Sein Standardsatz – »Es dauert nicht mehr lange.« – ist einer der Gründe dafür. Er gilt als unerschütterlicher Optimist; als einer, der den Kameraden in ihrer Verzweiflung Mut zuspricht. Manchmal freilich übertreibt er es ein bisschen mit seinen Parolen. Einmal kommt er freudestrahlend in die Baracke: »Kinder, jetzt is bald aus, die Russen sind schon in Lemberg.« Die Kameraden glauben ihm nicht. Es entspinnt sich eine Diskussion. Schließlich sagt Figl: »Ihr wisst’s eh, dass ich kein Trottel bin. I glaub’s jo a net, aber i brauch des, sonst halt ich’s net aus!«41

      Außerdem ist Leopold Figl bereit, anderen zu helfen. Heinrich Gleißner erinnert sich an sein erstes Zusammentreffen mit dem späteren Bundeskanzler in Dachau. Der Oberösterreicher ist von den Prügeln, die er auf dem »Prominententransport« bezogen hat, noch ganz verschwollen. »Figl: ›Ja, wie schaust du denn aus?‹ Ich: ›Leider, aber nicht freiwillig!‹ Figl: ›Ich habe leider nur mehr zwei Mark in meinem Besitz, aber die teilen wir!‹ Das war Figl, wie er leibt und lebt: helfen und teilen!«42

      Zu diesem Zeitpunkt weiß der »Schutzhäftling« nicht, was ihm im Lager bevorsteht. Alles ist ungewiss und bedrohlich. Trotzdem ist Figl bereit, sein letztes Geld mit einem Bekannten zu teilen, obwohl er es vielleicht später dringend selbst brauchen könnte. Geld spielt im KZ eine wichtige Rolle, weil man sich damit in der Kantine Zusatzverpflegung zu den ausgegebenen Hungerrationen kaufen kann.

      Der schmächtige Niederösterreicher ist nicht nur als Integrations-, sondern auch als Führungsfigur anerkannt. Er unterwirft sich nicht, winselt nicht um das »Wohlwollen« der SS-Männer.

      »Leopold Figl war ein tapferer Mann, ungebrochen […], ein Mann, der zu seiner Sache stand. Von der Gestalt her hager, meisterte er alle Anforderungen und Anfechtungen mit Bravour«43, urteilt Franz Olah. Auch Rudolf Kalmar zeichnet den späteren Bundeskanzler als mutigen Mann: »Es war bei ihm fast ein Justament-standpunkt, überall dort mitzumachen, wo es gefährlich war.«44

      Selbst in der direkten Konfrontation mit der SS findet er noch die Kraft, Widerstand zu leisten. Ein polnischer Arbeitskollege schildert in einem Zeitungsartikel, wie sich Leopold Figl den Wünschen der Machthaber widersetzt hat: Das KZ-Baubüro soll die Planung eines Krematoriums übernehmen. Der zuständige Obersturmführer gibt Figl die entsprechenden Befehle. »Sie wissen ganz genau, dass mir für Projekte solcher Art die Voraussetzungen fehlen, da ich keinerlei Praxis auf diesem Gebiet habe.« Der SS-Mann wird lauter: »Figl, Sie wissen genauso wie ich, dass auch ich keine Ahnung davon habe, aber die Deutschen können eben alles.« Figl gibt trocken zurück: »Es ist wahr, aber die Österreicher sind eben nicht so begabt.«45

      Nachträglich erscheint es wie ein Wunder, dass Leopold Figl diesen Widerspruch nicht auf »dem Bock« gebüßt hat: für die Nichtausführung eines Befehls und für das Wort »Österreicher«. Aber in Dachau regiert, Strafordnung hin oder her, die Willkür. Wofür ein Gefangener an einem Tag bewusstlos geprügelt wird, bleibt tags darauf ohne Konsequenzen.

      Von völliger Willkür ist auch die Haftdauer abhängig. Man kann morgen freigehen, in einem Jahr oder aber – nie. Diese völlige Ungewissheit macht das Eingesperrtsein zur besonderen Qual. Die Männer dieser Generation sind es gewohnt, den Lebensunterhalt der Familie alleine zu bestreiten und alle wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Sie sind das »Oberhaupt« der Familie. Wie wird die Frau daheim alleine zurechtkommen? Wovon wird sie die Kinder ernähren? Wird ihr jemand beistehen? Fragen, die den Häftlingen keine Ruhe lassen.

      Leopold Figl schreibt am 25. Mai 1941 an seine Frau: »Wie bringst Du Dich wirtschaftlich durch? Das ist meine größte Sorge! Tag und Nacht verfolgt mich die Sorge, wie wird es Dir und den Kindern ergehen! So ganz auf Gnade angewiesen! Und dabei die Ungewissheit wie lange! Ich kann Dir nicht schreiben, wie mich diese Sorge drückt.«46

      Die einzige Erlösung sind Briefe von zu Hause. Zwei Mal im Monat darf ein Gefangener einen Brief schreiben oder erhalten. Doch selbst diese »Vergünstigung« hängt an einem seidenen Faden: Man kann mit Postverbot bestraft werden; im Isolierblock ist das Schreiben beziehungsweise Empfangen von Briefen auf einen pro Vierteljahr reduziert.

      Als Leopold Figl verhaftet wird, ist sein Sohn Hansl sechs, seine Tochter Liesl zwei Jahre alt. Er versäumt die schönsten Kindheitsjahre und leidet darunter. »Wenn du mir über Anneliese so schön schreibst, da tut mir das Herz besonders weh, da ich sie in der Entwicklung so gar nicht verfolgen kann«47, schreibt Leopold Figl 1941 an seine Frau Hilde. »Ja, gerne würde ich den Kindern Papa sein, aber ich glaube nach der langen Trennung wird es mit Strenge nicht gehen, denn ich habe so viel an Liebe und Güte nachzuholen, dass für Strenge keine Zeit bleibt«, schildert er seine Gedanken über eine Zeit, von der er nicht weiß, ob sie auch wirklich kommen wird. Diese Unsicherheit bedrückt den Familienvater besonders. So heißt es in einem Brief vom März 1941: »Wenn ich oft schier verzweifeln will, gibt mir Dein Bild Kraft und Stärke!«48 Und zwei Monate später: »Wenn ich oft glaube es geht nicht mehr und mich von allen verlassen fühle, dann hält mich der Glaube an Dich und die Kinder aufrecht! Viel Geduld muss ich aufbringen!«49

      Er versucht, der Familie und sich selbst Mut zu machen: »Wieder ist doch ein bedeutender Tag vorüber, auf den ich doch etwas Hoffnung gesetzt habe! Das dritte Jahr seit unserer Trennung! Der Gedanke ist zu gewaltig, um Worte zu finden! Hoffen wir weiter in dem felsenfesten Glauben und in sicherem Vertrauen, dass doch bald der Tag des Wiedersehens kommt!«50

      Trotz aller Durchhalteparolen, mit denen Figl versucht, Familie und Kameraden aufzurichten, sinkt auch seine Hoffnung: »Wenn auch wieder ein Jahr vorüber ist, einmal wird es doch das letzte sein.«51

      Hin und wieder blitzt in den Briefen Leopold Figls wahre Gemütslage auf. Im März 1942 gratuliert er Tochter Anneliese zum sechsten Geburtstag und schreibt an seine Frau: »Ja, kleine Kinder habe ich verlassen und große Kinder werde ich sehen, wenn ich es überhaupt erlebe! […] Das fünfte Jahr unserer Trennung hat nun begonnen! Wenn ich zurückblicke, gesund bin ich Gott sei Dank und will es weiter hoffen, physisch habe ich viel gelitten, bin aber heute noch vollkommen ausgeglichen! Wie lange es noch dauert? – Das Bewusstsein, in dir eine verstehende Anteilnahme zu haben, Deiner Liebe und Treue mich würdig und wert zu zeigen – um der Kinder willen, helfen in diesen harten Zeiten, das Schicksal zu meistern!«52

      Trotz solch tapferer Zeilen suchen den Gefangenen immer wieder quälende Gedanken heim. Gedanken, über die er mit niemandem sprechen kann. »Wenn ich mich nur einmal ausreden könnte! Manchmal kommen mir solche Zweifel, die ich dann als Phantastereien wieder verwerfe!« Trotzdem kreisen seine Überlegungen nicht nur um das eigene Schicksal. Die Gedanken des zweifachen Vaters wandern zu seinen Kindern, die trotz allem eine unbeschwerte Kindheit verleben sollen. »Hansi und Anneliese tobt und tollt, der Frühling gehört Euch!«, schließt der Brief.53

      Leopold Figl steht auch mit seinen Brüdern in Briefkontakt. Sie sind als Wehrmachtssoldaten an der Front. So schreibt Figl an seinen Bruder Anton: »Dass es so lange dauert, hätte wohl niemand gedacht. Aber wir müssen diese Schicksalsprüfung mit Geduld und Standhaftigkeit ertragen. Staunen und überglücklich bin ich, dass Hilde diese harte Zeit der Prüfung so tapfer erträgt und dass sie so voller Hoffnung und Zuversicht ist, dass ja doch alles wieder recht wird, wenn ich wieder heimkomme.« Es folgt ein Gedanke, der Leopold Figl besonders belastet haben muss, da er ihn öfters brieflich erwähnt: »Meine Kinder werde ich wohl kaum erkennen, insbesondere

Скачать книгу