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Ort sogar den Roman gelesen hat, was nicht auszuschließen ist, verbindet er den Namen des Verfassers nicht mit dem Gregor Korff, der dort in der alten Grenzstation haust. Sie kennen mich nur vom Einkaufen in einem Minisupermarkt mit Postagentur, der in diesen Tagen schwer um sein Überleben kämpft, und vom Tanken am Ortsrand. Schon meine Bankgeschäfte musste ich ja von Anfang an in Straelen abwickeln, weil es in Granderath seit Jahren keine Bankniederlassung mehr gab. Und Besuch aus dem Ort habe ich in all den Jahren bis heute nur von Martin Taubert bekommen.

      Martin Taubert ist inzwischen neunzig Jahre alt. Er hatte allen Grund und alles Recht, mich in meiner neuen Behausung aufzusuchen, denn sie ist in anderer Gestalt über vierzig Jahre lang sein Arbeitsplatz gewesen. Er ist kurz nach dem Krieg in den Zolldienst eingetreten und bis zum Ende seiner Dienstzeit in der Grenzaufsicht in Granderath tätig gewesen. Grenzaufsicht, Grenzaufsichtsdienst, zollamtliche Überwachung, Zollkommissariat, zollrechtliche Grenzsicherung, Mobile Kontrollgruppe: lauter Wörter, die ich durch Martin kennengelernt habe, für ihn exakte, genau definierte Fachtermini, in meinen Ohren, je öfter ich sie hörte, die reine Poesie.

      Martin klingelte ein halbes Jahr, nachdem ich eingezogen war, an meiner Haustür, an einem nasskalten Novembertag mit heftigem Westwind. Er ist viel größer als ich und sah naturgemäß auf mich herab, als ich öffnete. Er ist immer noch hager, mit sehr großen, kräftigen, dabei schmalen Händen, von denen er mir die rechte entgegenstreckte und bat, eintreten zu dürfen, draußen sei es kalt und stürmisch, und er habe hier mal gearbeitet. Als ich ihm das umgebaute Haus zeigte, die langgestreckte ehemalige Grenzstation Granderath, bekam ich nicht heraus, ob sein jeweiliges kurzes Nicken beim Betreten der einzelnen Räume zustimmend oder missbilligend war, oder ob er sich einfach jeweils die frühere Gestalt und Aufteilung der Räume ins Gedächtnis rief. Später erzählte er mir, ihm sei damals besonders aufgefallen, wie viel Platz jetzt in den einzelnen Räumen gewesen sei, und er habe die ganze Zeit nach seinem alten Stahlschreibtisch gesucht. Ich habe mich in der Tat bemüht, die Wohnung möglichst leer zu halten. Was er allerdings nicht gesehen hat, ist der kleine Schuppen hinterm Haus, in dem ich alle Relikte meiner Vergangenheit aufbewahre, von denen ich mich bis jetzt nicht trennen konnte, eingeschlossen die Belegexemplare der einzelnen Auflagen des Sonja-Komplotts, sowohl im Hardcover wie im Taschenbuch. Selbstverständlich stehen hier auch noch jene obligatorischen zwei Kartons, die nach jedem Umzug ein Jahr, fünf Jahre, acht Jahre lang nicht ausgepackt und schließlich eines Tages im Sperrmüll entsorgt werden. Dieser Schuppen, den ich mir von einem holländischen Handwerker habe anbauen lassen, ist mein Giftschrank. Ich betrete ihn nur selten.

      Martin wohnt am anderen Ende von Granderath, kurz vor der Tankstelle und gegenüber dem Friedhof. Er wollte so viel Abstand wie möglich von seinem alten Arbeitsplatz, nicht, weil er seine Arbeit nicht gemocht, sondern weil er sie geliebt hatte. Bei seinem ersten Besuch tranken wir Tee, und ich lud ihn ein, jederzeit wiederzukommen.

      »Sie werden mich nie stören«, sagte ich. »Ich habe nichts zu tun.«

      »Granderath hat von der Grenze gelebt«, sagte Martin Taubert, bevor er ging. »Jetzt, wo es sie nicht mehr wirklich gibt, wird auch Granderath eines Tages verschwunden sein.«

       2Nomade

      Eigentlich hatte ich meinen Ort schon Anfang der Achtziger gefunden, als es mich nach Bonn verschlug, und ich hatte ihn spätestens verloren, als ich aus der Politik rausgeflogen war und auch mein Vertrag an der Frankfurter Uni nicht mehr verlängert wurde. Nachdem mein Vermieter mich endlich aus meiner Wohnung in der Bonner Südstadt vertrieben hatte, verzichtete ich darauf, diesen Ort länger zu verteidigen. Von meinem Besitz verkaufte ich das Meiste, sicher unter Wert – ich bin kein Geschäftsmann, sondern ein ehemaliger Staatsdiener –, den Rest lagerte ich ein. Das Möbel, das mir am liebsten war, den kleinen Schreibtisch aus der Wiener Werkstätte, wollte ich meinem Freund Uli Goergen schenken, Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls an der Frankfurter Universität. Er wollte ihn aber nur annehmen, wenn er mir dafür ein kleines Entgelt geben dürfe. Es wäre sinnlos gewesen, auf dieser Ebene mit ihm zu streiten, denn Uli, dessen berühmtester Satz das unter Freunden so oft gehörte Ich kann nur Ironie war, wurde in Wahrheit von früh an von einer Zwangsvorstellung verfolgt. Da er, nach eigenen Aussagen, sein Leben lang nur Glück gehabt hatte, lebte er in der ständigen Angst, dieses Glück werde ins allergrößte Unglück umschlagen, wenn er nicht immer und überall genug davon abgab. Das kleine Entgelt reichte für die nächsten drei Monate, ohne dass ich meine nicht allzu üppigen Rücklagen angreifen musste, und als ich von meinem ersten Streifzug zurückkam, nach etwas mehr als einem Jahr, hatte schon der Erfolgszug von Das Sonja-Komplott begonnen. Die Göttin Zufall, vielleicht war sie auch nur ein Schutzengel, griff damals wieder einmal freundlich in mein Leben ein.

      Ich war keineswegs elf Monate lang Woche für Woche oder gar Tag für Tag an einen anderen Ort gezogen. Ich war Nomade, aber nicht auf der Flucht. Ich fuhr eine Weile an der Loire entlang und fand schließlich für mehrere Wochen ein Zimmer auf einer ehemaligen ferme nahe Meung-sur-Loire. Von dort aus machte ich meine kleinen Streifzüge, die bis nach Tours führten. Abends fuhr ich nach Meung zum Essen und mischte mich mit meinem schlechten Französisch unter die Leute.

      In der letzten Woche wurde ich krank und verließ kaum noch mein Zimmer. Die Wirtin kümmerte sich rührend um mich und versuchte, mich mit zu viel Essen aufzupäppeln. Als ich dann wieder auf die Beine gekommen war, war es draußen deutlich kälter geworden.

      Ich floh nach Paris und konnte eine gute Woche bei meinem Freund Pierre wohnen, der mir in seiner kleinen Wohnung in der Rue de Bourgogne großzügig ein Zimmer zurechtmachte. Er hatte viel zu tun in diesen Tagen, aber abends waren wir manchmal zusammen unterwegs. Paris leuchtete in jenem Herbst noch immer vom Sieg der Bleus im Sommer. Von riesigen Werbeplakaten sah das ernste Gesicht von Zinedine Zidane in stillem Triumph auf die Bewohner und Besucher der Stadt hinab. Wofür damit geworben wurde, ist mir entfallen: Zizous so strenger wie gütiger Blick auf die Massen ließ alle Markennamen verblassen.

      Nach einer Woche verabschiedete ich mich. Im gesamten Jahrzehnt meines Nomadentums habe ich immer wieder solche Kurzbesuche bei Freunden und Bekannten gemacht, selbstverständlich auch in Deutschland. Ulrich Goergen und seine Frau Barbara haben mich in diesen Jahren sehr oft beherbergt; ich war dort jederzeit willkommen und konnte auch länger bleiben. Ich starb also nicht an zu viel Alleinsein, sondern gehörte eher zu den Gyrovagen, jener vierten Art der Mönche, von denen es in der Regel des heiligen Benedikt heißt: Ihr Leben lang ziehen sie landauf und landab und lassen sich für drei oder vier Tage in verschiedenen Klöstern beherbergen. Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven der Launen ihres Eigenwillens und der Gelüste ihres Gaumens. Die Benediktinerregel hatte ich an dem Tag gekauft, als ich meine leergeräumte Wohnung in der Bonner Kurfürstenstraße endgültig verließ und mich auf den Weg machte, und die bösen Sätze, mit denen der heilige Benedikt auf mich, auf meinen Eigenwillen und meine Gaumengelüste zeigte, las ich ausgerechnet in Paris am frühen Abend, bevor ich mit Pierre ein letztes Mal essen ging.

      Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Norden, und gut vier Stunden danach war ich angekommen an meinem heimlichen Ort, meiner spröden, verhärmten Geliebten unter den Städten, von der niemand nichts weiß.

       3Bleu de Mer

      An diesem Ort blieb ich den ganzen Winter.

      Seitdem ich 1982 nach Bonn gekommen war, ins Herz der Macht, wie mein Chef sich entgegen seiner sonstigen Redeweise damals etwas blumig ausdrückte, hatten mich meine kleinen Fluchten am Wochenende oder in ganz kurzen Urlaubszeiten immer wieder dorthin geführt. Ostende kannte ich lange nur von der Fähre nach und von England, angefangen mit meinem ersten Besuch in London 1966. Dann, in den späten Siebzigern, damals arbeitete ich noch in Speyer, verpasste ich einmal eine Fähre und musste übernachten. Es war schon Oktober, aber noch hatte alles geöffnet, und als ich nach dem Essen an der Albert-Promenade am Meer entlangging, das sich zwar im Dunkel versteckte, aber gut zu hören war, und dann durch die Straßen des Zentrums – auf der anderen Straßenseite einmal angetrunkene, grölende Engländer, dann aber wieder überraschend

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