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Nachtisch und den Kaffee holen wir uns später», sagte sie.

      Naomi steuerte einen freien Platz an einem Tisch an, aber Lisbeth hielt sie zurück.

      «Nicht zu nah bei den Männern. Es ist nicht unwichtig, wohin und zu wem du dich hier setzt. Du musst die Augen offenhalten.»

      Lisbeth drehte sich um und stieß mit ihrem Tablett gegen eine hinter ihr stehende Frau. Die Suppe spritzte in alle Richtungen.

      «Dumme Kuh! Gib Acht, wohin du trittst!»

      Naomi spürte Hunderte von brennenden Blicken auf sich.

      «Meine Bluse! Meine Schuhe!», rief die Frau.

      «Entschuldige, Betty, ich hatte dich nicht gesehen.»

      «Was? Was nimmst du dir da heraus?»

      «Entschuldigung, Frau Tarris.»

      «Ich brauche deine Entschuldigung nicht, dumme Sub! Du hättest mich verbrennen können mit dieser heißen Suppe!»

      «Es tut mir leid, Frau Tarris.»

      «Und was ist mit den Flecken auf meinen Schuhen?»

      Lisbeth ging in die Hocke, knöpfte ihre Bluse los und tupfte damit die Schuhe ab.

      «Betty, lass gut sein!», rief jemand.

      Die Frau drehte sich wütend um.

      «Habt ihr keine Augen im Kopf? Oder könnt ihr es durch die Flecken vielleicht nicht mehr lesen?» Sie deutete auf ihre Brust. «Das hier ist ein A. Ein A!»

      Lisbeths Tränen tropften auf die Schuhe.

      «Genug, Sub! Du machst alles nur noch schlimmer.»

      Die Frau zog ihren Fuß weg, sodass Lisbeth das Gleichgewicht verlor und in die verschüttete Suppe fiel.

      «Es kostet mich zehn Minuten, mich umzuziehen. Wenn ich dadurch in Schwierigkeiten gerate, dann werde ich es dir heimzahlen!» Sie stieg über Lisbeth hinweg und verließ den Saal.

      Naomi stellte ihr Tablett auf den Boden und half Lisbeth auf.

      «Setz dich. Ich bringe dir einen neuen Teller.»

      «Ich habe keinen rechten Appetit», sagte Lisbeth. «Ich denke, ich lasse das Essen ausfallen.» Sie rannte aus dem Saal.

      Naomi nahm ihr Tablett. Die Köpfe wandten sich wieder ihren eigenen Tellern zu, und die Ränge schlossen sich, als sie an den Tischen entlangging. Schließlich fand sie am äußeren Ende eines Tischs noch einen leeren Platz.

      Zwei Mädchen, das F3 deutlich lesbar auf ihren Shirts, wischten das verkleckerte Essen fachgerecht und schnell auf.

      «Was habe ich gehört, Lisbeth?», fragte Deborah abends im Schlafsaal. «Du bist heute deiner guten Freundin Betty in die Arme gelaufen?»

      Die anderen Mädchen kicherten in ihr Bettzeug.

      «Hat sie dir schon Bescheid gegeben, wann du nach oben darfst? Sie wollte doch ein gutes Wort für dich einlegen, als beste Freundin?», setzte Glenda in dem Bett neben Deborah noch eins drauf.

      «Wie schön, dass man auch befördert werden kann, ohne gleich auf die Knie zu sinken», sagte Deborah. «Ohne sich dafür erniedrigen zu müssen.»

      So ging es noch eine Weile weiter.

      Lisbeth biss in ihr Kissen, bis die Mädchen allmählich genug hatten.

      «Naomi?», flüsterte sie, als leises Schnarchen ihren Teil des Saals erfüllte. «Bist du wach? Was heute im Speisesaal passiert ist …»

      «Ich habe es schon vergessen», sagte Naomi. «Das solltest du besser auch tun und jetzt schlafen.»

      «Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir erklärt habe, wie es zwischen Betty und mir ist.»

      «Ich kenne Betty nicht», sagte Naomi.

      «Du kennst mich», sagte Lisbeth.

      «Ja», seufzte Naomi, «ich kenne dich.»

      «Du musst wissen, dass Betty eine von uns war. Keine dumme Sub wie Deborah, die stolz ist, dass sie hier die Drecksarbeit tun darf, solange sie nur draußen erzählen kann, dass sie für Babel arbeitet. Betty hatte Ehrgeiz. Sie wollte aufsteigen. Wenn man sie sah, wusste man, sie würde es schaffen. Sie war passioniert. Sie konnte selbst Frau Prynne um den Finger wickeln. Die hat sogar einmal fallenlassen, Betty könnte irgendwann einmal vielleicht ihren Platz einnehmen, wenn sie sich weiter so ins Zeug legte. Und Frau Prynne ist ein C1! Betty hatte Frau Prynne gegenüber genickt und getan, als wäre es zu viel der Ehre, aber hinter ihrem Rücken war sie wütend. Dachte diese Prynne, sie, Betty, würde sich mit einem C zufriedengeben? Sie würde es noch sehr viel weiterbringen. Betty hat sich getraut, solche Sachen zu sagen, weil wir Freundinnen waren, verstehst du? Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, als sie ganz neu war. Wir waren ein Team. Ich habe manchmal ihre Arbeit gemacht, damit sie versuchen konnte, eine obere Arbeit zu bekommen.»

      «Eine obere Arbeit?»

      «Eine Arbeit über der Erde. Ihrer Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, befördert zu werden. Sie würde sich nicht in den Kellern von Babel begraben, bis sie alt und hässlich war, also verbarg sie ihr Sub-Shirt unter einer Jacke und nahm die Touristenaufzüge. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorstellte, von jemandem bemerkt zu werden, aber ich wusste auch, dass sie recht hatte und dass Putzen und Bettenmachen nicht die beste Art war, etwas zu erreichen. In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es noch keinen Schritt weiter geschafft. Betty war meine Chance, höher hinaus zu kommen.»

      «Ihr ist es gelungen. Sie ist jetzt eine A.»

      «Ja, sie ist eine A. Sie selbst hätte nie anzunehmen gewagt, dass es so schnell gehen würde.»

      «Ist sie irgendwem aufgefallen?»

      «Nicht einfach irgendwem!»

      «Babel etwa?»

      «Babel?»

      Lisbeth kicherte.

      «Was soll ein Mann wie Herr Babel mit einer wie Betty? Er kann durchaus etwas Besseres kriegen. Übrigens, Herr Babel trauert noch um seine Frau. Und er ist alt.»

      «Alte Männer haben auch Augen im Kopf.»

      «Herr Babel würde nie etwas mit seinem Personal anfangen.»

      «Du kennst ihn gut.»

      «In diesem Gebäude geschieht nichts, was die Subs nicht wissen. Falls jemals etwas Derartiges passiert wäre, dann hätte ich es gehört.»

      «Wem ist Betty denn aufgefallen?», fragte Naomi.

      «Lichtenstern natürlich.»

      «Wer ist das?»

      «Was? Du hast noch nie von Lichtenstern gehört?»

      Dass sie von Lichtenstern erzählen konnte, ließ Lisbeth die Demütigung des Nachmittags vergessen. Es war klar, dass sie viele Nächte dagelegen und an Lichtenstern gedacht hatte. Er war Babels Vertrauter, obwohl er noch nicht so lange in dessen Diensten stand. Das an sich war schon ein Wunder, wenn man wusste, wie misstrauisch der alte Mann war. Aber Lichtenstern hatte ihn verzaubert. Wo Babel ging und stand, sah man Lichtenstern. Sie nannten ihn Babels Schatten. Oder auch «den Vampir».

      «Warum?»

      «Warte, bis du ihn irgendwann einmal siehst. Dann wirst du es verstehen.»

      «Ich brauche ihn nicht zu sehen», sagte Naomi.

      «Auch nicht, wenn er aus dir vom einen auf den anderen Tag eine A machen kann? Glaube mir, seit Betty das hinbekommen hat, erliegen ihm die Frauen noch schneller.»

      «Dass er aussieht wie ein Vampir, schreckt sie nicht ab?»

      «Er sieht nicht aus wie ein Vampir. Er hat keine scharfen Eckzähne oder so, aber er ist sehr blass, und seine traurigen schwarzen Augen scheinen dich geradewegs zu

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