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kannst froh sein, dass ich heute so gut drauf bin.»

      Die Frau tippte mehrere Nummern ein.

      «Keine Ahnung. Knapp fünfzehn, vermute ich», redete sie in ihr Headset. «Das Übliche. Waisenhauspapiere. Nein, sauber ist sie.»

      Die Frau schob die Papiere zurück.

      «Warte hier. Jemand kommt dich holen.»

      Zehn Minuten später kam eine andere Frau auf Naomi zu. Alles an ihr war streng und gestrafft, angefangen vom weißen Hosenanzug, der ihren mageren Leib umschloss, bis hin zu ihrer Gesichtshaut – was ihren Augen etwas Orientalisches verlieh. Ihr Mund war ein giftiger roter Strich. «Papiere.» Sie spie das Wort förmlich aus.

      Naomi überreichte ihr das Bündel.

      Die Frau schaute von den Papieren zu Naomi und zurück.

      «Komm mit», sagte sie und verschwand durch eine Tür hinter dem Schalter.

      Naomi folgte ihr in einen dämmrigen Flur. Eine zweite Tür führte zu einer Treppe. In dem kahlen Neonlicht stiegen sie hinab. Es folgten weitere Flure und Treppen, tiefer und tiefer, weiter weg von dem Sonnenlicht und dem Leben, bis sie zuletzt in den Kellern des Turms ein fensterloses Büro betraten.

      «Setzen!», sagte die Frau und glitt hinter ihren Schreibtisch. Das Zimmer sah genauso streng und beherrscht wie sie selbst aus.

      «Woher kommst du?»

      «Aus dem Waisenhaus.»

      «Hat man dir da keine Manieren beigebracht? Man antwortet niemals ohne Anrede.»

      «Ja, Frau … »

      «Mein Name ist Prynne. Merk dir das. Was waren deine Eltern?»

      «Meine Eltern sind tot, Frau Prynne.»

      «Das ist mir klar, Kind, sonst kämst du nicht aus dem Waisenhaus. Ich will wissen, was sie waren, als sie noch lebten.»

      «Mein Vater hat bei der Metro gearbeitet. Meine Mutter war Hausfrau.»

      «Geschwister?»

      Naomi zögerte etwas.

      «Weißt du es nicht sicher?»

      «Ich hatte eine kleine Schwester», sagte Naomi. «Aber sie ist auch tot.»

      «Großeltern?»

      Naomi schüttelte den Kopf.

      «Ich hoffe, du gehst etwas weniger leichtsinnig mit deinem Leben um als der Rest deiner Familie. Immer wieder neues Personal abzurichten passt mir nicht.»

      Sie besah die Papiere. «Du liebe Güte, derartige Banalitäten kann man sich nicht ausdenken. Ein Spüllappen hat ein spannenderes Leben.» Sie hob den Kopf. «Zum Glück für dich hat diese Alltäglichkeit jetzt ein Ende. Ab heute arbeitest du für einen ganz besonderen Arbeitgeber.»

      «Sie, Frau Prynne?», fragte Naomi.

      Einen Moment lang schien sich der rote Strich zu einem Lächeln verziehen zu wollen, aber Prynnes Augen blieben kalt.

      «Ich spreche von Abraham Babel, Kind! Dem Finanzgenie, das diese Stadt vor dem Untergang gerettet hat, dem Mann, der dem erschöpften Kapital neues Leben eingehaucht und ganz allein die bereits in ihren Grundfesten erschütterten Banken gestützt hat.» Sie nagelte Naomi mit ihrem Blick fest. «Gestern warst du ein Niemand. Heute erhältst du Zutritt zu dem exklusivsten Ort des Landes. Ist dir eigentlich klar, welche Ehre das ist? Wenn du hart arbeitest, kannst du es weit bringen. Nicht sofort natürlich. Man steigt nicht mühelos die Leiter hinauf, und nicht jeder schafft es, denn viele sind berufen … Aber wenn du nicht aufgibst, hast du eine Chance. Ich hoffe, du bist dankbar für das, was das Schicksal dir zugedacht hat.»

      Naomi nickte.

      «Hier gilt lediglich eine Regel: Man macht keine Fehler. Niemals. Ich toleriere keine Entschuldigungen, verstanden? Es stehen genug Mädchen bereit, deinen Platz einzunehmen. Du bekommst zwei Nachmittage im Monat frei. Ansonsten ist es dir zu keinem Zeitpunkt gestattet, das Gebäude ohne Erlaubnis zu verlassen. Manche deiner Kolleginnen dachten, sie bräuchten sich um diese Regel nicht zu scheren. Sie haben falsch gedacht. Du erhältst keinen Besuch. Solange du unter mir arbeitest, sind Handys oder Laptops verboten. Freundschaften kannst du besser drangeben, solange du hier tätig bist.»

      «Ich habe keine Freunde, Frau Prynne.»

      «Sehr gut», sagte diese und schaute auf ihre Armbanduhr. «Dann bring ich dich jetzt zur Garderobe.»

      Naomi folgte ihr abermals durch ein Gewirr von Fluren.

      Die Garderobe erwies sich als riesige Lagerhalle, vollgestopft mit Kleiderregalen.

      «Frau Hu!», rief Frau Prynne. «Haben Sie einen Moment für uns?»

      Eine kleine Frau mit hervorstehenden Augen hinter dicken Brillengläsern tauchte zwischen den Regalen auf.

      «Ein Neuzugang, Frau Prynne?»

      «Eine Sub. Medium, schätze ich. Sie braucht die gesamte Ausstattung: Schuhe, Socken, Unterwäsche und natürlich Hosen und Hemden.»

      Frau Hu griff nach dem Bandmaß, das sie um den Hals trug, und schlang es um Naomis Taille.

      «Einatmen. Ja, so. Jetzt ausatmen. Sehr gut.»

      Sie nahm Maß an Naomis Brust und Schultern und kniete sich anschließend hin, um Naomis Beine zu messen.

      «Perfekte Figur. Sie könnte direkt auf den Laufsteg.»

      Frau Prynne schnaubte.

      «Dafür ist sie zu dick.»

      «Zu dick?»

      «Schauen Sie sich die Brüste an. So etwas sieht man auf keinem Catwalk.»

      Frau Hu verschwand in der Dunkelheit der Regale.

      «In diesem Gebäude herrscht eine strikte Ordnung», sagte Frau Prynne. «Du gehorchst Arbeitnehmern mit einem höheren Rang. In deinem Fall sind das alle.»

      Frau Hu kam mit einem ganzen Kleiderstapel zurück. Alles war dunkelgrau, bis auf die weiße Unterwäsche. Frau Prynne nahm ein Shirt vom Stapel.

      «Siehst du das hier?»

      Auf dem Shirt war oben links die Abbildung eines schwarzen Turms zu sehen. Unter dem Turm waren mit rotem Garn die Buchstaben «Sub» in das graue Material gestickt.

      «Das ist dein Rang. Du bist eine Sub. Direkt über dir sind die F5-er. Die putzen die Gemeinschaftsräume der unteren dreißig Etagen. Über ihnen stehen die F4-er. Was sind die noch mal, Hu? Die Fahrer?»

      «Die Laufburschen, glaube ich.»

      «Egal. F3 steht über F4, E5 über F1 und so weiter. Je höher der Rang, desto besser ausgebildet, desto mehr Erfahrung beziehungsweise Verantwortung.»

      Sie knöpfte ihre Jacke auf.

      «Ich selbst bin C1, und Frau Hu» – sie zeigte auf das dunkelgrüne Shirt von Frau Hu – «ist eine E2.»

      «Wer sind die A-s?», fragte Naomi.

      «Die Kleine ist ehrgeizig», sagte Frau Hu.

      «Unwissend, wollten Sie sagen. Die A-s arbeiten oben im Turm, in den Räumlichkeiten von Abraham Babel oder besser in denen seiner Enkelin. Mach dir keine Sorgen, mit ihnen wirst du nichts zu tun haben.» Frau Prynne fischte einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche. «Das hier ist der Schlüssel zu deinem Spind. Da hinein legst du deine restliche Kleidung. Frau Hu zeigt dir, wo es ist und wohin du mit deiner schmutzigen Wäsche musst. Keine Ahnung, was du aus dem Heim gewohnt bist, aber hier erscheinst du jeden Tag in frischen Sachen.»

      Naomi nickte.

      «Ab heute fängt dein neues Leben an. Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber falls du dir Mühe gibst, sind deine Nöte vorbei. Hier bei Babel kümmern wir uns um alles. Du bekommst eine Gratis-Zahnversorgung und einen zweimonatigen Gesundheitscheck bei den

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