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Bedürftige Frischmilch ausgegeben wird. Unter den in der Schlange Wartenden ist auch die Mutter der drei Monate alten Christiane. Der Kinderwagen, in dem das Baby schlummert, steht ein paar Schritte seitab. Als die junge Frau zu ihrem Herzbinkerl zurückkehren will, sind Kind und Wagen verschwunden. Alles noch so hektische Suchen bleibt vergebens: Christiane K. ist entführt worden. Die Polizei nimmt die Fahndung nach dem unbekannten Täter auf – ohne Erfolg. Auch der Geldbetrag, der für zweckdienliche Hinweise ausgesetzt wird, bringt der verzweifelten Mutter ihr Kind nicht zurück.

      Da schaltet sich CARE ein, die von den Amerikanern ins Leben gerufene und seit kurzem auch im hungerleidenden Wien tätige Hilfsorganisation: In einem über Rundfunk und Presse verbreiteten Aufruf verspricht sie demjenigen, dem es gelingen sollte, das entführte Baby ausfindig zu machen und damit dessen Befreiung zu ermöglichen, eine ungewöhnliche Belohnung: fünf jener mit ausgesuchten Lebensmitteln aus Amerika gefüllten CARE-Pakete, von denen in diesen kalorienarmen Tagen jedermann in Wien träumt. Die Aktion führt tatsächlich zum Erfolg: Das nahrhafte »Lösegeld« wird »kassiert«, und Frau K. erhält ihre kleine Christiane zurück. Was sich für heutige Ohren wie ein gut erfundenes Märchen, wie ein tränenreiches Rührstück von anno dazumal anhört, hat sich wirklich genau so zugetragen: Es ist eines der Ruhmeskapitel aus der an Höhepunkten reichen Chronik von CARE.

      Sorge, Obhut, Pflege – das bedeutet das englische Wort »care« auf deutsch. Um das am 27. November 1945 gestartete Hilfsprogramm für Europa zu benennen, könnte es also nicht besser gewählt sein, und tatsächlich verbindet jeder, der das Wunderwort zum ersten Mal hört, mit CARE die Vorstellung von Sorge, Anteilnahme, Hilfe. Streng genommen ist es jedoch die Abkürzung des bürokratisch-umständlichen Namens, den sich die segensreiche Charity-Organisation bei ihrer Gründung zugelegt hat: Cooperative for American Remittances to Europe.

      Die Idee, die hinter der Aktion steht, ist ebenso vortrefflich wie simpel: Die amerikanische Bevölkerung, ob Einzelpersonen oder Familien, ist dazu aufgerufen, ihren im Nachkriegs-Europa hungerleidenden Verwandten oder Bekannten mit Paketsendungen unter die Arme zu greifen. 15 Dollar ist der Standardpreis, 14 Kilo das Standardgewicht. Es sind Lebensmittelpakete, die eigentlich für US-Soldaten in Asien bestimmt sind und die je nach Bedarf zehn Tagesrationen für einen GI enthalten oder eine Tagesration für zehn. Vieles von dem, was nun statt dessen in die Hände jener Bedürftigen im kriegsgeschädigten Europa gelangt, die über spendierfreudigen Anhang in den USA verfügen, ist für die Empfänger vollkommen neu: Wie sonst hätten sie jemals Cornflakes oder Corned Beef kennenlernen sollen?

      Schon das Auspacken all der Herrlichkeiten gestaltet sich zum Familienfest: Da gibt es Butter-, Marmelade- und Puddingkonserven, Trockenmilch und Fruchtsaftpulver und als Krönung Schokolade. Cadbury ist die gängige Schokoladenmarke, ihr Name wird zum Mythos.

      Mit der Zeit wird das Angebot großzügig erweitert: Es folgen Pakete, die auch Zigaretten, Kaugummi und Seife enthalten, Textil-, Medikamenten- und Werkzeugspenden, eigene Säuglings- und Kleinkinderpakete, und für die aus den NS-Konzentrationslagern befreiten oder aus dem Exil heimgekehrten Juden stehen sogar koschere Nahrungsmittel bereit. Was im heizstoff armen Österreich während der kalten Wintermonate besonders dringend gebraucht wird, sind Wolldecken. Eine der glücklichen Empfängerinnen rühmt im Dankbrief an ihre Wohltäter das prachtvolle Grün der soeben eingetroffenen Decken: »Wir könnten uns daraus die schönsten Hubertusmäntel schneidern lassen, doch um in unserem ungeheizten Schlafzimmer nicht zu erfrieren, brauchen wir sie dringend fürs Bett.«

      Betuchte Spender können in der Weihnachtszeit sogar ein eigenes Feiertagspaket ordern – es enthält einen kompletten, auf mehrere Konservendosen aufgeteilten Truthahn. Doch nicht alle Amerikaner sind reich. Wollen sie dennoch ihr Scherflein beitragen, greifen sie nach der Billig-Variante für fünf Dollar fünfzig – ein solches CARE-Paket kann sich jeder leisten. Die Zahl der nach Österreich verschickten Sendungen schnellt daraufhin in immer astronomischere Höhen: Aus den 3200 Paketen der ersten Tranche wird mit den Jahren eine runde Million, und das bedeutet: Jeder siebente Österreicher kommt irgendwann einmal in den Genuß von texanischer Erdnußbutter und Chikagoer Corned Beef.

      Am 20. Juni 1946 sticht der Frachtdampfer »Antinous« mit den ersten 3200 für Österreich bestimmten CARE-Paketen von New York aus in See. Am 1. Juli trifft die Ladung in Antwerpen ein, setzt die Reise per Güterzug fort und wird an der Schweizer Grenzstation Buchs den Österreichern übergeben. In Wien wird unterdessen eine feierliche Zeremonie vorbereitet, bei der General Clark, der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Österreich, Bundespräsident Karl Renner das erste der von Präsident Truman persönlich gespendeten hundert Pakete übergibt. Auch Bundeskanzler Figl und die meisten seiner Minister, Bürgermeister Körner sowie Mitglieder des Wiener Gemeinderats wohnen dem symbolträchtigen Akt bei.

      Anschließend beginnt die Verteilung der Hilfssendungen an die glücklichen Empfänger. In der Strudlhofgasse im 9. Bezirk hat CARE Austria sein Büro, am Schottenring sein Lager. Auch in den Bundesländern werden Filialen eröffnet: zunächst in Salzburg, Graz, Linz, Klagenfurt und Innsbruck, bald auch in Rankweil, Leibnitz und Leoben. Die Adressaten werden per Postkarte aufgefordert, ihr Paket zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuholen. Der mit den örtlichen Behörden ausgehandelte Vertrag sieht vor, daß die Sendungen weder verzollt noch besteuert werden dürfen; die Zwischenlager an den Verteilerstellen werden unter besonderen Polizeischutz gestellt. Dreißig Angestellte sorgen für die reibungslose Abwicklung der Aktion.

      Dennoch treten Probleme auf: Wegen akuten Kohlenmangels muß im strengen Winter 1946/47 wieder und wieder der Strom abgeschaltet werden, und das bedeutet: Die Wiener CARE-Mission muß vorübergehend bei Kerzenlicht arbeiten, und da es im notleidenden Österreich auch hieran mangelt, werden aus den USA eigene Kerzenlieferungen angefordert. Die bei dieser Gelegenheit mitgelieferten Zigaretten sind als »good will«-Spenden für einheimische Arbeitskräfte bestimmt, auf deren Mithilfe – etwa bei anfallenden Autoreparaturen – auch die CARE-Leute angewiesen sind.

      Gleichzeitig versorgt die Wiener Außenstelle ihre New Yorker Zentrale mit Berichten, die für die amerikanische Presse bestimmt sind, um die allgemeine Spendebereitschaft weiter anzuheizen. So kann man in der »Saturday Evening Post« eines Tages lesen, daß Filmstar Joseph Cotten, der sich gerade zu den Dreharbeiten für den »Dritten Mann« in Wien aufhält, bei einer der Verteilaktionen eigenhändig mithilft, und auch die Nachricht, daß die Wiener Verkehrspolizisten auf Weisung von »oben« vor jedem CARE-Fahrzeug salutieren, läßt sich vortrefflich für Public-relations-Zwecke ausschlachten. Den Vogel schießt ein Musikclub aus dem US-Bundesstaat Maryland ab, dessen Vorstandsmitglieder es sich in den Kopf gesetzt haben, Franz Schubert mit einer CARE-Paketsendung zu huldigen: Man holt Erkundigungen ein, ob es in Österreich Nachkommen ihres Lieblingskomponisten gebe, und schaltet zu diesem Zweck sogar das Außenministerium ein. Resultat: Ur-Ur-Großneffe Walter Schubert, seines Zeichens Museumswärter in Wien, wird eines schönen Tages mit der Nachricht überrascht, er möge sich am Schottenring »sein« CARE-Paket abholen …

      Zwar können die milden Gaben aus Amerika nicht mehr sein als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, doch sie bringen immerhin einen Hauch von Luxus in manche der kalorienarmen Haushalte. Bei anderen, die nicht zum Zug kommen, erwecken sie freilich auch Neid. Doch allemal größer ist der Dank, und so wird CARE mehr und mehr zum Synonym für Völkerverständigung und tätige Nächstenliebe. Manche der glücklichen Empfänger heben die Schachtel, deren Inhalt sie in Verzückung versetzt hat, jahrelang als Souvenir auf; noch 2005 wird man von einer Wienerin erfahren, die in der Verlassenschaft ihrer verstorbenen Mutter auf einen Zeitungsartikel von 1946 gestoßen ist, der in bewegten Worten die Verteilung der ersten CARE-Pakete schildert. Unvergessen auch die Dankesgeste der Hietzinger Bezirksvorstehung, einen ihrer Kindergärten auf den Namen CARE zu taufen; und als am 1. Februar 1949 der Österreichische Ministerrat zu einer seiner Routinesitzungen zusammentritt, setzt Bundeskanzler Figl einen Antrag auf die Tagesordnung, das Organisationskomitee von CARE für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.

      Die letzten CARE-Pakete erreichen Österreich im Sommer 1954: Es sind Wolldeckenspenden für die Opfer der Hochwasserkatastrophe, die das Land heimgesucht hat. Zugleich wird den Empfängern von einst, die es inzwischen selber zu Wohlstand gebracht haben, die Möglichkeit zum Rollentausch eröffnet: Jetzt können auch sie ihre entbehrlichen Schillinge

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