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Wenn man sich das erklären will, so braucht man nur an jene immer vorkommenden und immer erstaunlichen Liebschaften zwischen großen, schönen Frauen und kleinen Männern, zwischen kleinen, häßlichen Weibern und schönen, jungen Männern zu denken. Alle Männer, die unter irgendeinem körperlichen Gebrechen leiden, an Klumpfüßen, Hinken, an Buckligkeit, ungewöhnlicher Häßlichkeit, an einem Brandmal oder Muttermal im Gesicht, an Roguins Übel oder andern derartigen Abnormitäten, an denen die Erzeuger unschuldig sind, haben nur die Wahl, zwei Wege einzuschlagen: sich entweder gefürchtet zu machen oder eine ganz besondere Herzensgüte zu beweisen; sich innerhalb der üblichen mittleren Grenzen zu bewegen, wie es die meisten Männer zu tun pflegen, ist ihnen nicht gestattet. Im ersten Falle gehört dazu Talent, Genie oder Kraft; ein Mann kann Schrecken nur einflößen durch die Macht des Bösen, Respekt nur durch Genie, Furcht nur durch viel Geist. Im andern Falle bewirkt er, daß man ihn liebt, er paßt sich der weiblichen Tyrannei wunderbar an und versteht besser zu lieben als die Leute von untadeliger Körperbeschaffenheit. Von tugendhaften Leuten erzogen, von den Ragons, Musterbildern der ehrenhaftesten Bourgeoisie, und von seinem Oheim, dem Richter Popinot, war Anselm durch sein reines Herz und sein religiöses Empfinden dahin geführt worden, daß die Vollkommenheit seines Charakters für sein leichtes körperliches Gebrechen reichlich entschädigte. Erfreut über ein solches Streben hatten Konstanze und Cäsar Popinot oft vor Cäsarine gerühmt. So kleinlich sie sonst waren, hatten die beiden Eheleute doch eine edle Seele und Verständnis für die Gefühle des Herzens. Dieses Lob erweckte ein Echo bei einem jungen Mädchen, das, bei aller Unschuld, in Popinots Augen das glühende Empfinden las, das immer schmeichelhaft wirkt, welches Alter, welche Stellung und welches Äußere der Liebende auch haben mag. Der kleine Popinot mußte viel mehr als ein schöner Mann Beweggründe haben, eine Frau zu lieben. War die Frau schön, so würde er sie bis zu seinem letzten Lebenstage anbeten, er würde sich aufreiben, um seine Frau glücklich zu machen, er würde sie Herrin im Hause sein lassen und sich ihr gern unterordnen. So empfand Cäsarine unbewußt, wenn auch vielleicht nicht so deutlich; wie im Fluge zog an ihr das Bild erfüllter Liebe vorüber und der Vergleich mußte ihr recht geben: sie hatte das Glück ihrer Mutter vor Augen, sie wünschte sich kein anderes Leben, ihr Instinkt ließ sie in Anselm einen zweiten, durch Erziehung vervollkommneten Cäsar sehen, wie sie selbst vollkommener durch ihre Bildung war. Sie erträumte sich Popinot als Bürgermeister eines Bezirks und gefiel sich darin, sich auszumalen, wie sie, gleich ihrer Mutter in Saint-Roch, eines Tages bei der Wohltätigkeitsorganisation ihres Kirchspiels tätig sein würde. Sie bemerkte schließlich gar nicht mehr, daß zwischen dem linken und dem rechten Beine Popinots ein Unterschied bestand, und sie wäre imstande gewesen, zu fragen: »Hinkt er denn?« Sie liebte sein klares Auge und liebte es, den Eindruck wahrzunehmen, den ihr Blick auf diese Augen machte, die sogleich in keuschem Feuer aufleuchteten, um dann melancholisch niedergeschlagen zu werden. Roguins erster Schreiber, Alexander Crottat, der jene frühzeitige Erfahrung besaß, die der ständige geschäftliche Verkehr verleiht, hatte ein halb zynisches, halb gutmütiges Wesen, das Cäsarine widerwärtig war, die schon die Gemeinplätze seiner Unterhaltung nicht ausstehen konnte. Popinots Schweigsamkeit ließ auf ein zartes Empfinden schließen, sie liebte sein halb melancholisches Lächeln, das ihm kleine Unerheblichkeiten abnötigten; Torheiten, die ihn lachen machten, lösten das gleiche Gefühl bei ihr aus, und so lächelten sie und betrübten sich zusammen. Dieser Eindruck, den er machte, hinderte Anselm aber nicht, sich in die Arbeit zu stürzen, und sein unermüdlicher Eifer gefiel Cäsarine, denn sie fühlte, daß, wenn auch die andern Kommis sagten: »Cäsarine wird den ersten Schreiber des Herrn Roguin heiraten«, der arme, hinkende, rothaarige Anselm doch nicht die Hoffnung aufgab, dereinst ihre Hand zu erhalten. Solch eine starke Hoffnung ist der Beweis einer starken Liebe.
»Wo geht er denn hin«, fragte Cäsarine ihren Vater und versuchte, unbefangen auszusehen.
»Er etabliert sich in der Rue des Cinq-Diamants! Und das, auf mein Wort, auf gut Glück!« sagte Birotteau, dessen Ausdruck weder von seiner Frau, noch von seiner Tochter verstanden wurde.
Wenn Birotteau auf irgendeine innere Schwierigkeit stieß, machte er es wie die Insekten vor einem Hindernis, er wich nach links oder nach rechts aus; daher wechselte er den Gesprächsgegenstand und behielt sich vor, über Cäsarine mit seiner Frau zu reden.
»Deine Befürchtungen und Gedanken über Roguin habe ich deinem Onkel erzählt, er hat darüber gelacht«, sagte er zu Konstanze.
»Du sollst doch niemals weiter sagen, was wir unter uns besprechen«, rief Konstanze aus. »Der arme Roguin ist vielleicht der ehrenhafteste Mann der Welt, er ist achtundfünfzig Jahre alt und denkt sicher nicht mehr an …«
Sie brach schnell ab, als sie bemerkte, daß Cäsarine aufpaßte, und gab Cäsar einen Wink.
»Dann habe ich also recht getan, abzuschließen«, sagte Birotteau.
»Du bist doch der Herr«, antwortete sie.
Cäsar nahm die Hände seiner Frau und küßte sie auf die Stirn. Ihre Antwort war die, mit der sie immer ihr stillschweigendes Einverständnis zu den Projekten ihres Mannes gab.
»Vorwärts,« rief der Parfümhändler, als er in den Laden herunterkam zu seinen Kommis, »um zehn Uhr wird der Laden geschlossen. Hand angelegt, meine Herren! Es handelt sich darum, während der Nacht sämtliche Möbel aus dem ersten Stock in den zweiten zu schaffen! Wir werden, wie man zu sagen pflegt, die kleinen Töpfe in die großen stellen müssen, damit mein Architekt morgen freie Hand hat.«
»Ist Popinot, ohne mich zu fragen, fortgegangen?« sagte Cäsar, als er ihn nicht sah. »Ach so, er schläft ja nicht mehr hier, ich hatte es vergessen.« Er wird weggegangen sein, dachte er, um die Ausführungen Vauquelins niederzuschreiben oder um den Laden zu mieten.
»Wir kennen den Grund für diesen Umzug«, sagte Cölestin, indem er im Namen der beiden andern Kommis und Roguets, die hinter ihm standen, das Wort ergriff. »Ist es uns gestattet, Sie zu einer Auszeichnung zu beglückwünschen, die auf das ganze Geschäft zurückfällt? … Popinot hat uns erzählt, daß Sie, Herr Birotteau …«
»Ja, Kinder, was wollt ihr, man hat mir den Orden verliehen. Deshalb haben wir, ebensosehr um die Befreiung des Landes, als um meine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion zu feiern, einige Freunde eingeladen. Ich habe mich vielleicht dieser Auszeichnung und allerhöchsten Gnade
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