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reizende Überraschung, Tina«, sagte sie, während sie sich im Stillen fragte, wie zwei Schwestern so unterschiedlich sein konnten. Bettina sah hübsch und gepflegt aus, sie wusste sich zu benehmen, und nichts an ihr schien auf eine Verwandtschaft mit der ungebärdigen Julietta hinzuweisen.

      »Ich dachte, ich könnte meiner kleinen Schwestern wenigstens schnell mal guten Tag sagen, Tante Sofia – oder kommt das jetzt ungelegen?«

      »Sie arbeitet, Tina«, erwiderte Sofia vorsichtig. »Und wir haben einen strengen Stallmeister. Private Besuche während der Arbeitszeit sind nicht vorgesehen, wie du dir vorstellen kannst. Wenn alle Pferdepfleger …«

      »Schon gut, entschuldige bitte, Tante Sofia, es war eine dumme Idee.«

      »Nein, warte bitte. Ich werde Herrn Wenger anrufen und hören, was er dazu zu sagen hat.«

      Sie wählte eine interne Nummer, gleich darauf erklärte sie dem Stallmeister die Situation. Als sie das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich lächelnd Bettina zu. »Du kannst sie begrüßen, hat er gesagt, Julietta hat sowieso noch keine Pause gemacht, das passt also. Mich musst du allerdings entschuldigen, Tina, ich habe noch einige Verpflichtungen.«

      »Du musst dich nicht um mich kümmern, Tante Sofia – wenn ich hier so unangemeldet aufkreuze, kann ich nicht erwarten, dass ihr Zeit für mich habt. Ich fahre dann auch gleich wieder. Sag mir nur, wo ich Julietta finde.«

      Sofia erklärte ihr den Weg zu den Ställen, dann verabschiedete sie sich mit einer Umarmung von der jungen Frau, um die Damen eines Wohltätigkeitsvereins zu begrüßen, die schon auf sie warteten.

      Bettina überquerte also den Schlosshof und erreichte die Ställe in dem Augenblick, da die Pfleger in die Pause gingen. Sie wurde höflich gegrüßt, aber nicht weiter beachtet. Es kam häufiger vor, dass Gäste der Schlossbewohner die Ställe besichtigten, und sie war ganz offensichtlich ein Gast.

      Als Julietta erschien und in der eleganten jungen Frau vor dem Stall ihre Schwester erkannte, erstarrte sie. Sie hätte nicht erklären können, warum Bettinas Anwesenheit auf Sternberg sie störte – erst später begriff sie, dass Sternberg für sie zu diesem Zeitpunkt bereits etwas Besonderes war, das sie mit ihrer Familie nicht teilen wollte. Es war ein Bereich, in dem sie sich durchzusetzen versuchte, und bei diesen Versuchen wollte sie von niemandem, der zu ihrem Familienleben gehörte, beobachtet werden.

      »Na, Kleine«, sagte Bettina lächelnd. »Du siehst ja schon wie ein echter Pferdepfleger aus.«

      Die Bemerkung war nett gemeint, kam jedoch bei Julietta, die noch ganz verunsichert war wegen Annas offener Kritik am Abend zuvor, vollkommen anders an. Sie fuhr sofort die Stacheln aus. »Wie immer also – ist es das, was du damit sagen wolltest? Was willst du überhaupt hier?«

      »Dich besuchen«, antwortete Bettina gekränkt. »Ich dachte, du würdest dich freuen, jemanden aus der Familie zu sehen. Wir fragen uns natürlich alle, wie du hier zurechtkommst, und deshalb …«

      Auch diese Worte waren nur dazu angetan, Julietta noch mehr gegen ihre Schwester aufzubringen.

      »Ich brauche keinen Babysitter«, rief sie wütend, »und ich brauche auch niemanden, der sich Sorgen um mich macht. Verzieh dich, Tina, ich komme sehr gut allein zurecht.«

      »Meine Güte, du hast dich wirklich kein bisschen verändert«, stellte Bettina fest, die allmählich auch zornig wurde. »Immer noch die alte Julietta, die nicht zufrieden ist, bevor sie nicht jeden Menschen in ihrer Umgebung gegen sich aufgebracht hat. Weißt du was? Geh doch zum Teufel!« Mit diesen wenig damenhaften Worten drehte Bettina sich um und rauschte davon.

      In ohnmächtigem Zorn sah Julietta ihr nach. Gerade hatte sie angefangen, sich ein wenig wohl auf Sternberg zu fühlen, weil Onkel Fritz vorschlagen wollte, ihr Silberstern anzuvertrauen. Und auch wenn Annas Worte am vergangenen Abend sie hart getroffen hatten: Das Mädchen war ehrlich gewesen und hatte nicht nur Kritik zum Ausdruck gebracht, sondern auch Bedauern darüber, dass Julietta bisher nicht die erhoffte ›große Schwester‹ gewesen war. Die Kritik hatte hart geklungen, aber da war eine Tür offen geblieben, durch die Julietta noch immer gehen konnte …

      Und ausgerechnet jetzt musste Bettina kommen und alles zunichte machen mit ihren dummen Bemerkungen, die Julietta an das erinnerten, was sie hinter sich lassen wollte. Ausgerechnet jetzt!

      »He, Julietta, die Pause ist vorbei, falls du das noch nicht bemerkt hast!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte Harry Wohlert, einem der Pferdepfleger.

      Ohne nachzudenken wiederholte sie Bettinas letzte Worte: »Geh doch zum Teufel!«

      »Wie bitte? Sag mal, spinnst du jetzt völlig? Wir haben einen Haufen Arbeit, und jede Minute, die du hier herumstehst und träumst, müssen wir alle zusammen nacharbeiten – ist dir das nicht klar?«

      Sie drehte sich zu ihm um, das Gesicht weiß vor Zorn. Sie sah nicht Harry Wohlert vor sich, ihren Kollegen, mit dem sie bisher eigentlich recht gut ausgekommen war, sondern die elegant gekleidete Bettina, in der die Pferdepfleger automatisch einen Schlossgast erkannt hatten, während sie selbst diese Rolle natürlich niemals würde ausfüllen können. Grelle Blitze durchzuckten ihr Gehirn, sie konnte nicht mehr klar denken, der Zorn nahm ihr den Atem. »Halt die Klappe und lass mich in Ruhe, du Idiot«, fuhr sie Harry an. »Du hast mir hier überhaupt nichts zu sagen, verstanden? Du bist schließlich nicht …«

      Ihr wurde das Wort abgeschnitten, aber nicht von dem völlig verdatterten Harry, sondern von Robert Wenger, dem Stallmeister, der plötzlich vor ihr stand, als wäre er aus der Erde gewachsen. »Julietta, in mein Büro!«, kommandierte er mit undurchdringlichem Gesicht. »Harry, geh zurück an die Arbeit.« Ohne weiteres Wort drehte er sich um und ging voran.

      Juliettas Zorn löste sich schlagartig auf, als sie ihm folgte. Sie konnte auch wieder klar denken und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, was nun folgen würde: Sie würde fliegen und mit Schimpf und Schande zu ihren Eltern zurückgeschickt werden. Sie fühlte sich schwach, am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verzogen und geweint. Jetzt, wo ihr etwas daran lag, dass sie bleiben konnte, jetzt würde man sie fortjagen …

      »Was fällt dir ein, so über Harry herzufallen?«, fragte Robert Wenger, nachdem er die Tür seines Büros hinter ihnen beiden geschlossen hatte. »Du hast ihn einen Idioten genannt, wie ich hörte – ich dulde so etwas in meinem Team nicht, und das weißt du. Außerdem hast du dich im Ton vergriffen, so spricht man mit niemandem, den man respektiert – und dass ich Respekt im Umgang miteinander erwarte, habe ich dir von Anfang an gesagt.«

      Er sah sie an, und sie erkannte plötzlich, dass ihr nur die Wahrheit noch helfen konnte. Wenn sie noch eine letzte Chance bekommen wollte, musste sie ihm sagen, was zu ihrem Ausfall geführt hatte. »Es hatte gar nichts mit Harry zu tun«, sagte sie und wunderte sich darüber, dass ihr die Worte so klar und deutlich über die Lippen kamen. »Sondern mit meiner Schwester, die plötzlich hier aufgetaucht ist. Die schöne und elegante Bettina, die mir mitgeteilt hat, dass die ganze Familie sich Sorgen um mich macht, ob ich es hier auch packe und so …« Sie verstummte und fuhr dann leiser fort: »Ich hätte sie erwürgen können, ehrlich.«

      »Und weil sie nicht mehr da war, hast du dich an Harry abreagiert?«, fragte Robert Wenger.

      »Ja«, antwortete Julietta. »Aber als ich es gemacht habe, wusste ich das nicht, Herr Wenger, das ist mir jetzt eben erst klar geworden, als Sie mir gesagt haben, dass ich mich unmöglich benommen habe. Ich war einfach nur stinkwütend, ich konnte nicht einmal mehr richtig denken …«

      »Ja, dann sagt man gern unentschuldbare Dinge«, bemerkte der Stallmeister. »Wann wirst du das lernen, Julietta? Wenn man wütend ist, hält man besser den Mund und denkt erst einmal nach. Eine einfache Regel.«

      »Ich entschuldige mich sofort bei Harry«, sagte Julietta. »Er hat mir überhaupt nichts getan, er muss mich ja für verrückt halten. Dabei habe ich ihn gern, er hat mir bisher die wenigsten Schwierigkeiten von allen gemacht, nicht mal an den Sticheleien der anderen hat er sich beteiligt. Mann, ich bin vielleicht eine blöde Kuh.«

      Sie bemerkte nicht, dass Robert Wenger ein Schmunzeln unterdrücken musste. Endlich

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