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      Kathrin war nicht wenig erstaunt, als sie am nächsten Tag wieder Martins Blondschopf entdeckte. »Ja, Martin, was suchst du denn hier? Brauchst du wieder neue Schuhe?« Martin blickte sie treuherzig an und ergriff ihre Hand. Kathrin erschrak. Irgend etwas war mit dem Jungen nicht in Ordnung. Sie zog ihn in den Wartebereich und hob ihn auf einen der Sessel. »Nun erzähl mir mal, was du auf dem Herzen hast, Martin. Wenn du keine neuen Schuhe haben willst, was möchtest du dann?« Martin blickte sie mit den blauen Augen seines Vaters an, und in Kathrins Magengegend spürte sie einen kleinen verräterischen Stich. Aber der Junge schwieg.

      Kathrin deutete auf seinen Schulranzen. »Du mußt doch sicher nach Hause und Schularbeiten machen?«

      Martin schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich groß bin, werde ich Bundeskanzler. Und dann schaffe ich alle Hausaufgaben ab.«

      »Da hast du dir ja allerhand vorgenommen. Aber meinst du nicht, daß du bis dahin noch einiges lernen mußt?« Martin zuckte nur mit den Schultern. »Na, zum Beispiel, pünktlich zu sein. Deine Eltern werden auf dich warten. Wenn du nicht gleich von der Schule nach Hause kommst, machen sie sich Sorgen.« Wieder schüttelte Martin nur den Kopf und lächelte Kathrin an. Langsam kam sie sich etwas hilflos vor. Hatten die Zauberschuhe so eine Faszination auf den Jungen ausgeübt, daß es ihn immer wieder in das Schuhgeschäft zog? Oder hatte er gar Ärger in der Schule?

      »Sag mal, Martin, haben dich vielleicht die großen Jungs geärgert? Wollen sie dir deine Zauberschuhe wegnehmen?«

      »Nein!« Martin verschränkte die Arme über der Brust, blickte sich gelangweilt um und seufzte tief. Kathrin mußte lachen. Zu komisch war diese Geste bei einem sechsjährigen Kind. Dann stand Martin plötzlich auf. »Darf ich wiederkommen?« fragte er.

      Kathrin nickte. »Aber nur, wenn du jetzt schnurstracks nach Hause gehst und deine Hausaufgaben machst. Wo ist überhaupt dein Bruder?«

      »In der Schule. Er hat länger Unterricht als ich.« Martin zog unter seinem Pullover einen Schlüssel hervor, den er an einer Kordel um den Hals trug.

      »Du bist ein Schlüsselkind?« staunte Kathrin. Das fand sie ganz schön leichtsinnig von Martins Eltern. So hatte sie den Vater eigentlich gar nicht eingeschätzt.

      Martin zuckte wieder mit den Schultern und seufzte. Dann drehte er sich wortlos um und ging. Kathrin schaute ihm lange nachdenklich hinterher. Die Kinder hatten es heutzutage auch nicht einfach. Wenn die Eltern berufstätig sind, bleiben die Kinder sich selbst überlassen. Mißbilligend schüttelte Kathrin den Kopf.

      »Fräulein, bedienen Sie hier…?«

      *

      Martin besuchte Kathrin fast täglich. Er begnügte sich damit, im Geschäft zu stehen und Kathrin zuzuschauen, wie sie Schuhe verkaufte. Kathrin brachte dem Kleinen einen Becher Limonade, den er ihr dankbar abnahm. »Hast du keinen Hunger?« wollte Kathrin wissen. Martin nickte. Kathrin holte eine ihrer Pausenschnitten aus der Tasche. Fast ehrfürchtig biß Martin hinein.

      Ziemlich heftig flog die Ladentür auf, und Martins Vater kam hereingestürmt. Er lief auf Kathrin zu. »Bitte, haben Sie meinen kleinen Jungen…« Im gleichen Augenblick entdeckte er Martin, der genußvoll Kathrins Schnitte kaute. »Da bist du ja! Sag mal, was fällt dir ein, hier herumzubummeln? Du hast nach der Schule sofort nach Hause zu gehen. Tante Friedel wartet auf dich mit dem Essen. Was tust du hier?«

      Martin stand mit hochrotem Kopf wie ein Zinnsoldat vor dem wuchtigen Sessel, und Kathrin befürchtete, daß sich gleich ein nasser Fleck in seiner Hose bilden würde. »Die Tante hat’s erlaubt«, stammelte Martin.

      Der Mann blickte Kathrin fragend an. »Was ist hier eigentlich los?«

      »Das wollte ich Sie auch fragen. Ist es denn nicht ein bißchen leichtfertig von Ihnen, so einem kleinen Jungen einfach einen Schlüssel um den Hals zu hängen? So ein Kind braucht seinen geregelten Tagesablauf, eine warme Mittagsmahlzeit und Obhut. Sie überlassen ihn ja völlig sich selbst. Dazu braucht man keine Kinder in die Welt zu setzen.« Kathrin wurde jetzt richtig ärgerlich.

      »Moment mal, wovon reden Sie eigentlich?« Der Mann runzelte die Augenbrauen. »Haben Sie Kinder, daß Sie sich ein Urteil darüber erlauben können?«

      »Zum Glück nicht. Ich habe keine Zeit für Kinder. Wenn ich den ganzen Tag im Laden stehen muß, wäre es unverantwortlich, so ein kleines Kerlchen einfach sich selbst zu überlassen.«

      »Da sehen Sie es! Sie reden klug daher, wie man Kinder erziehen muß, und haben selbst gar keine…«

      Der heftige Wortwechsel wurde durch Martins klägliches Weinen unterbrochen. Die beiden Erwachsenen schauten sich betroffen um.

      »Nicht streiten, nicht streiten«, schluchzte Martin. In einem plötzlich aufkommenden Gefühl zog Kathrin den Kleinen an sich. Er preßte sein Gesicht an ihre Bluse und schmierte sie voll Schmutz und Tränen.

      »Na na«, tröstete Kathrin ihn. »Wir haben uns doch gar nicht richtig gestritten. Wir haben nur etwas laut gesprochen.«

      »Das mag ich aber nicht!« Martins kleiner Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Kathrin strich ihm beruhigend über den Rücken.

      »Meine Güte, du hast die Dame ja ganz schmutzig gemacht!« Martins Vater wollte ihn erschrocken von Kathrin wegziehen.

      »Das macht gar nichts«, wehrte Kathrin ab.

      »Du mußt dich wieder mit der Tante vertragen«, sagte Martin und zog laut hörbar die Nase hoch. Bevor Martins Vater etwas sagen konnte, putzte Kathrin ihm mit ihrem Taschentuch die Nase.

      Der Mann seufzte, und es klang fast so wie Martins Seufzer. Dann blickte er Kathrin um Vergebung bittend an. »Tut mir leid, wenn wir Ihnen Ungelegenheiten bereitet haben. Übrigens, mein Name ist Peter Kilian. Ich weiß nicht, welcher Teufel den Jungen geritten hat, daß er immer hier herumschleicht. Aber glauben Sie mir, er ist nicht vernachlässigt. Vielleicht hat er nur ein bißchen zuviel Phantasie. Ihn hat wohl fasziniert, wie Sie ihm die Schuhe verkauft haben. Mich übrigens auch.« Er lächelte schüchtern und Kathrins Herz klopfte schneller. Gut sah er aus, dieser gepflegte Vater zweier semmelköpfiger Buben. Seine Frau war wirklich zu beneiden.

      »Wie wäre es, wenn ich Sie am Sonntag zu einem Picknick mit meiner ganzen Familie einlade? Sozusagen als Entschädigung für die Belästigung durch Martin. Wir werden Sie mit dem Auto abholen.«

      Kathrin wehrte erschrocken ab. »Aber er hat mich doch gar nicht belästigt. Im Gegenteil, er ist ein sehr lieber Junge…« Der Rest ging in Martins Aufschrei unter.

      »O ja, Paps! Wir laden die Tante ein! Am Sonntag!« Er hüpfte wie Rumpelstilzchen von einem Bein aufs andere.

      »Ich weiß nicht recht…« Kathrin schluckte. Sollte sie wirklich die Einladung dieses Mannes annehmen? Er sah verdammt gut aus, und in seiner Nähe bekam Kathrin Herzklopfen. Andererseits, was war schon dabei? Seine Kinder waren ja dabei und seine Frau. Da lernte sie wenigstens die Frau kennen, die sie um diesen Mann beneidete. Kathrin lebte allein, und die Sonntage waren für sie gleichförmig und langweilig.

      »Also gut, angenommen. Ich wohne in der Bodenbacher Straße, gleich an der Ecke am Kino.«

      Martin strahlte über sein tränenverschmiertes Gesicht, und Kathrin mußte lachen. Sie strich ihm über das zerstrubbelte blonde Haar. Peter Kilian ergriff ihre Hand. »Also abgemacht, bis Sonntag.«

      Im Gehen drehte sich Martin noch einmal um und winkte Kathrin zu. »Aber nicht vergessen! Bis Sonntag!« rief er ihr zu. Kathrin winkte zurück. Sie sah das Lächeln Peter Kilians, und plötzlich bekam sie weiche Knie. Aufseufzend ließ sie sich in den Sessel sinken.

      *

      Sorgfältig steckte Martin die Lego-Steine aufeinander. Es sollte unverkennbar ein Haus werden. Nur das Dach saß etwas schief. Vor Eifer klemmte er die Zunge zwischen die Lippen.

      »Du sabberst ja«, stichelte Kai und betrachtete seinen jüngeren Bruder ein wenig herablassend.

      Martin ließ sich keineswegs bei seiner Arbeit stören.

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