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gut, weil er als Kind einen Winter lang bei der Domkirche zur Schule gegangen war. Nachdem sie den steinernen Turm passiert hatten, stieg der Weg steil an. Rechterhand erhob sich eine Felswand, wie ein von der Natur errichteter Schutzwall. Linkerhand aber gähnte ein jäher Abgrund. Wer hier ausrutschte, fand sich auf schnellstem Wege in der Stadt wieder. Der Rat hatte zwar ein Geländer anbringen lassen, aber das war die letzten Winter über morsch geworden und bot keinen besonderen Schutz. Ein paar hundert Schritte weiter erhob sich der viereckige Torturm am Kurzen Domberg, der die Stadtgrenze markierte. Hier musste jeder, der aus der Stadt kam, die freie Stadtluft und das lübische Recht hinter sich lassen, hier begann das Gebiet des Dombergs, wo das Landrecht und die Gesetze des Ordens galten und wo der Komtur das Sagen hatte. Am Turm war ein schweres, zweiflügeliges Tor aus Eichenholz angebracht, das der Ratswächter bei Sonnenuntergang abschloss. Nachts hatte niemand aus der Stadt Zugang zum Ordensgebiet noch andersherum.

      Sie stiegen, besser gesagt, stolperten den Berg hinauf, bis sie endlich das Tor am Kurzen Domberg erreichten. Als ob diese Strecke zwischen den beiden Toren zum Nachdenken da sei, so ging es Melchior durch den Kopf, als er kurz über die Schulter zurückschaute, ob die Stadtbürger die Ordensburg wirklich betreten und sich den Gesetzen des Ordens ausliefern, ob sie das schützende Stadtrecht tatsächlich hinter sich lassen und sich in die Festung ihres Landesherren begeben wollten.

      Sie hatten es auf den Domberg geschafft, ins Zentrum der Macht, und standen in der Vorburg, einem mit einer niedrigen Mauer begrenzten Hof. Von hier aus ging es entweder in Richtung Norden durch die Dompforte in die Bischofsfestung oder geradeaus in das prächtige Kastell des Komturs, von einem Wallgraben umgeben, dessen Haupttor ein paar hundert Schritte entfernt lag.

      Jeden Ankömmling aus der Stadt beeindruckte hier als erstes die Übermacht der Mauern und Türme. Wenn auch die Mauern der Unterstadt ständig höher gebaut und verstärkt und neue Türme errichtet wurden, vermittelte deren Anblick doch nicht dasselbe Gefühl, wie wenn man zwischen den Türmen auf dem Domberg stand. Melchior war schon oft hier gewesen, doch jedes Mal, wenn er die kalten Mauern sah, überkamen ihn Befremden und Furcht. Der Orden war und blieb, und je mehr Zeit ins Land ging, um so unterschiedlicher entwickelte sich das Leben in den Ordensfestungen und den Städten. Um so unterschiedlicher waren die Gedanken, die man sich in den Ordenskonventen und innerhalb der Stadtmauern machte. Zugegeben, der jetzige Revaler Komtur Ruprecht von Spanheim war offener und einfacher als so mancher seiner Vorgänger und ein paar Mal hatte er den Stadtapotheker sogar als seinen Freund bezeichnet.

      Auf dem Domberg war der Boden sehr schlammig, auch hier in der zugigen Vorburg. Die Straßen waren nicht mit Steinen gepflastert, so wie in der Unterstadt. Sie wateten durch den Schlamm weiter zum Haupttor des Kastells. Zu ihrer Rechten lagen der Wallgraben und der Glockenturm, die Dompforte. Die von hier abzweigende Bischofsstraße führte zur Domkirche, deren achtflächiger Turm sich weit über die Mauern erhob.

      Nun standen sie unmittelbar vor der Kleinen Burg, dem Sitz des Komturs, und dem Langen Hermann, dem Turm, der den Städtern eindrucksvoll die Macht des Ordens demonstrierte. Die Festung war bereits vom dänischen König errichtet worden und der Orden hatte sie eifrig weiterbefestigt – er hatte die Mauern höher und an den Ecken vier mächtige Türme bauen lassen, die wie die Olaikirche von der See aus schon von Weitem zu sehen waren.

      Eine Apotheke gab es auf dem Domberg nicht. Der Komtur hatte zwar einen Leibarzt, der seinem Herren auch ab und zu Arzneien mischte, doch in den letzten Jahren hatte dessen Sehkraft nachgelassen und, wie Melchior befürchtete, nicht nur die Sehkraft, sondern auch der Verstand. Wenn Melchior für den Komtur Arzneien herstellte, benutzte er deshalb nicht die Rezepte dessen Leibarztes, sondern vertraute auf seine eigene Logik oder die Rezepte des Stadtarztes. Dem Revaler Rat hatte er natürlich nicht auf die Nase gebunden, dass er als Stadtapotheker manchmal auch dem Landesherren auf dem Domberg Arzneien mischte, denn so mancher Ratsherr würde hierzu eine gehässige Bemerkung machen. Mit der Behandlung der Herren auf dem Domberg hatte die Stadt nichts zu schaffen. Ruprecht von Spanheim war jedoch verglichen mit den vorherigen Komturen aus etwas anderem Holz geschnitzt. Wie es hieß, stammte er aus einer sehr armen Adelsfamilie aus Sachsen, der der Adelsstand schon lange kein Auskommen mehr bot. Ruprecht von Spanheim war der vierte Sohn der armen Rittersfamilie, deren Geld nicht einmal langte, den Jungen ins Kloster zu geben. So war Ruprecht schon in seiner Jugend dem Orden beigetreten, um als genügsamer Soldatenmönch aus eigener Kraft im Leben zurechtzukommen. Inzwischen hatte er es zum Komtur der wichtigsten Stadt Livlands gebracht und dies vor allem durch die Tapferkeit, die er auf dem Schlachtfeld bewiesen hatte. In den Kriegen gegen die Polen, Litauer, Russen und Schweden hatte Ruprecht von Spanheim mutig gekämpft, was ihm innerhalb des Ordens zu vielen Anhängern verholfen hatte. Doch selbst als Komtur war von Spanheim ein einfacher Mann geblieben, der für die Angelegenheiten der Unterstadt Verständnis aufbrachte. Seinen Beitrag hierzu leistete sicherlich das Bier, das die Stadt dem Domberg lieferte und das der Komtur keineswegs ablehnte. Ganz im Gegenteil, soweit Melchior wusste – denn recht oft schickte der Komtur seinen Diener in Melchiors Apotheke und ließ sich einen gewissen Trunk bringen, den Melchior aus Kräutern, Apfelsaft und Met herstellte und zuletzt ein rohes Ei hineinschlug. Und just wegen dieses Trunks hatte der Komtur ihn ein paar Mal seinen Freund genannt.

      Als Melchior und Dorn das Haupttor der Kleinen Burg erreicht hatten, wo um diese Tageszeit natürlich kein einziger Wächter stand, betraten sie ehrfürchtig den Innenhof – sie befanden sich im Zentrum der Ordensmacht. Und in diesem Zentrum stank es gewaltig nach Mist. Hier standen die Ställe und Scheunen des Ordens, auf dem Hof gackerten Hühner und im Stall grunzten ein paar Ferkel.

      Dorn sah sich suchend um, ob nicht ein Knecht in der Nähe sei, um dem Komtur ihren Besuch anzukündigen. Doch das war gar nicht nötig – beim Brunnen in der Ecke des Burghofes stand der Komtur persönlich und ...

      Der Komtur brüllte aus Leibeskräften.

      Er brüllte so laut, dass die Gerichtsdiener die Köpfe einzogen und der Ratsvogt erschrocken zusammenzuckte.

      Allerdings hatte das Gebrüll nicht das Geringste mit dem Erscheinen der Ratsgesandtschaft zu tun. Der hochehrenwerte Komtur hatte sich gerade einen Eimer kalten Wassers über den Leib schütten lassen. Als er die Ratsgesandten bemerkte, gab er einen grummelnden Laut von sich, stieß den zweiten vollen Wassereimer mit dem Fuß um und winkte zur Eingangstüre hinüber. Daraufhin wurde die Gesandtschaft über den Hof zum Südflügel der Burg geleitet, wo sich die Wohnräume des Komturs befanden. Dort mussten sie ein wenig warten, während Spanheim sich abtrocknete und umkleidete. Die Gerichtsdiener schwiegen betreten, der Syndikus kaute sorgenvoll auf seiner Unterlippe herum und Dorn bestaunte die Aussicht, die sich durch die Schießscharten auf die Domkoppel und den Tönniesberg eröffnete.

      Schließlich tauchte der Komtur auf und bat sie in seinen Empfangssaal. Als er unter den Wartenden Melchior erblickte, hellte sich seine Miene sofort auf.

      »Melchior, alter Schlawiner, du hier? Wer hat denn dich auf den Domberg gelassen?«

      Melchior verbeugte sich ehrerbietig und überreichte dem Komtur wortlos ein Tonfläschchen.

      »Bei der heiligen Jungfrau, dein Wundermittel!«, lachte Spanheim. Er griff nach der Flasche, setzte sie an und nahm einen kräftigen Schluck. Dann befahl er den Gerichtsdienern und dem Syndikus, sich aus dem Staube zu machen – der Domberg sei schließlich kein Jahrmarkt. Etwas später, als sie im Empfangssaal mit seinem niedrigen Gewölbe angekommen waren, seufzte der Komtur zufrieden und anerkennend:

      »Nein, man kann es nicht anders sagen, Herr Melchior, das ist ein Wundermittel ...«

      »Ich kann versichern, dass es sich nur um einen ganz gewöhnlichen Apothekertrunk handelt, mehr nicht«, erwiderte Melchior bescheiden.

      »Tod und Teufel, dem Komtur widerspricht man nicht, Melchior«, donnerte Spanheim. Seine üble Laune schien verflogen, wie immer, wenn er nach mehrtägiger Zecherei Melchiors Trunk zu sich genommen hatte. Sie standen nun im Empfangssaal, dessen ganze Einrichtung aus einem Kohlenbecken, einem Schreibpult und einem verblichenen Ordenswappen bestand.

      »Widersprich mir nicht«, wiederholte der Komtur. »Auf dem Schlachtfeld, danke der Nachfrage, komme ich allein zurecht, ja, in meiner Jugend habe ich ganze Heere in Stücke gehauen. Und bei Festgelagen trinke ich sämtliche Witzbolde

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