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mehr konnte, gab er die Gerte an den ältesten Sohn weiter. Vicko hatte die Aufgabe mit Freude übernommen und ihn gequält, wann immer es möglich war. Auch mit ihm hatte er noch eine Rechnung offen.

      »… er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde …«, rezitierte der Krüppel, und Albert Puster schwor sich, dass der Nächste auf seiner Liste, wenn die Arbeit hier erledigt wäre, der Bremer Burgmann sein würde.

      Die Rathaustür öffnete sich, und die Garde des Bürgermeisters erschien: Sechs Männer traten aus dem Rathaus, schauten sich um und bildeten einen Halbkreis. Dann erschien der Bürgermeister und trat in den Halbkreis, der sich sodann zu einem engen Kreis um ihn herum schloss. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und marschierte ohne Umweg zu Grevenrodes An wesen davon. Albert Puster stand auf, nahm die Krücken, die er einem Krüppel vor St. Aegidien gestohlen hatte, und folgte der Eskorte. Der Bürgermeister wurde zu seinem Haus begleitet. Zwei Männer der Eskorte gingen mit ihm hinein. Die anderen kehrten um. Das ging jetzt schon seit Tagen so. Als ob der alte Pfeffersack ahnen würde, dass es jemand auf ihn abgesehen hatte. So war ihm jedenfalls nicht beizukommen, es sei denn vom Speicher oder Dach eines der angrenzenden Häuser, aber es wäre verdammt schwer dorthin, und vor allem schnell genug wieder wegzukommen. Wie einfach war es dagegen vor zwei Monaten in Wismar gewesen. Morgen war Sonntag, und es blieb abzuwarten, ob Balthasar Grevenrode seine Recken auch beim Kirchgang um sich scharen würde. Albert Puster nahm die Krücken unter seinen Mantel und verschwand flinken Schrittes in Richtung seiner Unterkunft am Hafen. Die Holzhütte bestand aus einem einzigen Raum, in dem ein Herdfeuer für beißenden Gestank sorgte. Auf dem blanken Lehmboden lag eine Strohmatte, und ein Kleinkind krabbelte zwischen Geschirr und Unrat herum. Über dem Feuer hing ein Kessel mit einer dünnen Brühe. Es roch nach Fisch. Albert Puster warf die Krücken in eine Ecke des dunklen Raumes, zog den stinkenden Mantel aus und legte sich auf die Strohmatte.

      »Komm!«, sagte er zu der Frau.

      Am nächsten Morgen wählte Albert Puster unter den vielen Verkleidungen, in die er zu schlüpfen vermochte, den Sonntagsstaat eines Kaufmannsgesellen und machte sich auf den Weg zur Kirche. Obwohl er eine halbe Stunde vor Beginn der Messe in der Kirche war, fand er die Bänke der Kaufmannsgesellen schon besetzt und stellte sich in einen hinteren Teil des Gotteshauses. St. Marien füllte sich langsam. Wer hier zur Kirche ging, gehörte zu einer der vielen Lübecker Kaufmannsfamilien. Nach den Gesellen erschienen die kleinen Kaufleute und dann die Reichen der Stadt. Zum Schluss betrat der Bürgermeister mit seiner Sippschaft, zwei Kindern und einem großen Mann, dem eine Amme mit einem Kleinkind folgte, die Kirche. An der Seite des großen Mannes ging ein Schwarzhaariger mit langen Locken und südländischen Gesichtszügen. Als sie sich gesetzt hatten, öffnete sich die Sakristei, und der Priester betrat den Altarraum. Albert Puster kannte die Formeln und Gebete, die in den nächsten zwei Stunden gesprochen werden würden, auswendig, aber sie bedeuteten ihm nichts. Das Einzige, was sie wachriefen, war die Erinnerung an Schmerzen und Demütigung.

      Mit dem Segen des Priesters verließen die Gläubigen das Gotteshaus in der umgekehrten Reihenfolge, in der sie erschienen waren. Die Gesellen verschwanden durch die Seiteneingänge und strebten den nächsten Gasthäusern zu. Albert Puster hatte mit ihnen die Kirche verlassen und stellte sich an die Ecke der Fischstraße. Der Bürgermeister betrat den kleinen Platz vor der Kirche. Einige Kaufleute standen bei ihm. An den Mann war nicht heranzuommen. Er hielt sich ausschließlich zwischen Rathaus, Koberg und St. Marien auf. Nur ein einziges Mal war er in die andere Richtung gegangen und in einem Haus am Kohlmarkt verschwunden. Albert Puster ging über den Marktplatz, der sonntags jede Geschäftigkeit vermissen ließ. Er schaute sich um, und plötzlich wusste er, wie er zum Schuss kommen würde.

      Es war ein gewagtes Unterfangen. Am Marktplatz, gegenüber dem Rathaus, war das Haus eines Goldschmieds mit einem Gerüst versehen worden, das anscheinend zu Dacharbeiten dienen sollte. Er schätzte die Entfernung zwischen Dachgeschoss und dem Eingang des Rathauses auf ungefähr 160 Meter. Für einen guten Schützen war das machbar, und Albert Puster war ein Meisterschütze.

      Noch am gleichen Abend kehrte er im Schutz der Dunkelheit auf den Marktplatz zurück. Eine Leiter führte an der Ostseite des Gerüstes hinauf zu einem ersten Podest. Albert Puster sah sich um. Aus einem der Wirtshäuser drang Lärm, doch der Marktplatz lag einsam und dunkel vor ihm im Nieselregen. Er erklomm die Leiter und lief das Gerüst ab, das zu seiner Freude bis an die rückwärtige Seite des Eckhauses reichte. Hier war ein Flaschenzug angebracht, mit dem die Ziegel auf das Dach befördert wurden. Er ging zurück zur Marktfront. Das Gerüst war feucht, und die Bohlen und Äste, auf denen er sich bewegte, waren glitschig. Vom äußersten Ende des Gerüsts konnte er den Marktplatz überblicken. Hier oben am Rande des Daches war die beste Position. Von diesem Schuss würden die Lübecker noch in hundert Jahren reden.

      Der Bürgermeister hatte einen geregelten Tagesablauf. Um sieben Uhr morgens verließ er sein Haus am Koberg, ging, umringt von seinen Wachen, die Breite Straße hinunter bis zum Rathaus, das er pünktlich zum Mittag wieder verließ, um zum Koberg zurückzulaufen. Am Nachmittag trat er den gleichen Weg erneut an, blieb dann aber nur zwei Stunden in den Amtsräumen, bevor er den Heimweg antrat. Zu dieser Stunde wurden die letzten Marktbuden abgeräumt, die Goldschmiede in den Lauben des Rathauses hatten ihre Geschäfte dann bereits geschlossen und die Dachdecker ihre Arbeit am Haus eines Goldschmiedemeisters eingestellt. Albert Puster hatte das drei Tage lang beobachtet. Am Donnerstagabend wartete er im Dunkel des Gerüsts. Es war lausig kalt für einen Tag in der zweiten Märzhälfte, und der Regen wollte kein Ende nehmen. Albert Puster schaute die Straße hinauf und hinunter. Niemand trieb sich bei diesem Wetter und zu dieser Stunde noch ohne triftigen Grund auf den Gassen herum. Er erklomm das Gerüst, schlich über glitschige Bohlen bis zur Marktfront und holte die Armbrust aus seinem Hanfsack. Er trat in den Spannbügel und zog die Sehne des Bogens zurück, arretierte sie in der Nuss, schob einen Bolzen ein und legte sich bäuchlings auf die feuchten Gerüstbohlen. Er peilte über seine Waffe auf die Tür des Rathauses. Die Sicht wurde durch den Regen und die Dunkelheit beeinträchtigt. Es war kalt, doch die Kälte machte Albert Puster nichts aus. Sie brachte ihm eine Menge Geld ein. Früher hatte er für nichts gefroren. Das Einzige, was ihm Sorgen machte, war dieses merkwürdige Verschwimmen der Konturen, wenn er Ziele in größerer Entfernung anpeilte. Er hatte es schon einige Male beobachtet, aber den Gedanken daran immer wieder verdrängt. Jetzt fiel es ihm erneut auf. Seine Augen waren schwächer geworden. Albert Puster hatte keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken. Die Rathaustür öffnete sich, und die Wachen traten heraus, formten einen Halbkreis, und dann trat der Bürgermeister durch die Tür. Albert Puster atmete aus, drückte den Abzug der Armbrust und gab dadurch den Bolzen frei. Der Bürgermeister fiel. Eine Wache schrie, aber da war Albert Puster schon auf den Beinen, streifte den ledernen Riemen der Armbrust über seinen Kopf und lief zu dem Flaschenzug. An dem dicken Hanfseil glitt er nach unten. Er spürte das Pflaster unter seinen Sohlen, rannte hinunter zur Schüsselbudengasse und verschwand in einem der Gänge, die hier die Hinterhöfe miteinander verbanden.

      Albert Puster wusste, dass er entkommen war. Er hatte sich den Fluchtweg genau überlegt, war ihn mehrfach abgelaufen, und zudem war er schneller als die Wachen. Zehn Minuten später hatte er seine Waffe versteckt, den zerschlissenen und durchnässten Umhang abgeworfen und eine Spelunke am Hafen betreten. Er bestellte ein Starkbier und einen Schnaps.

      »Scheißwetter«, sagte er zu einem Fischer, der ein Dünnbier vor sich stehen hatte.

      »Das kann man wohl sagen.«

      »Trinkt Ihr einen mit mir?«

      Der Fischer hatte ein breites, fast zahnloses Lächeln.

      Albert Puster bestellte Starkbier.

      »Auf einen guten Fang«, prostete er dem Mann zu.

      »Das wird nichts. Seit Tagen können wir nicht auf die Ostsee rausfahren, und auf der Trave fängt man nicht genug.«

      »Ich hätte da einen Vorschlag. Komm, setzen wir uns.«

      Albert Puster verließ noch in der gleichen Nacht Lübeck an Bord eines Fischerbootes. Er hatte sich Kleider

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