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erreichen. Geschwind zog Enderlin den Brief aus der Kutte und hielt ihn dem Jungen hin. Dieser starrte das Papier an und rührte sich nicht.

      »Verwahre ihn gut und sprich mit niemandem ein Wort darüber. Dann werde ich dich in meine Gebete einschließen, und Gott wird dich mit Klugheit und Weisheit segnen, sodass dir die Schreibübungen bald zügiger von der Hand gehen als deinem Freund.«

      Der Junge schielte zu den anderen Scholaren im Garten, mit einer ungeahnten Sehnsucht in den Augen. Gott hatte Enderlin anscheinend die richtigen Worte in den Mund gelegt.

      In dem Moment, als der Junge den Brief an sich nahm und unter sein Wams steckte, trat Gregor aus der Latrine und sah zu ihnen herüber. Hoffentlich hatte er nichts gesehen. Die anderen beiden Brüder waren so in ihre Gartenarbeit vertieft, sie hatten sicherlich nichts von der Übergabe mitbekommen. Geschwind ließ Enderlin den zweiten Eimer in den Brunnen und zog ihn gefüllt wieder nach oben. Das Herz pochte heftig in seiner Brust. Er schielte zu Bruder Gregor, doch der machte sich bereits am Kräuterbeet zu schaffen.

      Enderlin arbeitete weiter im Garten, bis die Glocken zur Sext läuteten. Nach dem Mittagsmahl widmete er sich zufrieden dem Buch Daniel, das ihm zum Studium überlassen wurde. Er las von Daniel, wie er zum König gebracht und gebeten wurde, diesem die Schrift zu deuten. Enderlin vergaß sich in dem Wort Gottes, bis die Glocken ihn zur Non riefen. Bevor er die Abteikirche betreten konnte, fing ihn der Prior ab. »Hiernach kommst du zu mir.«

      Enderlin schlug das Herz bis zum Hals. Gregor musste doch etwas gesehen haben. Vielleicht hatten sie dem Jungen den Brief abgenommen. Enderlin atmete tief durch, sah bereits die Latrinen vor sich, die er wieder ausleeren und säubern musste. Was hatte er nur getan?

      Und doch hatte er mit dem Brief im Sinne des Priors gehandelt, nur sah dieser es wahrscheinlich nicht ein. Enderlins Knie wurden weich, er musste sich während der Lobgesänge an der Kirchenbank abstützen. Er hatte keinen Fehler begangen, redete er sich ein. Die einzige Verfehlung, die der Prior ihm nachsagen konnte, war, dass er einen Bogen Papier und Tinte aus dem Skriptorium entwendet hatte.

      Nach der Hore begab er sich mit Prior Jakob Hochstraten zum Priorhaus. Dieser sprach auf dem Weg kein Wort, verbarg die Hände in den Ärmeln der Kutte. Enderlin wagte nicht, ihn anzusehen. Jakob Hochstraten führte ihn in die Kemenate und bot ihm einen Lehnstuhl vor dem Kamin an. »Setz dich«, sagte der Prior und legte zwei Holzscheite nach.

      Enderlin nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem ein Schaffell lag und der keinesfalls zur Bescheidenheit eines Klosters passte. Zu den gotteslästerlichen Prunkstücken wie den aufwendig geschmiedeten Kerzenhaltern und dem imposanten Wandteppich mit der Abbildung des Paradieses war ein neues, mannshohes Gemälde hinzugekommen. Es zeigte das Jüngste Gericht und musste ein Vermögen gekostet haben. Enderlin löste den Blick von diesen blasphemischen Gegenständen und wandte sich dem Prior zu. Dessen Miene war ernst und undurchdringlich. Enderlin rieb seine feuchten Hände an dem Habit trocken.

      »Ich muss dir was sagen«, begann der Prior. Er faltete die Hände vor dem Bauch. Das große Kreuz um seinen Hals flackerte im Schein des aufflammenden Feuers. Enderlin atmete tief ein, konnte es kaum abwarten, bis Jakob Hochstraten endlich sagte, welche Verfehlung ihm aufgefallen war. Wieso hatte er mit der Maßregelung nicht bis zur Kapitelversammlung gewartet? Wollte er ihn gar in den Klosterkerker werfen? Noch bevor er die Gedanken sortieren konnte, sprach der Prior weiter: »Dein Vater hat diese Welt verlassen.«

      Die Nachricht traf ihn wie ein Hammerschlag. Es ging um seinen Vater? Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Hände krampften sich um die Armlehnen.

      »Entweder hat er sich selbst gerichtet, oder jemand anders hat ihn dran glauben lassen.«

      »Was?« Was ging in der Welt außerhalb des Klosters nur vor sich? Enderlin hatte seinen Vater seit vier Jahren nicht mehr gesehen, und nun sollte es auf ewig so bleiben? Er rief sich das Gesicht seines Vaters ins Gedächtnis. Entschlossen, stolz. Und zu gutmütig, wenn es um Jonata ging.

      Der Prior hob die Hände. »Nun, es ist nicht sicher.«

      Enderlin ließ sich in den Stuhl sinken. »Was geschieht mit dem Haus und der Brauerei?« Seine Mutter und sein Bruder Lucas hatten das Zeitliche gesegnet, Jonata war verschwunden und sein Halbbruder Kuntz ein Schwachkopf. Außerdem noch viel zu jung, um einen Hausstand zu führen.

      »Das weiß ich nicht«, sagte der Prior. Er räusperte sich. »Du hast die geistliche Leitung der Brauerbruderschaft einst innegehabt. Ist es dir ein Wunsch, die Andachtsmesse für deinen verstorbenen Vater zu halten?«

      Enderlin lächelte innerlich. Der Prior schien doch noch Vertrauen in ihn zu setzen. Wenn Sebalt Magnus zu der Beisetzung erscheinen würde, könnte er von Angesicht zu Angesicht mit dem Brauerssohn sprechen und ihn von seinem Anliegen überzeugen. Vielleicht würde das Ableben seines Vaters Jonata aber auch von selbst nach Köln zurücktreiben.

      »Es wäre mir eine große Freude, meinem Vater die letzten Worte zu sprechen«, sagte Enderlin und entspannte sich. Warum hatte er mit Gott gehadert? Er würde alles zum Guten richten.

      ***

      Margret hatte Bechtolt gewaschen, und zu dritt hatten sie ihn in das beste Gewand gekleidet. Figen hatte ihm nicht ins Gesicht blicken können aus Angst, der Tod würde ihr Herz zu Eis gefrieren lassen. Sie hatten ihn in der Brauerei aufgebahrt, damit sich Freunde und Mitglieder der Bruderschaft von ihm verabschieden konnten, doch kaum jemand erschien, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Selbst die Braumeister ließen sich nur spärlich blicken. Auch für die Totenwache fühlte sich keiner der Brauer verantwortlich, wie es in einer Bruderschaft normalerweise üblich war. Also wechselten sich Margret, Elisabeth und Figen ab.

      Nun saßen sie in der Stube, um zu besprechen, wie es weitergehen sollte. Die Bruderschaft hatte Margret einen Gulden aus der Büchse als Witwengeld überlassen. Mehr hatten sie nicht zu erwarten, da Bechtolt zum Schluss sein Gewerk nicht mehr zur Zufriedenheit Mergentheims ausgeführt hatte. Zudem hatte der Meister der Bruderschaft Margret auferlegt, innerhalb eines halben Jahres einen Brauer zu ehelichen, um das Gewerk weiterführen zu können. Ohne Lehrlinge und Gesellen konnten sie selbst sowieso keine Bottiche anfeuern, ganz zu schweigen davon, dass sie zuerst Gerste und Hopfen für den Brauvorgang erstehen mussten.

      »Du musst dir schnell einen neuen Gatten suchen«, betonte Elisabeth noch einmal.

      Margret schüttelte entschieden den Kopf. »Ich lasse mir keine Vorschriften machen! Und ich werde keinen von den Brauern heiraten.«

      »Wie sollen wir sonst über den Winter kommen? Das Witwengeld von der Bruderschaft wird nicht ewig reichen.«

      »Dann müssen wir eben sparsam sein«, entgegnete Margret.

      Das sagte die Richtige! Sie war doch diejenige, die sich bisher jedes halbe Jahr neue Stoffe kaufte, aus denen sie sich aufwendige Kleider schneidern ließ. Heute trug sie ihr grünes Kleid mit dem kleinen Schulterkragen und den bauschigen Ärmeln. Das Mieder war aus klein gepunkteter Seide, der Rock aus Samt mit einem roten Seidenbesatz. Figen wollte nicht wissen, wie viel es gekostet haben mochte. Vielleicht war das auch ein Grund, warum kein Geld mehr in der Münzschatulle war.

      »In diesem Haus sind vier hungrige Mäuler zu stopfen«, widersprach Elisabeth.

      »Dann müsste sich eine von euch beiden wohl eine andere Anstellung suchen.«

      Figens Knie wurden weich. Wo sollte sie denn hin? Ihre Eltern waren entschlafen, ihre zwei Geschwister im Kindsbett verstorben. Es gab nur noch ihre Base Fronica, doch die Schwester ihres Vaters verdingte sich als Hübschlerin und war ihr nicht wohlgesonnen. Sie hatte Figen vorgeworfen, für den Tod ihres Bruders verantwortlich zu sein, da sie sich nicht um ihn gekümmert habe. Als ob Figen ihren Vater vernachlässigt hätte! Sie hatte vor dem Nichts gestanden, als sie ihn verlor, war froh gewesen, in diesem Haus eine Bleibe gefunden zu haben. Und nun sollte sie sich eine neue Anstellung suchen? Wer würde sie nehmen, wenn sie aus dem Hause kam, in dem der Herr ermordet worden war?

      »Wer nimmt mich in meinem Alter noch als Magd?«, jammerte Elisabeth. Sie würde es noch schwerer haben, sie zählte an die fünfzig Lenze. »Außerdem brauchst du Hilfe, wenn dein Kind auf der Welt ist.«

      Jetzt

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