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wie man richtig im Sattel saß, und sie hatten kleine Wettrennen gemacht. Diese Ausflüge würden ihr nun zugutekommen.

      Sie ritten am Rischebach entlang bis zum Schlossplatz, wo er sich mit dem Faulen Bach vereinigte und über die klappernden Mühlräder sprudelte. Sie verließen Wittenberg durch das Schlosstor. Es stank bestialisch nach Kalk und Urin. Zwei Gerber standen im Bachlauf vor schräg gestellten Baumstämmen und schabten Tierhäute ab.

      Als sie sich etwas von der Stadt entfernt hatten und frische Luft atmen konnten, blickte Jonata zurück. Das Schloss und die Türme der Stadtkirche erhoben sich hoch über den Häusern. Die Sonne brach zwischen den Wolken durch und brachte den Elbfluss zum Glitzern. Ihre Hände krampften sich um die Zügel. Sie hatte geglaubt, ihrem Vater irgendwann ihr neues Heim zeigen zu können. Diese Schönheit, die Freiheit, ihre Familie, ihr Zuhause.

      »Grüble nicht so viel«, sagte Mathes.

      »Wie könnte ich nicht!«

      »Deine Antworten liegen in Köln. Lass uns so schnell wie möglich dorthin gelangen.«

      »Du hast recht.«

      Sie ritten im Galopp weiter. Der Wind wehte Jonata ins Gesicht, zerrte an ihrer Haube und befreite ein paar Strähnen. Wie schnell würden sie es nach Köln schaffen? Hatten sie überhaupt eine Chance, rechtzeitig zur Beerdigung dort zu sein, oder waren sie schon zu spät? Dann würde sie zumindest nach dem Mörder ihres Vaters suchen. Auf die Obrigkeit konnte man sich nicht verlassen. Das hatte sie erleben müssen, als ihr Bruder Lucas vor vier Jahren verstorben war. Damals hatten die Stadtdiener nicht herausgefunden, wie er zu Tode gekommen war. Sie hatte es von Simon erfahren. Lucas hatte sich mit Simons Bruder nach dem Besuch einer Schenke wegen einer Frau geprügelt. Lucas war in der Rangelei nach hinten gefallen und hatte sich den Kopf an einer Steintreppe aufgeschlagen. Sie schluckte die Tränen hinunter, wollte sich nicht von der Trauer überwältigen lassen.

      Sie ritten an Feldern vorbei und durch einen Wald. Als sie eine Reisegruppe überholten, pfiff ihnen ein breitschultriger Mann auf einem Pferd hinterher. »Ihr da, wollt ihr uns nicht begleiten?« Er grinste breit und entblößte dabei mehrere verfaulte Zähne. Jonata lief es eiskalt den Rücken hinunter, und sie musste an diesen widerlichen Halunken denken, der sie vor Jahren auf der Reise von Köln nach Sachsen hatte schänden wollen.

      »Kein Bedarf«, rief sie und trieb ihre Stute mit Druck auf die Flanke zur Eile an. Natürlich wären sie in der Gesellschaft einer Reisegruppe sicherer vor Wegelagerern, aber sie hatte erfahren müssen, dass auch in diesen Gruppen Gefahr lauerte. Sie war froh, nur mit Mathes unterwegs zu sein. Er würde ihr niemals etwas zuleide tun, im Gegenteil, er würde sie beschützen.

      ***

      »Möhren, Sellerie, Lauch, Zwiebeln, einen Weißkohl und fünf Pastinaken«, bat Figen.

      Die Bäuerin verzog grimmig das Gesicht. Dieses unhöfliche Weib! Wenigstens ein Lächeln hätte sie sich abringen können, schließlich hatte sie letzte Woche erst einen Schilling bekommen. Figen entschied sich noch für ein paar Zwetschgen und eine Dolde Weintrauben.

      »Hab Dank«, sagte sie und nahm den Korb entgegen. Sie schob sich eine Traube in den Mund, schloss die Augen und zerbiss sie. Die Süße ergoss sich wie ein Wasserfall über ihre Zunge. Köstlich! »Ich werde Euch das Geld bald zurückzahlen«, sagte sie zu Seitz.

      »Betrachtet es als Geschenk«, sagte er.

      »Aber ich kann doch nicht –«

      Er schüttelte den Kopf. »Ihr habt zurzeit weiß Gott andere Sorgen.« Sie kamen an dem Stand mit den Süßspeisen vorbei. Seitz deutete mit einer Kopfbewegung dorthin. »Wenn die Zeit gekommen ist, könnt Ihr Euch gerne erkenntlich zeigen. Ich habe eine Schwäche für Mandelküchlein.«

      Sie spürte ein freudiges Kribbeln in ihrem Bauch. Bald würde sie ihm den Schilling zurückzahlen und ihm eine Leckerei spendieren können.

      »Mein Vater wartet auf die Hornplatten. Begleitet Ihr mich? Danach bringe ich Euch nach Hause und helfe Euch beim Tragen.«

      Sie nickte. »Sehr gern.«

      »Der Hornhändler schickt seinen Sohn übrigens auch zu einer privaten Winkelschule«, sagte Seitz, als sie in den Steinweg einbogen. »Er ist sehr zufrieden. Sein Abkömmling kann bereits besser lesen als er.« Er lachte.

      »Hat er vielleicht auch eine Tochter?«, fragte Figen und lachte ebenfalls.

      »Das weiß ich nicht, aber es wird genug Bürger Kölns geben, die ihre Töchter in Eure Schule schicken. Private Schulen sind beliebt. Da die Klassen klein sind, lernen die Kinder schnell, und die Familien zahlen gut. Ein großer Vorteil.«

      Das hörte sich vielversprechend an. »Dann müssen die Bürger Kölns nur noch von meiner Mädchenschule erfahren.«

      Seitz grinste breit. »Ich werde auf den Versammlungen Eure Schule anpreisen. Meine Schwestern werden die Ersten sein, die auf Euren Schulbänken sitzen.«

      »Ich muss erst mal die Schenke säubern und herrichten«, gab Figen zu bedenken. Sie war froh, dass Seitz sie zu unterstützen gedachte.

      »Und Ihr müsst Euch einen Lehrplan überlegen, Bücher kaufen, Wachstafeln, Papier …«

      Figen ließ die Schultern hängen. Natürlich! Wie hatte sie so dumm sein können? Sie hatte kein Geld, um all dies zu kaufen. Wie wollte sie ohne Utensilien eine Schule eröffnen?

      »Was ist?«, fragte Seitz.

      »Bücher und Wachstafeln kann ich mir nicht leisten.«

      »Aber Ihr habt doch Schriften, oder nicht?«

      Figen nickte. »Luthers Thesen, seine Texte ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹ und ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹. Außerdem die Legende der heiligen Ursula.«

      »Nehmt doch ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹. Der Text ist einfach und von lehrreichem Inhalt. Und sobald Ihr über mehr Geld verfügt, kauft Ihr Euch weitere Schriften.«

      Figens Stimmung hob sich. Vielleicht konnte sie wirklich damit beginnen.

      »Ich empfehle Euch eine Grammatik, die Psalter und das Paternoster. Ihr solltet erbauliche Werke mit den Mädchen studieren. Am besten natürlich die Schriften von Luther.« Er zwinkerte ihr zu. »So werden sie nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern auch zum rechten Glauben erzogen.«

      Luthers Texte – voller Hoffnung und Zuversicht – wären das richtige Lehrmaterial für die jungen Seelen. Figen würde die Mädchen lehren, die Texte zu studieren und den eigenen Kopf zu gebrauchen. Ablassbriefe ade! Den wahren Glauben an Gott sollten die Zöglinge lernen.

      Allerdings durfte sie ihr Wirken dann nicht an die große Glocke hängen. Vor zwei Jahren hatten Papst Leo, Kaiser Karl V. und der Kölner Erzbischof Hermann von Wied veranlasst, Luthers Schriften öffentlich auf dem Domhof zu verbrennen. Diesem abscheulichen Ereignis hatte der Kaiser persönlich beigewohnt. Figen war nicht dort gewesen, doch sie konnte sich gut an die Schimpftiraden des Buchführers erinnern. Von ihm hatte die Inquisition drei Schriften konfisziert. Dem HERRN sei Dank war Mathes Roht nicht vors Inquisitionsgericht gebracht worden. Er hatte ihr berichtet, wie er in der Menschenmenge auf dem Marktplatz untergetaucht war. Danach hatte er die Stadt schleunigst verlassen. Ein Vorteil eines fahrenden Buchführers. Auf diese Möglichkeit konnte Figen nicht zurückgreifen, wenn die Inquisition vor der Pforte ihrer Schule auftauchen würde.

      »Womöglich kommt mir die Inquisition auf die Schliche«, gab sie auch gleich zu bedenken.

      »Die kann ihre Nase nicht überall haben«, sagte Seitz abschätzig, als redete er von einer Kakerlake. »Und Ihr steht nicht auf dem Marktplatz wie ich damals.«

      »Was Ihr nur erleiden musstet!« Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie sah ihn vor sich, wie er gebückt am Schandpfahl stand, die Hände in Eisenfesseln, das Gesicht vor Pein verzerrt. Bei jedem Peitschenhieb des Scharfrichters hatte er qualvoll aufgestöhnt.

      »Der Tag am Kax hat mich nur in meiner Überzeugung bestärkt. Ich lasse mich von ein paar Peitschenhieben

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