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heiligen Nino – es gibt keinen besseren Treffpunkt. Hier geht es uns besser, und wir können mehr bewegen als auf dem Weg der heiligen Nino.

      Die Lehrkraft wird hysterisch: »In der Stadt sind Panzer, die Armee ist einmarschiert, das ist der falsche Zeitpunkt für Provokationen, bindet die Halstücher um, stachelt nicht alle auf! Wollt ihr, dass die Schule mit Panzern eingenommen wird?«

      Offenbar macht er sich Sorgen um uns. Demnach rennt er uns nicht wütend, sondern beunruhigt nach.

      Er hat recht: Auf den Straßen in der Nähe des Regierungsgebäudes stehen Panzer und behelmte Sowjetsoldaten. Die Soldaten sprechen kein Georgisch (georgisch ist nur die Miliz), es kommt uns vor, als läge den Soldaten eine eigenartige, grünliche Farbe auf dem Gesicht. Manche behaupten: »Man flößt denen irgendwas ein, die sind unter Hypnose.« Wieder Hypnose. In der Stadt steht eine fremde Armee.

      Am neunten April telefoniere ich meinen Eltern hinterher und finde meine Mutter letztendlich bei einem Freund zu Hause: »Wo bist du? Verbringst du die Nacht dort? Kommst du nicht heim?« Sie waren auf einer Demo gewesen, hatten aber keinen Platz zum Stehen gefunden und waren zu einem Freund gegangen. Platzmangel hatte ihnen das Leben gerettet: Am neunten April, in der Morgendämmerung, startet die Sowjetarmee einen Angriff auf die Demonstration, sie töten die Menschen mit Spaten und Giftgas. Das jüngste Todesopfer ist ein sechzehnjähriges Mädchen, das älteste – eine siebzigjährige Frau. Insgesamt einundzwanzig Tote.

      Der neunte April ist eine unserer »Urängste«: Im Fernsehen werden verstümmelte Leichen gezeigt, um die Psyche der Kinder macht sich niemand Gedanken, in Tbilissi wird die Sperrstunde verkündet, ab und zu fährt irgendjemand mit dem Auto vorbei und schreit verzweifelt: »Die Panzer kommen!«, die Sowjetsoldaten töten einen jungen Mann wegen Verstoßes gegen die Sperrstunde – er wird von einer Kugel in den Hinterkopf getroffen, russische Panzer werden von den Balkonen der Hochhäuser mit Kartoffeln, Äpfeln und Tomaten beworfen. Die Soldaten schauen von unten auf die Hochhäuser, wollen sehen, wer die Kartoffeln wirft, vielleicht können sie den Fenstern mit Kugeln Angst einjagen, die Kartoffelwerfer verstecken sich hinter den Balkonen. Diesmal töten die Soldaten niemanden – sie gehen weiter, schwarz gekleidete Frauen vor der Tür des alten Patriarchats kreischen: »Sie bringen uns wieder um, wieder werden hundert Georgier in den Himmel kommen!« Ich habe Angst und schlafe bei meinen Großeltern im Bett, Großvater versucht die ganze Nacht, die »Stimme Amerikas« mit seinem Radio zu empfangen. Die »Stimme Amerikas« verkündet uns unter Rauschen und Lärm die Geschehnisse in unserer Stadt: »Einundzwanzig Menschen – Frauen und Kinder – fielen mit Spaten und Giftgas bewaffneten Sowjetsoldaten zum Opfer. Die offizielle Presse schweigt. Die Zeitung ›Kommunist‹ schreibt, in der Sozialistischen Republik Georgien gebe es einen Arbeiterstreik.« Gorbatschow entsendet seinen Außenminister Eduard Schewardnadse in die trauernde Republik, und auch der trauert, als er auftritt: »Ich habe geweint, alle weinten.« Alle fragen sich, wer den Befehl zum Angriff auf die Demonstration erteilt hat. Wenn alle weinen, wer hat dann gemordet? Der Staatspräsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, erhält den Friedensnobelpreis.

      »Russland«, sagen alle, »Russland mordet«, denn Russland ist in Georgien das Synonym für eine Naturkatastrophe. Russland bedeutet Gefahr. Dieses Wort klingt mir seit meiner Kindheit in den Ohren, wenn jemand, meinetwegen meine Großmutter, nach dem Grund für eine heimtückische oder schwere, unerwartete oder voraussehbare, kleine oder große Tragödie sucht: »Das war von Russland geplant, da hat Russland die Hände im Spiel, das trägt die Handschrift Russlands.« Russland ist direkt oder indirekt verantwortlich für das Unglück Georgiens, Russland ist die gekränkte böse Stiefmutter, in Russland gibt es seismologische Stationen, die künstliche Erdbeben erzeugen, ein russischer Soldat hat keine Moral – er mordet, plündert und vergewaltigt. Russland ist ein Mörder.

      Die Lehrkraft rennt mir und meinen Klassenkameraden mit der Angst vor Russland hinterher: »Bindet die Halstücher um, wollt ihr, dass die Panzer vor unserer Schule stehen?«

      Diesmal kommt niemand. Im Gegenteil, sie gehen.

      Nach dem neunten April wird alles anders. Das Lenin-Denkmal wird vom zentralen Platz entfernt: Die Beine zerschlagen, stürzt Lenin glatzkopfüber zu Boden. Alle anderen Lenins werden zerstört und zerschlagen, auch der vor dem Gebäude des Zentralkomitees – eine hockende Skulptur mit Mantel um die Schultern und großer gelber Birne, über die gewitzelt wird: Lenin auf dem Klo.

      Jetzt sind alle auf den Demonstrationen. Wenn uns die Lehrkraft wieder hinterherrennt, dann mit diesen Worten: »Warum geht ihr nicht zur Demo?«

      Die orthodoxe Kirche bekommt Dutzende neue Heilige: Nicht ausgeschlossen, dass jemandes Urgroßvater plötzlich zum Heiligen wird.

      Waren uns vor dem neunten April in der Osternacht noch Filme gezeigt worden, mit denen die Leute zu Hause gehalten werden sollten, so wird jetzt fast wöchentlich das Neue Testament in Farbe auf den Bildschirm gebracht. Ob man zu Hause bleibt oder rausgeht – aus allen Ecken ertönt Kirchengesang (aus Fernsehern oder Propaganda-Radios), die Prospekte werden nach Märtyrern und Königen benannt – der nach dem Marxisten Plechanow benannte Prospekt bekommt den Namen Dawits des Erbauers; Lenin-Straßen werden in Georgien jetzt in Rustaweli-Straßen umbenannt. Ehemalige Kommunisten verbrennen ihre Parteibücher öffentlich oder werfen sie weg (oder behaupten, dass sie sie verbrennen oder wegwerfen). Vorsichtigere Leute trauen sich vorerst nicht, die Lenin-Porträts in den Büros gegen Ikonen des heiligen Ilia oder des heiligen Georg auszutauschen, und wählen deshalb das Kompromissmodell: Lenin wird einstweilen neben den Porträts der Nationalhelden stehen gelassen. Manche sind mutiger und tauschen schon 1990 (als die Sowjetunion formell noch existiert) Lenin geradewegs gegen Bilder von Swiad Gamsachurdia, den Vorsitzenden des obersten Sowjets, aus, die ihn mit erhobener Faust zeigen.

      Ein aufgeregter grauhaariger Dichter steht auf der Tribüne, öffnet seine Hemdknöpfe und reckt dem Publikum ein riesiges Holzkreuz entgegen: »Dieses Kreuz hat mir der Patriarch geschenkt«, sagt er, »ich werde es niemals abnehmen, aber ich habe mein Parteibuch in der Tasche und auch dieses werde ich niemals ablegen, beides habe ich bei mir, denn beides gehört mir und macht mich stolz …«

      Ihm ist noch nicht klar, was er überwinden soll – Kreuz oder Parteibuch.

      Bei einer Rede gibt es Probleme: Der Präsident der Akademie der Wissenschaften möchte den Mitarbeitern gern zu Ostern gratulieren, doch er ist in den letzten Minuten verwirrt, und ihm entfährt eine stilistisch und historisch fragwürdige Phrase: »Ich gratuliere euch zur Auferstehung des Herrn Jesu, Genossen.«

      Der orthodoxe Patriarch denkt sich neue Namen für die getauften Kommunisten aus. »Mit neuem Namen in ein neues Leben.«

      Bis zum Zerfall der Sowjetunion bleiben ein paar Monate.

      Schon ist allen alles erlaubt.

      1990 begann ich auf einmal mit der Stimme des ehemaligen Sekretärs des Zentralkomitees Georgiens und sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse zu sprechen.

      Eines schönen Tages gab ich einige für ihn typische Phrasen mit verblüffend ähnlicher Tonlage von mir und krümmte den Daumen genau so, wie er es immer tat.

      Danach, als ich annahm, ich spräche wieder mit meiner eigenen Stimme, erhielt ich plötzlich ein Kompliment von meinem Zuhörer: »Verblüffende Ähnlichkeit! Los, sag noch was!« Wegen meiner (und seiner) Stimme wurden meine Eltern mit mir zusammen auf Geburtstage eingeladen und vereinbarten im Voraus, dass ich mit meiner »berühmten Stimme« sprechen würde. Ein Verwandter, der zu Zeiten Eduard Schewardnadses als Sekretär des Zentralkomitees fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte, setzte sich gleich bei seiner Entlassung mit meiner Großmutter in Verbindung und bat sie, zusammen mit der ihm verhassten berühmten Stimme zu einer Fete anlässlich seiner Freilassung aus dem Gefängnis gehen zu dürfen. Der Exhäftling (der sich wegen im Straflager üblicher Foltermethoden ein für alle Mal abgewöhnt hatte, im dunklen Zimmer zu schlafen – es musste immer eine Glühlampe brennen) flüsterte mir den ganzen Abend ein und dasselbe zu, ich sollte mit jener Stimme jene Worte sagen, die für einen kommunistischen Regierungschef völlig unpassend waren: »Hoch lebe die Unabhängigkeit

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