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nur meine Sachen geholt«, sage ich und versuche, ruhig zu bleiben. »Kann sein, dass ich noch mal zurückkomme, wenn ich was vergessen habe.«

      Meine Mutter starrt mich an. ›Sprechen verlernt?‹, denke ich.

      »Wo willst du hin?«, flüstert sie schließlich.

      Betont langsam binde ich mir die Schuhe zu. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich zu meinem Vater ziehe.«

      Dort kann ich gar nicht mehr hin. Aber die Worte sind raus, bevor ich überlegen kann. Und es tut gut, sie meiner Mutter an den Kopf zu werfen.

      Meine Mutter atmet hörbar ein. Man sieht ihr an, dass sie damit nicht gerechnet hat.

      Ich schlüpfe in meine Jacke. »Wenn ihr mir das nicht glaubt, kann ich wirklich nichts dafür.«

      Sie schüttelt den Kopf. »Jakob, bitte«, sagt sie.

      »Bitte was?«, frage ich unfreundlich.

      »Bleib doch da«, sagt sie hilflos.

      Mart taucht hinter ihr auf. »Lass ihn«, sagt er süffisant. »Lass den jungen Herrn doch seine eigenen Erfahrungen machen.«

      Meine Mutter sieht mich flehend an. Ich drehe den beiden den Rücken zu.

      Als ich aus dem Haus trete, schwanke ich. Der Rucksack ist nicht besonders gut gepackt, das gesamte Gewicht hängt auf einer Seite. Egal. Ich bin draußen.

      Der Kies knirscht unter meinen Füßen, als ich zum Gartentor gehe. Das Scharnier quietscht, als ich das Tor öffne und schließe. Ich spüre, dass meine Mutter noch immer in der Tür steht und mir nachsieht. Diesen Augenblick habe ich in meiner Fantasie schon oft durchgespielt. Ich gehe und sie muss mir dabei zuschauen.

      Ohne mich umzudrehen, gehe ich die Straße hinunter.

      Scheiße. Mein Vater ist der Letzte, zu dem ich jetzt will. Schnell gehe ich im Kopf Alternativen durch, aber so viele sind da nicht. Ich könnte versuchen, zumindest heute Nacht bei Lukas unterzukommen. Aber der wohnt nur ein paar Straßen weiter. Das ist nicht weit genug weg.

       Sternwartestraße

      Vor den Augen meiner Mutter das Haus zu verlassen, war eine Sache. Vor den Augen meines Vaters wieder anzutanzen, eine andere.

      Ich wünschte, ich hätte einen anderen Ort, wo ich hingehen könnte. Oder dass ich zumindest die verdammte Nachricht nicht hinterlassen und den Schlüssel nicht in den Postkasten geworfen hätte. Jetzt stehe ich so blöd da, wie man es sich nur vorstellen kann. Es ist erniedrigend, noch einmal an derselben Tür zu klingeln.

      Macht eh keiner auf. Na toll. Ich stehe in der Kälte und sehe meinem Atem zu, wie er in der Luft Wölkchen bildet. Was nun?

      Zu meinem Glück öffnet sich immerhin nach einigen Minuten die Haustür. Ein etwa Zehnjähriger mit Spongebobrucksack verlässt das Haus. Er sieht mich seltsam an, als ich mit all meinem Gepäck das Haus betrete, bevor die Tür wieder zufällt. Aber entweder er traut sich nicht oder es ist ihm egal, denn er sagt nichts, sondern läuft eilig die Straße hinunter.

      Im Haus wäre ich also. Missmutig sehe ich den Postkasten an. Da drinnen ist, was ich brauche. Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt und doch unerreichbar. Ich leuchte mit dem Lämpchen, das sich an meinem eigenen Schlüsselbund befindet, durch die Öffnung im Blech und spähe hinein.

      Das, was da so glänzt, muss der Schlüssel sein.

      Ein echter Held hätte jetzt einen Draht dabei und würde den Schlüssel geschickt durch den Schlitz ziehen. Sollte ich vielleicht in meinem Rucksack nachsehen, ob ich einen finde? Blödsinn. Ich führe für gewöhnlich keine Drähte mit mir. Nachdem mir aber nichts anderes einfällt, beginne ich, meine Sachen zu durchsuchen. Wenn jetzt bloß keiner kommt.

      Kommt aber jemand. Genau in solchen Momenten kommt immer jemand. Ich höre, wie die Haustür von außen aufgesperrt wird. Fuck. Wie erkläre ich jetzt, warum ich hier inmitten meiner Sachen am Boden sitze?

      Das Spongebobkind von vorhin kommt mir entgegen und starrt mich entgeistert an.

      »Hallo«, sage ich, bekomme aber keine Antwort. Vorsichtig geht es an mir vorbei, so als könnte ich es jeden Moment anspringen. Vielleicht sollte ich das tun. Dem Kind den Mund zuhalten und es mit vorgehaltener Pistole zwingen, mir seinen Briefkastenschlüssel auszuhändigen. Der dann zufälligerweise auch für meinen Postkasten passt.

      Im Film geht das immer so einfach. In der Realität passt natürlich gar nichts und ich springe niemanden an, sondern warte, bis der Kleine an mir vorbei ist, und ich höre, wie er die Stufen hinaufläuft. Jetzt muss mir schnell etwas einfallen. Der petzt bestimmt und ich habe gleich ein besorgtes Elternteil vor mir stehen, das mich fragt, was ich hier mache.

      Genervt stopfe ich meine Sachen wieder in meinen Rucksack zurück. Kein Draht weit und breit. Ich sehe noch einmal im Seitenfach nach. Saubere und gebrauchte Taschentücher, Gummiringe, Bleistiftstummel, Taschenmesser, Kaugummis …

      Das Taschenmesser! Vielleicht kriege ich damit die Tür zum Postfach auf? Ist schließlich nur aus Blech. Ich bin echt ein Idiot. Wegen meiner großen Klappe muss ich jetzt einen Briefkasten aufbrechen, um in eine Wohnung zu gelangen, die mich nicht haben will.

      Vandalismus war noch nie mein Ding, aber jetzt ist es einfach notwendig. Ich schiebe die Klinge in den Spalt der Postkastentür und beginne zu hebeln. Immer wieder unterbreche ich, um zu lauschen, ob jemand kommt. Zum Glück ist das nicht der Fall.

      Schließlich steht der untere Teil des Türchens einen halben Zentimeter offen. Mit den Fingern komme ich da nicht rein. Ich ziehe die Pinzette aus dem Taschenmesser und stochere in den Spalt hinein. Mehrmals hole ich sie leer wieder hervor. Doch dann bekommt sie etwas Festes zu fassen. Vorsichtig drehe und ziehe ich so lange, bis ein Schlüsselring zu sehen ist, dem ein Schlüssel folgt.

      Geschafft. Ich halte tatsächlich den Schlüssel zur Wohnung meines Vaters in den Händen. Meine Fingernägel sind eingerissen und mein Taschenmesser ist im Arsch. Ich fahre mit dem Finger die Klinge entlang, die nun mehrere Einbuchtungen hat. Egal. Ich habe den Schlüssel, das ist es, was zählt.

      Als ich die Stiegen hinaufgehe, kommt mir ein älterer Herr entgegen. »Haben Sie diesen Lärm gehört?«, frage ich ihn. »Irgendwo waren da ganz komische Geräusche.«

      Der Mann hält sich eine Hand wie einen Trichter ans Ohr. »Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden. Wenn Sie bitte wiederholen möchten …«

      Ich lächle ihn an und schüttle den Kopf. »Nicht so wichtig«, schreie ich.

      »Ach so.« Der Mann lächelt zurück. »Schönen Tag noch.«

      Ich grüße zurück und mache, dass ich weiterkomme. Der Schlüssel sperrt genauso wie heute früh. Die Wohnung sieht auch noch so aus, wie ich sie verlassen habe. Auf dem Tisch liegt meine Nachricht. Erleichtert zerreiße ich den Zettel in kleine Schnipsel.

      Noch zwei Tage, bis Gudrun kommt. Vorher muss ich hier weg. Also noch eine Nacht ein Dach über dem Kopf. Das ist nicht viel, aber es ist besser als nichts. Bis morgen muss mir schleunigst etwas einfallen.

      Nachdem ich mir etwas zu Essen gemacht habe, setze ich mich aufs Sofa und suche das WLAN-Netzwerk. Der Code steht auf einem Zettel an der Pinnwand.

      Ich weiß nicht genau, wonach ich suchen will, also tippe ich einfach wahllos Sätze in die Suchmaschine.

       wo soll ich hin

      Ein paar dramatische Youtube-Videos.

       Wo soll ich hin / wenn ich nicht mehr bin / hat das alles einen Sinn / wo soll ich hin / wenn ich tot bin

      Ich gehe weiter zum nächsten Eintrag.

      Wo soll ich hin, während in mir Berge stürzen.

      Rilke. Der hilft mir auch nicht weiter.

      Das nächste.

       Wo soll

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