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der Piazza von San Marco und der Tag sah ganz anders aus als am Morgen. Im Vormittagssonnenschein drängte sich der europäische Tourismus über den Ponte Paglia, von dem man einen Blick auf eine ganz andere Brücke werfen konnte, den Ponte dei Sospiri.

      Menschen aus aller Herren Ländern fotografierten ein ihnen gänzlich gleichgültiges Bauwerk, umlagert von anderen Menschen aus zumeist südlichen, auch afrikanischen Ländern, die ihnen tanzende Püppchen, robbende Soldaten aus Plastik mit einem Schießgewehr, Donald Duck zum Aufziehen verkaufen wollten. Die Händler der Taschenimitationen von Louis Vuitton bis Prada hatten ihren Standort am Fuß der Brücke, kurz vor den Karikaturisten, die auf porträtsehnsüchtige Fremdlinge warteten, und die Drogenhändler waren ganz woanders, aber eigentlich überall.

      Vor dem Gedränge, das einzig an Tagen von überdurchschnittlicher acqua alta Pause machte, lagen am Ufer des Bacino, dicht an dicht, Gondeln, Lastkähne, Vaporetti, Wassertaxis, ein ständiges Anlegen und Abfahren.

      Auf der anderen Seite der Riva degli Schiavoni, an der Mauer des Hotels mit dem Namen Londra, London also, saß ein Herr, noch im Schatten der Hauswand. Er trug einen hellen Anzug, eine dunkelblaue Krawatte, braune Schuhe aus feinem, dünnen Leder, einen Sonnenhut der berühmten Marke Borsalino – alles erworben in guten Geschäften rund um San Marco. Hier war natürlich alles teurer, als in Mestre, aber den älteren Herrn und seine Neigung, sich so gut anzuziehen, wie das früher allgemein üblich war, kannten die Besitzer und die Verkäufer der fünf, sechs Herrengeschäfte, die für seinen Geschmack in Frage kamen.

      Der Herr, er hieß Ruggero Tinacci, lehnte in seinem bequemen Sessel, hatte den Gazzettino zwar vor sich, aber nur zur Tarnung, um nicht von Ahnungslosen für einen Touristen von Distinktion gehalten zu werden, er las ihn nicht.

      Als die Sonne mit fortschreitender Stunde die Hauswand erreicht hatte, nahm er seinen eleganten Hut vom Nebensessel und setzte ihn auf. Ohne Unterlass glitt sein Blick über das Treiben auf der Riva, das ihm, in allen seinen Veränderungen in den Jahrzehnten, sehr vertraut war.

      Hin und wieder blieb sein Blick hängen – an einer jungen Familie mit Kindern zwischen zwölf und siebzehn, an einem eindeutig amerikanischen Paar, einer Gruppe älterer Damen aus einer anderen Gegend Italiens.

      Herr Tinacci irrte sich niemals. Das Erraten der verschiedenen Herkunftsländer war ihm allerdings mehr als ein Steckenpferd. Es war die Grundlage eines tatsächlichen Steckenpferds, dem er schon seit etlichen Jahren nachging. In der warmen Jahreszeit saß er beinahe täglich, zumindest an vier, fünf Tagen der Woche, in einem der Straßencafés der Riva degli Schiavoni, im Winter freilich war das schwierig. Acqua alta, manchmal der von den Besuchern Venedigs so geliebte Schnee, kalte Tage, machten weite Spaziergänge unmöglich.

      So saß Herr Tinacci also auch heute in einem seiner bevorzugten Lokale, freute sich des Lebens und suchte ein Opfer. Einzelgänger lehnte er ab, die waren wahrscheinlich wie er selbst, sie führten innere Dialoge, suchten die Sehenswürdigkeiten mit Hilfe von Reiseführern und Büchern, auch mit Hilfe des Internet, Gottbehüte ...

      Ein Paar unter den vielen Spaziergängern fiel Herrn Tinacci auf – nicht mehr ganz jung, die Frau mochte etwas über vierzig Jahre alt sein, der Mann war offenbar bemüht, sein Alter mit seiner Kleidung zu kaschieren, er war, schwer zu sagen, zweiundfünfzig Jahre alt? Das Paar gefiel ihm, auch wenn es ein wenig, nun, spießbürgerlich wirkte. Sie waren so nett zueinander, das sieht man nicht so oft. Meistens trotten sie gleichgültig nebeneinander her, dem Reiseleiter nach, aber diese beiden Touristen, denn das waren sie jedenfalls, sprachen miteinander, jetzt blieben sie stehen, auf der Brücke, und blickten nicht zur Seufzerbrücke, sondern in die Gegenrichtung. Der Mann schien der Frau ein Schiff zu erklären und sie hörte ihm zu.

      Herr Tinacci erhob sich – „Luigi, a presto!“, das galt dem Kellner ...

      Die Schäfers aus Schaffhausen hatten tatsächlich ihren Tag gerettet, wie Marianne es am Morgen vorgeschlagen, worum sie gebeten hatte. Sie freute sich, ihrem Mann beim Mittagessen die Krawatte heimlich unter die Serviette zu legen, sie hörte ihm bei seinen Erklärungen zu, auch wenn da nicht viel Neues zu erfahren war. Aber er hatte Freude, das war ihr wichtig.

      Sie liebte ihn auch nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, und wenn bei ihnen der Haussegen schief hing, war sie traurig. Das bemerkte Friedrich, es tat ihm leid, ja, es tat ihm weh, und flugs war die Stimmung wieder im Lot.

      „Sieh mal, Marianne, die singenden Gondolieri, das ist hier eine alte Tradition, die haben immer schon gesungen! Das hatten wir im Theater, diese Tourneeaufführung, diese Nacht in Venedig!“

      Sie gingen die Stufen des Ponte Paglia abwärts, blickten über das Wasser, und Marianne fragte nach diesem anderen schmalen hohen Turm, den man dort sah, neben der Kirche, und da waren auch Schiffe -?

      „Ja, das, dieser Turm, neben der Kirche, der – “, sagte Friedrich, „der ist, dort, bei den Schiffen, auf der Insel, jetzt fällt mir der Name nicht ein …“

      „San Giorgio Maggiore“, sagte eine angenehme leise männliche Stimme.

      Friedrich, dankbar für seine Rettung aus der Verlegenheit, lächelte den älteren Herrn an, der seinen Satz vollendet hatte.

      „Gerade wollte ich es sagen! Danke, Sie verstehen Deutsch?“

      „Ich spreche es auch. Ich habe zwei Jahre in Berlin gelebt. Sie kommen aus Deutschland?“

      „Wir kommen aus der Schweiz, aus Schaffhausen.“

      „Mit dem großartigen Rhein – Wassersturz! Das kenne ich, da war ich.“

      „Rheinfall, nicht Rheinwassersturz! Herr – ? Ich heiße Schäfer, meine Frau auch, hahahaha.“

      „Und ich heiße Tinacci, Ruggero.“

      Die drei schüttelten einander die Hände, und Ruggero Tinacci registrierte wieder einmal, dass der Trick mit dem Fehler einer sehr guten Idee entsprang. Der andere korrigiert, steht vor sich selbst gut da, das Eis ist gebrochen – wenn es denn zu brechen war. Manchmal ließ es sich nicht brechen, die Menschen wehrten ab, sofort, misstrauisch. Oft war es aber gar nicht notwendig, mit einem Trick eine Basis zu schaffen.

      Sie gingen weiter, auf das Denkmal von Vittorio Emanuele II. zu.

      „Wo haben Sie denn gewohnt, wie Sie in Schaffhausen waren? Unser Schwiegersohn ist Direktor des größten Hotels, das er bald selbst übernehmen wird, vom Onkel seiner Frau.“ Friedrich Schäfer war stolz, wurde jedoch im anhebenden Triumph unterbrochen. Ein Herr ging auf Herrn Tinacci zu, lüftete kurz seinen Strohhut, und stellte eine Frage, die für die beiden Schweizer unverständlich war. Dass es sich um eine Frage handelte, ließ sich nur an der Sprachmelodie erkennen, der Sprecher bekam eine Antwort, und die kleine Gruppe spazierte weiter.

      „Ein Freund, wir treffen uns jeden Donnerstag, also heute Abend. Verzeihen Sie, jetzt habe ich Sie mit meinem Gespräch gestört, ich werde – “

      „Nein, nicht gestört!“, unterbrach Frau Schäfer, die den informierten Begleiter nicht so schnell verlieren wollte. „Kommen Sie doch noch ein Stück mit uns, und bitte, was haben Sie da gesprochen? Einen Dialekt? Wir Schweizer können doch alle zumindest ein wenig Italienisch, ich habe nichts verstanden, Herr Ti – Ti -.“

      „Tinacci. Das war kein Dialekt, das ist eine Sprache, Venezianisch. Übrigens, hier sind wir beim Denkmal für den König, unter dem es zur italienischen Einigung kam, wir waren ja bis dahin eine große Zahl von Staaten auf nicht so großer Fläche, Toskana, Vatikanstaat, die Lombardei, Modena, alles selbständig. Und alle hatten ihre Sprache.“

      Aber, meinte Herr Schäfer, gerade so sei es auch in der Schweiz.

      „Nicht ganz – ein Berner und ein Basler können miteinander in ihren Idiomen sprechen – ein Venezianer, der venezian spricht, wird von einem Neapolitaner nicht verstanden, und auch er könnte den Neapolitaner nicht verstehen, wenn der napoletan zu reden anfängt.“

      So war die Unterhaltung schnell in Schwung gekommen, und sie sprang und taumelte von einem Thema zum nächsten, von der Sprache zur Politik; von der Reiselust zur Familie –

      „Haben

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