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ab, dann ging sie das letzte Stück des Weges zu Fuß. Sie lauschte dem munteren Geplätscher des Baches, der hügelab seinen Weg suchte, um sich unten im Dorf mit dem Fluss zu vereinen.

      Sie wunderte sich, dass die schwere, reich verzierte Eichentür nur angelehnt war. Eigentlich wurde die Tür immer sorgsam verschlossen, um zu verhindern, dass Tiere sich in der Kapelle verirrten.

      Bettina ging in die Kapelle, machte die Tür zu, wollte an ihren Lieblingsplatz gehen, als sie bemerkte, dass dieser bereits besetzt war, dass auch mehrere Kerzen brannten, die offensichtlich frisch angezündet worden waren.

      Der Mann drehte sich um, Bettina blieb unwillkürlich stehen. Auf der Bank saß ihr Gast, dieser ihr ein wenig merkwürdig erscheinende Rolf Möbius.

      Er blickte sie verunsichert an.

      »Frau Fahrenbach, ich …«, er stand auf, mit wenigen Schritten war Bettina bei ihm. »Bleiben Sie nur sitzen, Herr Möbius. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören.«

      Er setzte sich wieder, Bettina nahm neben ihm Platz, es wäre jetzt töricht gewesen, sich auf eine andere Bank zu setzen.

      »Es ist wirklich ein Ort, an dem man Frieden finden kann«, sagte er. »Frau Dunkel riet mir, herzukommen, und es war eine gute Empfehlung … Ich gehe normalerweise nicht in Kirchen, ich glaube schon, aber Kirchen, speziell Gottesdienste, geben mir nichts. Aber hier, es ist unglaublich, wie beruhigend es ist, hier ist eine ganz wunderbare Energie, die deutlich spürbar ist, man fühlt Frieden in sich und irgendwie …, vielleicht klingt das ein wenig kitschig, ist man Gott nahe. Ich habe so etwas wirklich noch niemals zuvor erlebt, aber ich war …«, er zögerte, »noch niemals zuvor in einer solchen Situation wie jetzt.« Er blickte sie an, sie sah die Trauer, fast eine Leere, in seinem Gesicht.

      »Wenn es einem gut geht, denkt man nicht an Gott, nimmt Glück, Erfolg und was weiß ich nicht noch, einfach in Anspruch. Erst wenn man verzweifelt ist, besinnt man sich auf ihn und erwartet Hilfe, eigentlich ganz schön egoistisch.«

      Bettina drängte sich eine Frage auf.

      »Sie haben einen Menschen verloren, der ihnen sehr nahestand?«, erkundigte sie sich behutsam.

      In seinem Gesicht begann es vor innerer Anspannung zu zucken.

      »Ja und … nein.«

      Irritiert schaute sie ihn an. Was war das denn für eine Antwort?

      Er schien es zu bemerken.

      »Entschuldigung, das klingt blöd, aber ich …«

      Sie unterbrach ihn.

      »Ich muss mich entschuldigen, Herr Möbius, ich wollte nicht neugierig sein.«

      Er antwortete nicht, schien zu überlegen, oder war er mit seinen Gedanken ganz weit weg?

      Bettina überlegte, ob sie aufstehen und gehen sollte. Ihr war die Lust, jetzt Kerzen anzuzünden, still dazusitzen, für Jörg zu beten, für Linde, damit die ihr Seelenheil wiederfand und sich klar darüber wurde, was sie wirklich wollte, vergangen.

      Schon wollte sie ihre Gedanken in die Tat umsetzen, als er zur Seite griff und sie zurückhielt.

      »Bitte bleiben Sie«, bat er, »es tut gut, hier nicht allein sitzen zu müssen.«

      Also gut, wenn er es wollte, dachte Bettina, wenn er jemanden neben sich brauchte.

      Sie blickte in die brennenden Kerzen, die sich gleichmäßig und ruhig in die Wachsmasse fraßen.

      Für wen hatte er wohl diese Kerzen angezündet?

      Was war los mit diesem Mann? Dass er ein Krimineller war, jemand, der etwas zu verbergen hatte, diesen Gedanken hatte sie schon lange nicht mehr, der war ihr nur am Anfang gekommen, weil er sich so merkwürdig verhalten und sie an die Betrügerin erinnert hatte.

      Nicht nur, weil Leni es gesagt hatte, sie spürte selbst, dass er einen großen Schmerz in sich hatte.

      Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie förmlich zusammenzuckte, als sie plötzlich seine Stimme vernahm.

      »Ich bin froh, dass ich in diesem herrlichen Appartementhaus auf dem Fahrenbach-Hof wohnen kann. Es ist ein wirklich paradiesischer Ort, an dem man zu sich finden kann … Nein, das vielleicht nicht, aber ein wenig zur Ruhe kommen kann man.«

      Warum sprach er denn in Rätseln? Sie spürte, dass er etwas loswerden wollte, was ihn bedrückte, warum sprach er es denn nicht aus?

      Noch einmal fragen wollte sie ihn nicht, also sagte sie nichts und wartete. Ihre Geduld wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein, er saß zusammengesunken auf seinem Platz und wirkte so erbarmungswürdig, dass Bettina ihn am liebsten trös­tend in die Arme genommen hätte, wie man es mit einem kleinen Kind tat, das hingefallen war, dem man die Puppe zerbrochen hatte oder das einfach nur traurig war, weil es kein Eis bekam.

      Freilich, um solche Banalitäten ging es hier gewiss nicht, außerdem konnte sie einen wildfremden Mann nicht einfach in den Arm nehmen, auch wenn er Kummer hatte.

      Wieder begann er zu sprechen.

      »Ich bin verheiratet und habe einen zehnjährigen Sohn … Nein, den hab ich doch überhaupt nicht.«

      Hatte er den Verstand verloren?

      Jetzt musste sie etwas sagen.

      »Sorry, Herr Möbius, aber jetzt sprechen Sie in Rätseln, haben Sie einen Sohn oder haben Sie keinen?«

      Zum ersten Mal huschte so etwas wie ein Anflug eines Lächelns über sein blasses Gesicht.

      »Ich hab den Verstand nicht verloren …, also, es ist so. Mein zehnjähriger Sohn hatte einen Unfall und brauchte dringend, weil er eine sehr seltene Blutgruppe hat, Spenderblut. Meine Frau kam nicht infrage, also blieb nur ich übrig …, doch auch mein Blut passte nicht.«

      Bettina hielt den Atem an.

      »Tim ist nicht mein Sohn … Meine Frau hatte eine langjährige Affäre mit einem anderen Mann, dessen Blutgruppe mit Tims übereinstimmt. Er hat auch sein Blut gespendet, er wusste nicht, dass er Tims Vater ist. Er ist übrigens verheiratet und Vater dreier Töchter … Er fiel aus allen Wolken, will Tim auch als seinen Sohn anerkennen, das möchte meine Frau aber nicht. Für sie soll es so weitergehen wie bisher. Sie wollte mit dem anderen Spaß haben, aber nicht mit ihm zusammenleben, schon allein nicht aus finanziellen Erwägungen. Er könnte ihr niemals das Leben bieten, das sie bei mir hat und das sie natürlich nicht aufgeben will.«

      Das war ja eine unglaubliche Geschichte!

      »Und Tim?«, wollte sie wissen. »Ist er wieder gesund? Weiß er …, ich mein, kennt er die Wahrheit?«

      »Noch nicht, aber er ahnt, dass etwas nicht stimmt … Es geht ihm glücklicherweise schon wieder sehr viel besser, er wird wieder gesund und nichts zurückbehalten.«

      »Das ist ja wenigstens eine erfreuliche Nachricht«, sagte Bettina. »Und ihre Frau?«

      Er zuckte die Achseln.

      »Ich weiß nicht, aber ich glaube, nein, ich weiß …«, er blickte sie an. »Ich bin vollkommen durcheinander. Ich wähnte mich glücklich verheiratet, liebte meine Frau, meinen Sohn. Jetzt ist mein Leben zerbrochen an einer Lüge … Marion wusste, stellen Sie sich das mal vor, sie wusste die ganzen Jahre über, dass Tim nicht mein Sohn ist. Er gleicht übrigens auch seinem leiblichen Vater äußerlich sehr, mir hat sie immer einzureden versucht, Tim sähe genauso aus wie ihr verstorbener Vater, den ich nie kennengelernt habe, er war schon vor meiner Zeit gestorben.«

      Wieder machte er eine Pause, Bettina war viel zu erschüttert, um jetzt etwas sagen zu können. Es gehörte ja schon fast eine Kaltblütigkeit dazu, einen anderen Menschen, noch dazu den eigenen Ehemann, so zu hintergehen.

      »Ich kann mit ihr nicht mehr leben, und das nicht aus moralischen Gründen. Sie hätte es mir einfach nur sagen müssen, ich hätte Tim auch geliebt, ohne sein leiblicher Vater zu sein. Wie ich übrigens jetzt auch weiß,

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