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West 108th Place gefahren, nachdem ein Nachbar die Polizei alarmiert und einen Mann mit einer Waffe gemeldet hatte. Als Scanlon ankam, traf er dort Dixon an, der sich gerade im Eingang des betreffenden Hauses heftig mit seiner Freundin stritt. Als deren Vater Scanlon sah, erschien auch er, weil er davon ausging, dass es nun sicher war herauszukommen.

      Plötzlich entstand ein Handgemenge zwischen James Dixon und dem Vater. Der Polizist griff ein und versuchte, den Streit zu beenden. Da löste sich ein Schuss; Richard Scanlon erhielt eine Bauchwunde und taumelte weg. In diesem Augenblick kamen zwei weitere Polizeistreifen an, hielten mit kreischenden Bremsen, Polizisten stürmten heraus und überwältigten Dixon.

      Man fand in der Nähe eine .22-Kaliber-Waffe, die offensichtlich nach dem Schuss dorthin geworfen worden war. Sie gehörte Dixon und war mit seinen Fingerabdrücken übersät. Eine Untersuchung ergab, dass aus ihr vor Kurzem ein Schuss abgefeuert worden war. Der Vater war unbewaffnet; Scanlons Revolver steckte noch im Halfter. Pulverstaub auf Scanlons Haut zeigte, dass aus extrem kurzer Distanz auf ihn geschossen worden war.

      Zum Glück war die Verletzung nicht lebensgefährlich, wenn sie auch ernst genug war, um ihm die Tapferkeitsmedaille einzubringen, die der Polizeipräsident persönlich an seine Brust heftete. Was Dixon betraf, ergab ein Blick in die Polizeiakten, dass er früher schon einmal nachweislich auf jemanden geschossen hatte. Offensichtlich neigte er zu Gewaltanwendung.

      Und so saß ich fast ein Jahr später in einem nahezu leeren Gerichtssaal in Chicago und machte mir Notizen, während Dixon sich öffentlich schuldig bekannte, auf den Polizisten geschossen zu haben. Das Geständnis des Angeklagten besiegelte die anderen Beweise. Richter Frank Machala verurteilte Dixon zu einer Gefängnisstrafe und schlug mit seinem Hammer auf den Tisch, um zu zeigen, dass das Gerichtsverfahren beendet war. Die Justiz hatte mal wieder gesiegt.

      Ich steckte mein Notizbuch in die Innentasche meines Jacketts und schlenderte hinunter ins Pressezentrum. Dabei überlegte ich, dass mein Herausgeber mir für diese Geschichte höchstens drei Spalten in der nächsten Ausgabe der Chicago Tribune geben würde. Mehr verdiente sie auch nicht. Das war keine große Geschichte.

      Dachte ich zumindest.

      Der Tipp eines Informanten

      Ich wurde im Pressezentrum ans Telefon gerufen und erkannte die Stimme eines Informanten, der für mich arbeitete, seit ich mit der Gerichtsberichterstattung angefangen hatte. Ich merkte, dass er eine heiße Sache für mich hatte, denn je größer der Tipp war, desto schneller und leiser sprach er gewöhnlich. Und diesmal flüsterte er einen Kilometer pro Minute.

      „Lee, kennen Sie den Fall Dixon?“, fragte er.

      „Ja, klar“, antwortete ich. „Vor zwei Tagen abgeschlossen. Alles Routine.“

      „Seien Sie sich da mal nicht so sicher. Es geht das Gerücht um, dass Sergeant Scanlon ein paar Wochen vor der Schießerei auf einer Party mit seinem Stiftrevolver angegeben hat.“

      „Mit was?“

      „Einem Stiftrevolver. Das ist eine .22-Kaliber-Pistole, die aussieht wie ein Füllfederhalter. Es ist illegal, so etwas zu besitzen, auch für Polizisten.“

      Als ich ihm sagte, dass ich nicht ganz verstünde, wieso das wichtig sein sollte, wurde seine Stimme noch aufgeregter. „Das ist doch gerade das Ding: Dixon hat nicht auf Scanlon geschossen. Scanlon wurde verwundet, als sein eigener Stiftrevolver in seiner Jackentasche aus Versehen losging. Er hängte Dixon die Sache an, damit er keine Schwierigkeiten bekam, weil er eine illegale Waffe besaß. Verstehen Sie nicht? Dixon ist unschuldig!“

      „Unmöglich!“, rief ich aus.

      „Prüfen Sie die Beweise nach“, kam seine Antwort. „Schauen Sie selbst, was wirklich stichhaltig ist.“

      Ich legte auf und stürmte die Treppen zum Büro des Staatsanwalts hinauf. Vor seinem Büro hielt ich kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen, bevor ich – „rein zufällig“ – in sein Büro schlenderte.

      „Kennen Sie den Fall Dixon?“, fragte ich ihn beiläufig, weil ich meinen Tipp nicht zu schnell preisgeben wollte. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mir die Details noch mal anschauen.“

      Die Farbe wich aus seinem Gesicht. „Äh, ich kann dazu nichts sagen“, stammelte er. „Kein Kommentar.“

      Mein Informant hatte also seinen Verdacht schon an das Büro des Staatsanwalts weitergegeben. Hinter der „Bühne“ war bereits eine Kommission dabei, die Beweise neu zu sichten. Ganz überraschend und unerwartet wurde der vermeintlich so wasserdichte Fall Dixon wieder aufgenommen.

      Neue Fakten für eine neue Theorie

      Zur selben Zeit begann ich meine eigenen Nachforschungen. Ich besichtigte den Ort des Verbrechens, interviewte Zeugen, sprach mit Dixon und überprüfte das Beweismaterial. Und als ich den Fall gründlich unter die Lupe nahm, passierte etwas Seltsames: Alle neuen Fakten, die ich entdeckte – und sogar die alten Beweise, die vorher so überzeugend für Dixons Schuld gesprochen hatten –, passten nun wie angegossen zur Theorie mit dem Stiftrevolver.

      ● Zeugen sagten aus, dass Dixon schon mit seinem Revolver auf die Tür des Hauses seiner Freundin geschossen hatte, bevor Scanlon auf der Bildfläche erschien. Im Zementboden der Veranda fand man eine Schramme, die dem Einschussloch einer Kugel entsprach. Das würde die Kugel erklären, die in Dixons Revolver fehlte.

      ● Dixon sagte, dass er nicht mit einer Waffe erwischt werden wollte. Deshalb versteckte er sie am Straßenrand, bevor die Polizei kam. Ich fand einen Zeugen, der diese Aussage bestätigte. Das erklärte, warum die Waffe etwas vom Ort des Schusswechsels entfernt gefunden wurde, obwohl kein Zeuge gesehen hatte, wie Dixon sie dorthin geworfen hatte.

      ● Man hatte Pulverspuren in, aber nicht auf der Außenseite der linken Hemdtasche von Scanlons Uniform gefunden. Das Einschussloch befand sich am Boden der Tasche. Schlussfolgerung: Eine Waffe hatte sich irgendwie innerhalb der Tasche entladen.

      ● Entgegen der Angaben im Polizeibericht verlief der Schusskanal nach unten. Unter Scanlons Hemdtasche war ein blutiger Riss, wo die Kugel ausgetreten war, nachdem sie das Fleisch gestreift hatte.

      ● Dixons Polizeiakte erzählte nicht seine ganze Geschichte. Auch wenn er wegen einer Schießerei drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wurde er schließlich auf freien Fuß gesetzt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er aufgrund falscher Beweise verurteilt worden war. Es kam heraus, dass die Polizei einen wichtigen Zeugen der Verteidigung zurückgehalten und dass ein Zeuge der Anklage gelogen hatte. So viel zu Dixons Neigung zu Gewalt.

      Ein Unschuldiger kommt frei

      Zum Schluss stellte ich Dixon die entscheidende Frage: „Wenn Sie unschuldig waren, warum haben Sie dann die Schuld auf sich genommen?“

      Dixon seufzte. „Es war ein Handel mit der Anklage“, sagte er dann schließlich.

      Dies bezog sich auf die gängige Praxis, bei der die Anklage eine geringere Strafe forderte, wenn sich der Angeklagte schuldig bekannte. Auf diese Weise konnte man Zeit und Gerichtskosten sparen.

      „Sie sagten, sie würden für ein Jahr Haft plädieren, wenn ich mich schuldig bekennen würde. Ich habe schon 362 Tage im Gefängnis verbracht, während ich auf den Prozess gewartet habe. Ich musste also nur zugeben, dass ich es war, und dann könnte ich in ein paar Tagen nach Hause gehen. Aber wenn ich auf einer Gerichtsverhandlung bestanden hätte und die Geschworenen mich für schuldig befunden hätten, dann hätte ich zwanzig Jahre dafür bekommen, dass ich einen Polizisten angeschossen habe. Das war es mir nicht wert. Ich wollte nach Hause …“

      „Und so“, meinte ich, „haben Sie zugegeben, etwas getan zu haben, das Sie gar nicht getan haben!“

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