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wartete vergeblich. Als Natascha eine Viertelstunde nach dem offiziellen Trauungstermin selbst hinaus auf den Vorplatz des Standesamtes trat, um mit ihrem Bräutigam zu sprechen, war keine Spur mehr von Oliver zu sehen.

      *

      Nur eine Stunde, nachdem Janine Merck die Praxis verlassen hatte, betrat sie ihren Arbeitsplatz wieder. Ihre Freundin und Kollegin Wendy saß in der kleinen Küche und ließ sich ihr Mittagessen schmecken.

      »Nanu, ist die Trauung schon vorbei?«, fragte sie überrascht und sah Janine dabei zu, wie sie die Handschuhe auszog.

      »Stell dir vor, sie hat gar nicht stattgefunden.« Nachdem der erste Schreck verflogen war, spielte ein belustigtes Lächeln um Janines rot geschminkte Lippen. »So was sieht man ja immer nur in irgendwelchen Spielfilmen. Aber diesmal ist es wirklich passiert.«

      »Moment mal. Was sieht man im Spielfilm?«, hakte Wendy irritiert nach. Sie hatte ihr Mittagessen beendet und legte die Gabel zur Seite. Dabei sah sie ihre Freundin neugierig an.

      »Na, dass einer davonläuft.« Es war Janine anzusehen, dass sie es immer noch kaum fassen konnte. »Im Normalfall ist das ja die Braut. Aber diesmal war’s der Bräutigam.«

      »Wie? Weggelaufen?« Wendy fragte sich, ob sie richtig verstanden hatte. »Warum ist er denn weggelaufen? Hatte er die Ringe vergessen?«

      »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Er war fort, einfach verschwunden«, berichtete Janine kopfschüttelnd und setzte sich mit zwei Tassen Kaffee an den Tisch. Eine davon schob sie zu Wendy hinüber. »Die Gäste, also wir, haben noch so lange gewartet, bis das nächste Paar zur Trauung gekommen ist. Dann mussten wir wohl oder übel das Feld räumen.«

      »Die arme Braut!« Wendys ganzes Mitgefühl galt der armen Natascha. »Was für eine Demütigung.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Kaffee. »Ist sie sehr traurig?«

      Über diese Frage musste Janine erst einmal nachdenken.

      »Schwer zu sagen. Sie war sehr gefasst und hat versucht, die Situation mit einem Scherz in den Griff zu bekommen. Aber innen drin hat sie sicher gebrodelt.«

      »Alles andere hätte mich gewundert«, stimmte Wendy zu. Mehr gab es im Augenblick nicht zu diesem Thema zu sagen, und sie brachte eine andere Sache zur Sprache, die sie die ganze Zeit schon beschäftigte. »Sag mal, du hast doch gestern die Medikamente von unserem reizenden Herrn Klotz in den Schrank geräumt, oder?«

      »Natürlich. Vier Schachteln waren es. Warum fragst du?«

      »Weil es heute nur noch drei sind, aber auf der Bestandsliste ist das Medikament nicht ausgetragen.«

      »Hmm, vielleicht hat es einer unserer beiden Ärzte vergessen.«

      »Der Senior vergisst so was nicht. Und der Junior hat auch verneint«, seufzte Wendy und stand auf. Im Stehen leerte sie ihren Kaffee und stellte die Tasse in die Spüle. Die Mittagspause war gleich vorbei, und sie wollte die eingegangenen E-Mails bearbeiten, solange noch keine Patienten da waren. An diesem Nachmittag würde es turbulent werden.

      »Das verstehe ich auch nicht«, bemerkte Janine, als sie ihrer Kollegin an den Schreibtisch folgte. Fast zur gleichen Zeit trat Daniel Norden an den Tresen.

      »Ah, Janine, schon zurück von der Trauung?«

      Die beiden Assistentinnen sahen sich an und wären um ein Haar in prustendes Gelächter ausgebrochen.

      »Die hat gar nicht stattgefunden«, erwiderte Janine und erzählte kurz, was passiert war.

      Doch Daniel hörte ohnehin nur mit einem Ohr zu.

      »Haben wir schon den Laborbefund von Herrn Ostermann?«, erkundigte er sich bei Wendy und trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf dem Tresen.

      »Einen Moment.« Wendy konzentrierte sich wieder auf den E-Maileingang. »Seltsam, hier sind zwei Nachrichten vom Labor, die Herrn Ostermann betreffen.« Sie druckte die beiden Schreiben aus und reichte sie Daniel, als sich Janine zu Wort meldete.

      »Ach, das Ergebnis der zweiten Probe möchte Danny haben. Er war heute schon ganz früh da, um die zweite Untersuchung durchzuführen.« Sie schickte Daniel einen anerkennenden Blick. »Da haben Sie wirklich einen pflichtbewussten Sohn!«

      Dieses Kompliment überhörte Daniel.

      »Welche zweite Untersuchung?«, fragte er verständnislos, während er die beiden Befunde miteinander verglich. »Also, einmal leidet Herr Ostermann an einer primär biliären Zirrhose. Das ist eine relativ seltene Autoimmunerkrankung der Leber. Und dann hat er eine Hepatitis-C-Infektion.«

      »Gleichzeitig? Wie ist das möglich?«, fragte Wendy verdutzt.

      Während Daniel Norden nachdachte, fuhr er sich mit der Hand über die Augen.

      »Gar nicht. Es muss sich um zwei verschiedene Blutproben handeln.«

      Wendy und Janine tauschten erschrockene Blicke.

      »Aber das würde ja bedeuten, dass Danny mich angelogen hat!« Die ehemalige Krankenschwester schnappte nach Luft.

      Eine steile Falte erschien auf Dr. Nordens Stirn.

      »Das auch. Viel schlimmer ist aber die Tatsache, dass diese beiden Krankheiten völlig unterschiedliche Therapien benötigen. Bei einer Hepatitis-B- oder C-Infektion werden virushemmende Mittel und Wirkstoffe eingesetzt, die das Immunsystem anregen.« Unschwer war zu erkennen, wie aufgeregt er war. »Bei einer Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem die Leber angreift, würde man genau das Gegenteil tun und Medikamente verabreichen, die das Immunsystem bremsen.«

      »Die falsche Behandlung könnte gravierende Folgen haben.« Wendy wusste sofort, worauf ihr Chef hinaus wollte.

      »Stimmt genau.« Daniel nickte düster.

      »Aber welche Krankheit hat Herr Ostermann denn jetzt?«

      »Wahrscheinlich die vom ersten Befund. Aber um auch wirklich sicher zu gehen, müssen wir die Blutuntersuchung wiederholen.« Mit unverhohlenem Ärger schob Daniel Norden die Papiere zusammen. »Wo ist mein missratener Sohn?«, fragte er so zornig, wie selbst Wendy ihn selten gesehen hatte.

      »Er wollte was essen gehen.« Sie sah auf die Uhr. »Das ist aber schon eine Weile her. Eigentlich müsste er gleich wieder zurück sein.«

      »Schicken Sie den Bengel sofort zu mir, verstanden?« Daniel machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in sein Zimmer. »Na, der kann was erleben!«, schimpfte er vor sich hin, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss warf. Die plötzlich eintretende Stille war fast gespenstisch.

      »Was für ein Tag!«, seufzte Janine und ließ sich auf den Stuhl hinterm Tresen fallen.

      »Das kannst du aber laut sagen«, bestätigte Wendy. Auch ihr war das Lachen vergangen und mit angespannten Nerven wartete sie auf die Rückkehr des Juniors.

      *

      Nicht ahnend, welches Unwetter sich über seinem Kopf zusammen braute, verbrachte Danny die Mittagspause bei seinem heimlichen Gast.

      »Und? Wie fühlst du dich jetzt?«, erkundigte er sich bei Marika, nachdem er ihr Suppe gekocht und darüber gewacht hatte, dass sie wenigstens ein paar Löffel voll davon aß. Da das Ergebnis der Blutprobe noch nicht da war, wagte er es nicht, ihr das Medikament zu verabreichen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr gut zuzureden.

      »Es wäre schön, wenn du bei mir bleiben könntest«, gestand Marika leise und wagte es nicht, Danny in die Augen zu sehen. »Ich hab Angst, dass sie mich holen kommen. Ein Mal hat es sogar geklingelt.«

      Dannys Augen weiteten sich vor Schreck.

      »Du hast aber nicht aufgemacht, oder?«

      Entschieden schüttelte Marika den Kopf.

      »Wo denkst du hin?«

      »Ein Glück. Wenn Tatjana dich hier erwischt, bringt sie mich um.«

      »Deine Freundin?«, fragte Marika schüchtern.

      »Ja.«

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