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ihren Lebensunterhalt. Ich spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief, und ich kann euch nicht verraten, was für Bilder mir wie ein langsamer, gefährlicher Sturm durch den Kopf gingen.

      »Bring die Milch und das alles in die Küche«, wies Miss Grace sie an.

      Das Lächeln unterlag der Häme und die braunen Augen wurden schwarz. »Ich hab nicht Küchendienst! Es ist Donna Anns Woche!«

      »Wenn ich dir sage, du machst das, dann ist es deine Woche, Missy, und du weißt auch, warum ich dich für den gesamten Monat in die Küche stellen sollte! Jetzt mach, was ich sage, und halte deinen frechen Mund!«

      Lainies Lippen zogen sich zu einem geübten Schmollmund zusammen. Aber ihre Augen fanden sich mit der Schelte nicht so heuchlerisch ab; kalte Wut lag in ihnen. Sie nahm mir das Tablett ab, streckte mir mit dem Rücken zu meinem Dad und Miss Gracie gewandt ihre nasse rosa Zunge raus und rollte sie wie zu einem Röhrchen zusammen. Dann glitschte die Zunge zurück in ihren Mund, sie wandte sich von mir ab und ließ uns verächtlich mit einem Hinternwackeln stehen, das boshaft wie ein Messerstich war. Sie spazierte ins Haus, und nachdem Lainie verschwunden war, grunzte Miss Grace. »Sie ist so ungehobelt wie ein wilder Schwan.«

      »Sind sie das nicht alle?«, fragte Dad, und Miss Grace blies einen Rauchring.

      »Ja, aber sie tut nicht mal, als hätte sie Manieren«, antwortete sie. »Cory, warum behältst du Kekse nicht, hm?«

      Ich sah Dad an. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, Ma’am«, sagte ich.

      »Gut. Es war wirklich ein Vergnügen, dich auch einmal kennenzulernen.« Miss Grace wandte ihre Aufmerksamkeit wieder meinem Vater zu und steckte sich ihre Zigarette zurück in den Mundwinkel. »Sagen Sie mir, was bei dem Ganzen am Ende rauskommt.«

      »Mach ich, und danke, dass ich das Telefon benutzen konnte.« Er setzte sich wieder hinter das Lenkrad. »Das Milchtablett hole ich beim nächsten Mal ab.«

      »Passt auf euch auf«, sagte Miss Grace und verschwand in dem weiß gestrichenen Bordell, während Dad den Motor anließ und die Handbremse löste.

      Wir fuhren zurück an die Stelle, an der das Auto in den See gefahren war. Saxon’s Lake war vom Morgenlicht blau und lila gestreift. Dad bog auf eine Schotterstraße ab; die Straße, so wurde uns beiden klar, von der das Auto gekommen war. Dann warteten wir auf den Sheriff, während die Sonne stärker schien und der Himmel azurblau wurde.

      Während ich dort saß, hing ich zwei verschiedenen Gedankengängen nach: Einer drehte sich um das Auto und die Gestalt, die ich meinte gesehen zu haben, und der andere rätselte, woher mein Dad Miss Grace vom Bordell so gut kannte. Aber Dad kannte alle seine Kunden; er unterhielt sich beim Abendessen mit Mom über sie. Allerdings konnte ich mich nicht erinnern, dass er jemals Miss Grace oder das Bordell erwähnt hatte. Na ja, es war auch kaum ein angebrachtes Thema für den Essenstisch, oder? Und überhaupt würden sie sich über so was nicht unterhalten, wenn ich dabei war, obwohl alle meine Freunde und sämtliche Schüler ab der vierten Klasse wussten, dass es irgendwo in der Nähe von Zephyr ein Haus mit leichten Mädchen gab.

      Ich war dagewesen. Ich hatte ein richtiges leichtes Mädchen gesehen. Ich hatte gesehen, wie sie ihre Zunge rollte und wie ihr Hintern sich im Bademantel bewegte.

      Das, so ahnte ich, würde aus mir eine echte Berühmtheit machen.

      »Cory?«, fragte mein Vater leise. »Weißt du, was für eine Art von Geschäft Miss Grace da in ihrem Haus hat?«

      »Ich …« Selbst ein Drittklässler hätte darauf kommen können. »Ja, Sir.«

      »Wäre es ein Tag wie jeder andere, hätte ich die Bestellung bloß neben die Haustür gestellt.« Er starrte auf den See, als würde er immer noch das Auto mit der ans Lenkrad geketteten Leiche langsam in die Tiefe sinken sehen. »Miss Grace ist seit zwei Jahren auf meiner Lieferstrecke. Jeden Montag und Donnerstag. Man kann die Uhr danach stellen. Und falls dir der Gedanke gekommen ist – deine Mutter weiß, dass ich dorthin fahre.«

      Ich gab keine Antwort, aber mir wurde wesentlich leichter ums Herz.

      »Ich will nicht, dass du irgendjemandem von Miss Grace oder dem Haus erzählst«, fuhr mein Vater fort. »Ich will, dass du vergisst, dass du dort warst und was du gesehen und gehört hast. Kannst du das?«

      »Warum?«, musste ich fragen.

      »Weil Miss Grace zwar ganz anders als du, ich oder deine Mutter sein mag, und sie ist vielleicht hart und gemein, und ihre Art von Arbeit nicht der Wunschtraum eines Pfarrers, aber sie ist eine gute Frau. Ich will einfach nicht, dass getratscht wird. Je weniger man über Miss Grace und das Haus spricht, desto besser. Verstehst du?«

      »Ich glaube, ja.«

      »Gut.« Er dehnte seine Finger am Lenkrad. Das Thema war damit beendet.

      Ich hielt mich an meine Versprechen. Meine Berühmtheit verflüchtigte sich, und das war’s.

      Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um ihm von der Gestalt zu erzählen, die ich im Wald gesehen hatte, als ein schwarzweißer Ford mit einer Lichtsirene oben drauf und dem Stadtwappen von Zephyr auf der Fahrertür um die Ecke bog und neben dem Milchtruck ausrollte. Sheriff Amory, der mit Vornamen J.T. hieß – Junior Talmadge –, stieg aus und Dad ging auf ihn zu.

      Sheriff Amory war ein dünner, großer Mann, dessen langes Kinn mich an ein Bild erinnerte, das ich gesehen hatte: Ichabod Crane, der versuchte, schneller als der kopflose Reiter zu sein. Er hatte große Hände und Füße und Ohren, die Dumbo in den Schatten gestellt hätten. Wenn seine Nase noch ein Stück länger gewesen wäre, hätte sie eine prima Wetterfahne abgegeben. Seinen Sheriffstern trug er vorn an seinen Hut gepinnt, unter dem sein Kopf bis auf einen dunkelbraunen Kranz Haare so gut wie kahl war. Während er und mein Vater sich am Seeufer unterhielten, schob er sich den Hut höher die glänzende Stirn hinauf. Ich verfolgte die Handbewegungen meines Vaters, als er Sheriff Amory zeigte, von wo das Auto gekommen und wo es hingefahren war. Dann sahen sie beide auf die unbewegte Oberfläche des Sees hinaus und ich wusste, woran sie dachten.

      Das Auto hätte genauso gut bis zum Mittelpunkt der Erde sinken können. Selbst die Schnappschildkröten, die entlang des Ufers lebten, konnten nicht tief genug tauchen, um das Fahrzeug jemals wiederzusehen. Wer auch immer der Fahrer gewesen war, er saß jetzt im Dunkeln mit Schlamm in den Zähnen.

      »Handschellen«, sagte Sheriff Amory mit seiner leisen Stimme. Er hatte buschige Augenbrauen über tiefliegenden Augen, die schwarz wie Kohle waren, und sein bleicher Teint legte die Vermutung nahe, dass er die Nacht dem Tage vorzog. »Sind Sie da sicher, Tom? Und auch was den Draht angeht?«

      »Ich bin mir sicher. Wer auch immer den Mann erwürgt hat, hat ganze Arbeit geleistet. Hat ihm fast den Kopf abgetrennt.«

      »Handschellen«, sagte der Sheriff wieder. »Wohl, damit er nicht nach oben treiben kann, nehme ich an.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe. »Tja«, sagte er schließlich. »Ich glaube, wir haben es mit Mord zu tun, oder was meinen Sie?«

      »Wenn das kein Mord war, dann weiß ich nicht, was Mord ist.«

      Während sie miteinander redeten, stieg ich aus dem Milchtruck und ging auf die Stelle zu, an der ich meinte, den Mann gesehen zu haben, der mich beobachtet hatte. Außer Unkraut, Steinen und Erde war nichts zu sehen, wo er gestanden hatte. Wenn es denn ein Mann gewesen war, dachte ich. Hätte es auch eine Frau sein können? Ich hatte keine langen Haare gesehen, aber eigentlich hatte ich überhaupt nichts außer einem Mantel gesehen, der im Wind wehte. Ich ging am Waldrand auf und ab. Dahinter wurde der Wald dichter und der Boden sumpfig. Ich fand nichts.

      »Sie kommen besser in mein Büro, damit ich das alles zu Protokoll nehmen kann«, sagte der Sheriff zu meinem Vater. »Wenn Sie erst nach Hause fahren und sich trockene Sachen anziehen wollen, ist das kein Problem.«

      Mein Dad nickte. »Ich muss noch meine restlichen Bestellungen abliefern und Cory zur Schule bringen.«

      »Okay. Mir scheint, dass wir für den Mann da unten sowieso nicht viel tun können.« Der Sheriff grunzte.

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