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Cory heißt er.«

      »Dich hab ich schon mal gesehen, glaube ich«, sagte Mr. Sculley zu mir. »Ich weiß noch, wie dein Daddy in deinem Alter war. Dein Grandpa und ich kennen uns schon lange.«

      »Mr. Sculley, ich glaube, dass Sie heute Nachmittag ein Fahrrad eingesammelt haben«, sagte Dad. »Vor einem Haus in der Deerman Street?«

      »Hab ich. War aber nicht mehr viel davon übrig. Es war völlig kaputt.«

      »Tja, jedenfalls war das Corys Rad. Ich glaube, dass ich es reparieren lassen kann, wenn wir es wiederhaben könnten.«

      »Oh«, machte Mr. Sculley. Sein quadratisches Grinsen verlor sich. »Ich glaube, da kann ich nicht helfen, Tom.«

      »Wieso? Es ist doch hier, oder nicht?«

      »Ja, es ist hier. War hier, meine ich.« Mr. Sculley zeigte auf einen der Schuppen. »Ich hab’s da grade vor ein paar Minuten reingebracht.«

      »Dann können wir es doch rausholen und mitnehmen, oder nicht?«

      Mr. Sculley lutschte an seiner Unterlippe, warf mir einen Blick zu und sah dann Dad an. »Das glaube ich nicht, Tom.« Er schob den Handkarren neben den Haufen tote Fahrräder. »Kommt mit und guckt selber.« Wir folgten ihm. Er humpelte beim Gehen, als wären seine Beine mit einem Scharnier statt einem Kugelgelenk an der Hüfte befestigt.

      »Tja, das ist nämlich so«, sagte er. »Ich will diese alten Fahrräder schon seit über einem Jahr loswerden. Ich versuch nämlich, hier aufzuräumen. Ich brauche Platz für das, was neu reinkommt. Drum hab ich zu Belle gesagt – meiner Frau –, ich sag, Belle, wenn ich noch ein einziges Fahrrad mehr einsammele, mach ich’s. Nur ein einziges mehr.« Er führte uns durch eine offene Tür in das kühle Gebäude hinein. An Kabeln hängende Glühbirnen warfen Schatten zwischen noch mehr Müllberge. Hier und da stachen größere Dinge wie Maschinen vom Mars aus dem Halbdunkel und boten Sicht auf mysteriöse Kurven und Kanten. Irgendetwas quiekte und huschte davon, ob es Mäuse oder Fledermäuse waren, wusste ich nicht. Es war, als befänden wir uns in einer Höhle, in der Injun Joe sich heimisch fühlen würde.

      »Passt auf, wo ihr hintretet«, warnte Mr. Sculley, als wir einen weiteren Türrahmen durchquerten. Dann blieb er neben einer großen rechteckigen Maschine mit Zahnrädern und Hebeln stehen. »Die Presse hier hat dein Fahrrad vor ungefähr fünfzehn Minuten verschlungen«, sagte er. »Es war als Erstes dran.« Er stieß gegen ein Fass, das mit verdrehten und zerknautschten Metallteilen gefüllt war. Andere Fässer warteten auf ihre Ladungen. »Ich kann das Metall nämlich verkaufen. Ich hatte bloß noch auf ein Fahrrad mehr gewartet, um anzufangen, sie zu pressen, und deins war dieses eine Rad.« Er sah mich an. Die Glühbirne über ihm schien ihm auf die regennasse Glatze. Seine Augen waren nicht unfreundlich. »Tut mir leid, Cory. Hätte ich gewusst, dass es von jemandem abgeholt wird, hätte ich’s beiseitegelegt. Aber es war tot.«

      »Tot?«, fragte mein Vater.

      »Klar. Alles stirbt. Es verschleißt und kann weder mit Liebe noch Geld wieder repariert werden. Das war der Zustand, in dem das Fahrrad gewesen war. In dem Zustand ist alles, das hier abgeliefert wird oder das ich einsammeln soll. Du weißt aber, dass dein Fahrrad schon lange tot war, bevor ich’s in die Presse gesteckt habe, oder, Cory?«

      »Ja, Sir«, sagte ich. »Ich wusste es.«

      »Es hat nicht gelitten«, versicherte Mr. Sculley mir, und ich nickte.

      Mir schien, dass Mr. Sculley den Kernpunkt allen Lebens verstand, dass er seine Augen und sein Herz jung gehalten hatte, obwohl sein Körper alt geworden war. Er durchschaute die kosmische Ordnung der Welt und wusste, dass Leben nicht nur Fleisch und Knochen innewohnt, sondern auch Dingen – einem guten, treuen Paar Schuhe, einem verlässlichen Auto, einem stets funktionierenden Kugelschreiber, einem Fahrrad, das einen viele Meilen weit getragen hat –, denen wir vertrauen und die uns die Geborgenheit und Freude von Erinnerungen schenken.

      An dieser Stelle werden alte Herzen aus Stein vielleicht lachen und sagen: »Das ist absurd!« Aber lasst mich diese Frage stellen: Wünscht ihr euch nicht – selbst nur einen Sekundenbruchteil lang –, dass ihr euer allererstes Fahrrad wiederhaben könntet? Ihr wisst noch, wie es aussah. Ihr erinnert euch. Habt ihr es Trigger oder Buttermilk, Flicka oder Lightning genannt? Wer hat das Fahrrad weggenommen und wo ist es hingekommen? Fragt ihr euch das nie?

      »Ich will dir was zeigen, Cory«, sagte Mr. Sculley und berührte meine Schulter. »Komm mal mit.«

      Mein Dad und ich folgten ihm von der Fahrradpresse weg in einen anderen Raum. Ein Fenster mit schmutzigen Scheiben ließ etwas grünliches Licht herein, das sich zum grellen Schein der Glühbirne gesellte. In diesem Zimmer befanden sich Mr. Sculleys Schreibtisch und Aktenschrank. Er machte den Schrank auf und fasste auf eine hohe Ablage. »Ich zeige das nicht jedem«, sagte er, »aber ich glaube, ihr zwei wollt das vielleicht gern sehen.« Er wühlte zwischen Kartons herum und sagte dann: »Ich hab’s.« Seine Hand kehrte aus dem Dunklen ins Licht zurück.

      Er hielt ein Stück Holz. Die Rinde war ausgebleicht und kleine vertrocknete Muscheln klebten daran. Etwas, das wie ein dünner Dolch aus Elfenbein aussah, ungefähr fünfzehn Zentimeter lang, war in das Holz getrieben worden. Mr. Sculley hielt es ins Licht. Seine Augen glitzerten hinter den Brillengläsern. »Seht ihr? Was glaubt ihr, was das ist?«

      »Keine Ahnung«, sagte Dad. Ich schüttelte ebenfalls den Kopf.

      »Schaut es euch genau an.« Er hielt mir das Holzstück mit dem darin feststeckenden Elfenbeindolch vors Gesicht. Ich konnte kleine Dellen und Kratzer auf der Oberfläche des Elfenbeins sehen, dessen Kanten gezackt wie ein Fischmesser waren.

      »Das ist ein Zahn«, sagte Mr. Sculley. »Höchstwahrscheinlich ein Reißzahn.«

      »Ein Reißzahn?« Dad runzelte die Stirn. Sein Blick sprang zwischen Mr. Sculley und dem Holzstück hin und her. »Das muss eine gigantische Schlange gewesen sein!«

      »Keine Schlange, Tom. Ich hab das Holzstück aus einem Stamm rausgesägt, den ich am Flussufer gefunden hab, als ich vor drei Sommern nach Flaschen gesucht hab. Der war angespült worden. Seht ihr die Muscheln? Muss ein alter Baum gewesen sein. Wahrscheinlich lag er lange auf dem Grund. Ich nehme an, dass die letzte Flut, die wir hatten, ihn aus dem Schlamm gelöst hat.« Vorsichtig fuhr er mit seinem behandschuhten Finger über die gezackte Kante. »Ich glaube, ich habe das einzige Beweisstück.«

      »Sie meinen doch nicht …«, begann Dad, aber ich wusste bereits, worauf Mr. Sculley anspielte.

      »Ja. Das hier ist ein Reißzahn aus dem Maul von Old Moses.« Er hielt ihn wieder vor mich hin, aber ich wich zurück. »Vielleicht kann er nicht mehr so gut sehen«, überlegte Mr. Sculley. »Vielleicht ist er auf den Baumstamm losgegangen, weil er ihn für ‘ne große Schildkröte hielt. Vielleicht war er an dem Tag einfach schlechtgelaunt und hat nach allem geschnappt, das ihm gegen die Schnauze gestoßen ist.« Er klopfte gegen den abgebrochenen Rand des Zahns. »Mag nicht dran denken, was das hier mit einem Menschen anstellen könnte. Wäre ziemlich unschön, was?«

      »Kann ich mal sehen?«, fragte Dad, und Mr. Sculley ließ ihn den Zahn halten. Mr. Sculley ging ans Fenster und spähte hinaus, während Dad den Gegenstand in seiner Hand untersuchte. Nach einer Weile sagte Dad: »Ich würde schwören, dass Sie recht haben! Es ist ein Zahn!«

      »Sag ich doch«, erinnerte Mr. Sculley ihn. »Ich lüge nicht.«

      »Sie müssen das jemandem zeigen! Sheriff Amory oder Bürgermeister Swope! Herrje, der Gouverneur muss das zu sehen bekommen!«

      »Swope hat’s schon gesehen«, erklärte Mr. Sculley. »Es war sein Rat, dass ich’s in meinen Schrank tun und die Tür abgeschlossen halten soll.«

      »Warum denn? So was wie das hier macht Schlagzeilen!«

      »Nicht laut Bürgermeister Swope.« Er wandte sich vom Fenster ab und ich sah, dass seine Augen sich verdunkelt hatten. »Swope hielt es zuerst für eine Fälschung. Er hat es Doc Parrish gezeigt, und Doc Parrish hat Doc Lezander zurate gezogen. Beide sind zu dem Schluss gekommen, dass es der

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