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      »Wie de meinst.« Gemeinsam traten sie in den äußeren Feuerschein der Tonne und rauchten schweigend. Sie brauchten nicht vielen Worte um den anderen zu verstehen. Die vergangenen dreißig Jahre hatten sie zusammengeschweißt und eine Verbundenheit der ganz besonderen Art geschaffen.

      »Sieh«, Kralle deutete mit dem Kopf zum Weg, auf dem Jens schemenhaft im Lichtkreis der Lampe erschein.

      »Bro«, Fritz nickte, legte seine Hand auf Kralles Schulter und verschwand im Dunkeln hinter dem Haus.

      ›Soll ich ihm entgegen gehen?‹, überlegte er und entschied, ›nein, er muss es wirklich wollen. Sobald ich einen Schritt mache, ist es nicht mehr seine Entscheidung.‹ Wartend blieb Kralle stehen, hörte das Knistern und Knacken der brennenden Holzscheite und sah in die Nacht.

      Kurz darauf spürte er die Nähe seines Bruders neben sich. Wortlos, ohne hinüber zu sehen, reichte er den halbgerauchten Zigarillo weiter.

      »Danke«, und bevor Jens weitersprechen konnte, erschien Fritz lautlos, mit zwei heißen Äpplern. Er drückte ihnen die dickwandigen Gläser in die Hände und verschwand ebenso leise. Kralle warf neues Holz in die Tonne und verließ den Lichtkreis des wärmenden Feuers. Jens sah rasch in das Halbdunkel, sie waren allein, alle anderen hatten sich in das Haus verzogen.

      »Komm, wir gehen ein paar Schritte«, schlug Kralle vor und betrat einen Trampelpfad durch den Wald.

      »Warum?! Warum hast Du uns im Stich gelassen?«, er fühlte erneut Zorn in sich. Kralle folgte schweigend dem schmalen Weg. Jens bekam später die Antwort, jetzt sollte er erst einmal seinen ganzen Frust und die Fragen aussprechen.

      »Du warst eigentlich ständig weg, von Dir gab es immer nur kurzen Besuche. Meistens war ich dann in der Schule oder bei Freunden«, warf er ihm vor. »Du erschienst so alt, so unerreichbar.«

      Kralle wartete, mit Sicherheit kam noch sehr viel mehr, was sich in den Jahren angesammelt hatte.

      »Alles lief wie geschmiert. Das Auswahlverfahren, alles perfekt. Ausgerechnet wo ich gerade mal ein Jahr in der Akademie war, da entscheidest Du ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Hast mir die komplette Verantwortung aufgedrückt.« Sein Vorwurf sprach deutlich aus diesen Worten. »Das mit den drei Schlägertypen habe ich Mutter nie geglaubt. Für mich war es eine Schutzbehauptung, um Dich gut dastehen zu lassen.« Bitterkeit sprach aus ihm.

      »Deine Forderung, mich um sie zu kümmern, hat meine Meinung über Dich endgültig besiegelt. Verdammt, es war eine harte Zeit für mich.« Er zögert kurz, die Erinnerungen hatten ihn im Handumdrehen eingeholt.

      »Wo warst Du?! Was fällt Dir ein einfach abzutauchen und alles hinter sich zulassen ohne zu fragen, was ich will.« Er schüttelte den Kopf, »das ist nichts weiter als nur feige und verantwortungslos.« Aufgebracht starrte er ihn durch die Dunkelheit an. »Los sag schon, wo zum Teufel warst Du?!« Wütend trat er einen Ast vom Pfad, der knacksend im Unterholz landete. Der Mond tauchte zwischen den Baumkronen auf und warf sein fahles Licht auf sie herunter. Rasch sah Jens sich um, sie hatten eine kleine Lichtung erreicht. Er starrte Kralle finster an, die Szene hatte etwas gespenstiges.

      »Mein Abschluss hat Dich auch nicht interessiert und im Jahr später wurde Mutter krank. Sie quälte sich, die Krankheit hat sie aufgefressen und kein Arzt konnte ihr helfen. Scheinbar hat sie die Medikamente nicht vertragen, denn manchmal sagte sie, Du seist bei ihr gewesen.« Der Schmerz schrie aus seinen Augen.

      »Ich habe Dich viele Jahre lang gehasst! Mutter erzählte mir erst kurz bevor sie starb einige Hintergründe und etwas mehr habe ich dann später aus ihrem Nachlass erfahren. Wieso verflucht noch mal hast Du mich allein gelassen?« Er trat ganz dicht vor Kralle, um seine Mimik genau zu sehen.

      »Wieso?! Und selbst jetzt, Jahre später siehst Du keinen Grund Dich zu melden? Deine Telefonnummer war einige Zeit nach meinem Abschluss nicht mehr erreichbar. Da hast Du uns ganz allein gelassen.« Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Jetzt stehst Du hier, keine Reaktion, kein Wort, nichts! Hast Du mir tatsächlich nichts zu sagen?«

      Kralle zündete sich routiniert eine neue Zigarre an.

      »Ich wollte Dir Zeit geben, mir all Deinen Zorn, Enttäuschung und Frust überzukippen. Ich bin bereit, Deine Fragen zu beantworten, soweit es mir möglich ist.«

      »Ach komm schon, kaum machst Du den Mund auf, kommen die nächsten Ausflüchte. Ich habe es so satt, hingehalten zu werden.«

      »Ich halte Dich nicht hin, manches weiß ich selbst nicht, das kann ich Dir logischerweise auch nicht sagen.« Jens wollte erneut protestieren, doch er überlegte es sich anders und nickte nur.

      »Was Mutter Dir erzählt und Du aus den Unterlagen erfahren hast, weiß ich nicht, deshalb fang ich vorn an. Konstantin Kralleths vom schwarzen See hat, gegen die strickten Anweisungen seiner Familie, die damals achtzehnjährige, im sechsten Monat schwangere, Sylvia Hubert geheiratet. Daraufhin hat der Familienclan ihm den Titel entzogen und er wurde zu einem ganz normalen bürgerlichen Mann. Drei Monate später wurde ich geboren. Wir waren eine glückliche kleine Familie und ich hätte so gerne noch weitere Geschwister gehabt. Aus welchem Grund auch immer, erfüllte sich mein Wunsch nicht. 1971, ich war fünf Jahre alt, verschwand mein Vater. Von jetzt auf gleich, sein Auto stand vor der Firma, aber er war einfach weg. Mutter hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt um ihn zu finden. Polizei, Vermisstenanzeige, Suchdienst, selbst einen Detektiv hat sie angeheuert. Nichts, er war nicht auffindbar.« Er rollte die Zigarre zwischen den Fingern und betrachtete ihre Glut.

      »Eine Woche nach seinem Verschwinden erhielt sie ein Paket. In diesen befanden sich verschieden Akten und der Schriftverkehr zwischen Konstantin als Gutachter und einer Aufsichtsbehörde zur Organtransplantation. Vater war einem riesigen Skandal auf der Spur, konnte allerdings noch keine stichhaltigen Beweise vorlegen. Auf einem Zettel stand, sie solle alles besonders gut verstecken und auf gar keinen Fall an jemanden herausgeben. Der Stempel auf dem Paket war der Tag seines Verschwindens. Mutter war hin- und hergerissen diese Unterlagen weiterzugeben, um vielleicht doch ihren Mann wiederzubekommen. Monate und Jahre vergingen, kein Lebenszeichen von ihm, nichts, gerade so, als habe er niemals existiert. Das Schlimmste waren die regelmäßigen Einbrüche, bei denen alles durchsucht und teilweise verwüstet, aber nichts gestohlen wurde. Die Polizei war machtlos. Kein einziges mal konnten der oder die Täter ermittelt werden. Es war schon auffällig, wie oft ausgerechnet in unserem zu Hause eingebrochen wurde.«

      Jens runzelte die Stirn und sah Kralle fragend an.

      »Ich habe diesen Karton in Verwahrung«, bestätigte er und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du wohnst immer noch dort.« Er holte tief Luft, »Jahre später lernte sie Deinen Vater Klaus Schmidt kennen. Sie passten gut zusammen und er gab sich große Mühe mit mir. Zehn Jahre später 1981 hat sie Konstantin für tot erklären lassen. Eines Tages kam sie schmunzelnd zu mir und erzählte, das sich jetzt mein lang ersehnter Wunsch erfülle.« Schmerzlich senkte er den Blick, riss sich kurz später aus der Erinnerung und erzählte weiter.

      »Vater! Rief ich laut, wo ist er? Dann sah ich in ihren Augen die Trauer und gleichzeitig ein Strahlen. Sie nahm mich in den Arm und sagte mir, das sie schwanger sei und ich eine Schwester oder Bruder bekäme.«

      Jens sah ihn mit großen Augen an und Kralle nickte,

      »Ja, Dich. Du warst so winzig und ich wollte Vater zurück. Zwei Jahre später, ich bereitete mich auf das Abitur vor, kam die Nachricht, dass Dein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mutter sagte ständig, es sei ihre Schuld. Drei Jahre später offenbarte sie, das auch Dein Vater nicht an die Version des Verschwindens von Konstantin glaubte und eigene Nachforschungen angestellt hatte.« Er warf den Zigarrenstummel zu Boden und sah die dunkelrote Glut langsam im Schnee verlöschen.

      »Das war zu viel, ich nahm den Karton an mich und verschwand mit viel Getöse aus eurem Leben. Die Nachbarn hingen an den Fenstern und bekamen meinen Auszug hautnah mit. Schlagartig hörten die Einbrüche auf, dafür wurde ich zeitweise beschattet. Sporadisch kam ich heimlich, um nach euch zu sehen, unsere Mutter zu unterstützen und die heranwachsende Nervensäge im Zaum zu halten«, grinste er zu ersten Mal. »Im Lauf der Jahre verflog Dein

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