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Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
Читать онлайн.Название Politische Philosophie des Gemeinsinns
Год выпуска 0
isbn 9783958298217
Автор произведения Oskar Negt
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Автор
Diese Dialektik der Gewalt, die verknüpft ist mit dem allgemeinen Willen und der Transposition des Selbst in diesen allgemeinen Willen und mit einer unvermittelten Stellung zur Realität, lässt nur eine Selbstbehauptung des Einzelnen zu, die völlig unangesehen konkreter Vermittlungen gleichzeitig auch das Risiko des Todes einschließt. Das ist ein Grundmotiv bürgerlichen Denkens und der deutschen Geschichte.
Meine Schlussfolgerung aus dem Ganzen ist, dass jene, und ich beziehe mich hier gar nicht nur auf die RAF, die dieser Dialektik von gegenseitiger Abstraktion unterliegen – von Selbstbehauptung des Willens, Moralität und dem Einsatz der lutherischen Form, »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« –, dass jene diese Dialektik nur mit der Realität erfahren, die sich in ihnen selbst abspielt, wenn diese Realität nichts dazwischen schickt, wenn die Vermitteltheit nicht gesichert ist.
Das heißt allerdings auch, dass man sich die Realität, in der man handelt, nicht aussuchen kann. Diese erfahrende Dialektik ist, glaube ich, ein wesentliches Element für das Verständnis des absoluten Unterschieds zwischen bürgerlicher und revolutionärer Gewalt. Denn die revolutionäre Gewalt besteht in der Tat darin, diese Vermittlungsebenen zwischen Individuum und Gesellschaft bis aufs Äußerste durchzuführen. Das ist gewissermaßen revolutionäre Gewalt: das Begreifen des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs als eines Ganzen, wobei das Moment von Moral und politischer Moral in allen diesen Ebenen mitenthalten sein muss, weil keine Vermittlung ohne Unmittelbarkeit stattfindet. Das bedeutet auch, wenn ich das auf die Protestbewegung beziehe, dass diese unter anderem dadurch große Bedeutung gehabt hat, weil sie die von Liberalen und anderen angebotenen und angepriesenen Vermittlungen nicht beachtet hat, dass folglich der Schritt, den man politisch tut, nicht immer die Kalkulation aller Vermittlung enthalten muss, sonst würde keine politische Aktion zustande kommen. Dieses Moment von Unmittelbarkeit bezeichnet Dialektik genauso wie das Moment der Vermittlung. Wo eins vom anderen abgetrennt ist, wo Gewalt sich auf Unmittelbarkeit reduziert, wird sie zum Bestandteil des bestehenden Systems, genauso wie bei jenen, die glauben, man müsse sämtliche analytischen und praktischen Vermittlungsschritte erst vollzogen haben, um einen einzigen politischen Schritt zu tun. Ich sage: Beides sind Abstraktionen. Es gilt nicht so sehr, für die eine oder andere Seite zu plädieren.
Diesen dialektischen Gewaltbegriff finden wir bei Lenin, Luxemburg, Marx und bei Mao Tse-tung im Besonderen. Ich möchte das an einem Beispiel aus der chinesischen Geschichte des Langen Marsches erläutern. So war es in der ersten Phase keineswegs so, dass die Truppen der Roten Armee, die ein Dorf okkupierten, zu requirieren, wenn nicht zu plündern verzichtet hätten. Das heißt die Rote Armee trat hier als revolutionäre Gewalt auf, auch wenn das bedeutet, revolutionäre Gewalt auf das zu beschränken, was personell identifizierbar ist. Mao Tse-tung hingegen hat in den verschiedenen Analysen der Klassenverhältnisse Chinas darauf gedrungen, dass alles bezahlt werde und dass es dabei völlig gleichgültig sei, ob es einen konterrevolutionären Bauern trifft oder nicht, sondern das zunächst einmal Vertrauensverhältnisse hergestellt werden müssen, die durch die Unmittelbarkeit und die Demonstration revolutionärer Gewalt als Geschichtszeichen nicht herzustellen sind.
Nicht durch die Fanale ist die Revolution zustande gekommen, sondern durch die auf konkrete, entfremdete Bedürfnisse der Bauern eingehende revolutionäre Gewalt, durch den Prozess der Selbstveränderung im kollektiven Sinne, während die Geschichtszeichen Metaphysik sind und eine Veränderung nur im individuellen Sinn beanspruchen und zulassen. Der Individualismus, der in dieser Fanal-Metapyhsik, in dieser Zeichen-Metaphysik steckt, ist genau das, was die bürgerliche Gesellschaft in ihrem abstrakten Gewaltbegriff auszeichnet, während die revolutionäre Gewalt in dem Sinne tatsächlich darauf angewiesen ist, Bedingungen herzustellen, unter denen die Individuen mehr oder weniger zwanglos in den Prozess der Revolutionierung der Verhältnisse einbezogen werden.
Eine Form der Gewalt, das ist mein Hauptargument, die sich nicht in dieser Weise gesamtgesellschaftlich vermittelt und wie sie in Deutschland zudem verbunden mit Innerlichkeit und Moralität auftritt, ist ein Stück bürgerlicher Gewalt und bürgerlicher Geschichte. Diese Gewalt ist von den Betreffenden nicht gewollt, sondern ein Stück deutscher Geschichte, die eigentlich nur Restauration kennt, wie Marx einmal gesagt hat, und nicht die Revolution der westlichen Länder.104 Das hat im kollektiven Unbewussten auch das Moment der Moralisierung von Politik verankert, was unverändert bis in die Linke hineinwirkt.
Aber nehmen wir erneut diese Konnotation, diese Assoziation mit dem Anarchismus auf. Im letzten Satz der »Anthropologie« definiert Kant Anarchie, wie wir gesehen haben, als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das zunächst eine sehr bemerkenswerte Definition ist, die gängigen Vorstellungen gerade einer Verbindung von Anarchie und Gewalt widerspricht. Aber hier gilt es doch geschichtlich zu differenzieren, um den Anarchismusbegriff nicht auf diese verbreiteten Vorstellungen zu beschränken.
Man kann sagen, in fast allen bürgerlichen und nachbürgerlichen Klassen ist der Vorwurf des Anarchismus zunächst immer einer, der die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bestätigt, also ein Indiz dafür, dass die Inhalte, die im Anarchismus mitgedacht wurden, nicht realisiert sind. Er belegt ein Bedürfnis der bestehenden Systeme, möglichst viele Gruppierungen als anarchistisch zu bezichtigen. Der Vorwurf wurde beim Aufstand von Kronstadt (1921) erhoben, gegenüber der Münchener Räterepublik, gegenüber den spanischen Anarcho-Syndikalisten – und nicht zuletzt von Marx, der mit den Anarchisten geradezu eine Privatfehde in äußerster Verbitterung und Verbissenheit geführt hat, die unter seiner Würde war.
Warum hat Marx diesen Kampf geführt? Zunächst hat er festgehalten, dass die Ziele des Anarchismus, die Aufhebung des staatlichen Zwangs, identisch sind mit jenen des Marxismus und der Kritik der politischen Ökonomie. Marx hat nie bestritten, dass die Anarchisten Ziele verfolgen, die mit den seinigen im Großen und Ganzen übereinstimmen. Er hat ihnen aber jenen Vorwurf gemacht, der seitdem in der Luft schwebt, dass sie diese Ziele mit völlig unvermittelten, inadäquaten Mitteln erreichen wollen und, was noch schwererwiegender ist, mit Zeitvorstellungen, die den langwierigen Prozessen nicht gerecht werden.
Als Anarchisten werden hier also diejenigen bezeichnet, die übereilt revolutionäre Prozesse in Gang bringen wollen, um ein sehr kompliziertes und komplexes Herrschaftssystem zu beseitigen. Aus diesen Gründen erblickte Marx in ›den Anarchisten‹ buchstäblich die größte Gefährdung für den Marxismus. Dabei sind Anarchisten in dieser Weise gar nicht auf einen Nenner zu bringen und schon gar nicht auf einen Punkt zu reduzieren, etwa mit der Feststellung, Bakunin habe in Genf bei Uhrenmachern, also bei Kleinbürgern gearbeitet und auch Proudhon habe sich wesentlich auf sie gestützt. Die klassentheoretische Zuordnung des Anarchismus ist äußerst schwierig, auch wenn ein soziologisches Element durchgehend in den verschiedenen Formen des Anarchismus zu finden ist. So spielen vorbürgerliche handwerkliche oder bäuerliche Produktionsweisen, Produktionsweisen also, die noch nicht industriell durchrationalisiert sind, in allen Formen des Anarchismus eine konstitutive Rolle. Ich will dafür einzelne Beispiele aufgreifen.
Natürlich war Michail Bakunin (1814–1876) ein revolutionärer Scharlatan. Er war buchstäblich bei allen Revolutionen