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      Diese mahnenden Worte von Heinrich Lutz im Sinn bemüht sich die vorliegende Biografie darum, mithilfe der verfügbaren Quellen – von Schriftstücken bis hin zu Fingerstücken – drei zentrale Fragen zu beleuchten:

      −Wie fällte Karl jene weitreichenden Entscheidungen, die das erste und langlebigste transatlantische Großreich der Geschichte erschufen, erhielten und erweiterten?

      −Waren es strukturelle Mängel oder persönliche Unzulänglichkeiten, aus denen Karls politische Versäumnisse erwuchsen? Wäre ein Monarch mit größerem politischen Geschick womöglich erfolgreicher gewesen? Oder hatten die Umstände ein Weltreich entstehen lassen, dessen Größe ihm schließlich selbst zur Last wurde? Im Jargon unserer Gegenwart gesprochen: War es der Kaiser als Akteur oder waren es die Strukturen, in denen er agierte, die am Ende dazu führten, dass Karl sein Reich nicht unversehrt weitergeben konnte?

      −Was war es, das Karls Wesen recht eigentlich kennzeichnete? Gleich zu Beginn seiner Reflexionen über eines der größten Vorbilder Karls, Alexander den Großen, schreibt Plutarch (einer von Karls Lieblingsautoren): »Hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten.« Auch die vorliegende Biografie schöpft aus vielen solchen spontanen, aber umso aufschlussreicheren Episoden.7

      Das verfügbare Quellenmaterial ist zwangsläufig ungleich verteilt. Wie jeder andere Mensch auch hat Karl V. gegessen und getrunken, hat geschlafen und ist anderen körperlichen Bedürfnissen nachgekommen – Tag für Tag. Aber aus den Quellen erfahren wir davon nur, wenn diese Dinge einmal problematisch wurden (wenn der Kaiser von Schlaflosigkeit geplagt wurde; wenn er sich übergeben musste; wenn er »heißen Seich« absonderte; wenn seine Hämorrhoiden ihn »heulen ließen wie ein Wickelkind«). Auch verbrachte Karl einen gewissen Teil des Tages im Gebet, hörte regelmäßig die heilige Messe und zog sich jedes Jahr zur Karwoche in ein Kloster zurück, wo er sich strikt weigerte, Regierungsgeschäfte zu tätigen. Aber als Historiker haben wir nicht die leiseste Ahnung, was der Kaiser in seiner Zeit der Abgeschiedenheit stattdessen tat – wenn nicht gerade etwas Außergewöhnliches vorfiel (er etwa beim Gottesdienstbesuch ohnmächtig wurde und über eine Stunde lang bewusstlos blieb oder er sich zu ungewohnter Zeit, etwa kurz vor oder nach dem Fällen einer wichtigen Entscheidung, zum Gebet zurückzog oder die Beichte ablegte).

      Außerdem waren, wie Karl in den vertraulichen Instruktionen beklagte, die er 1543 für seinen Sohn und Erben Philipp verfasste, manche politischen Entscheidungen »derart undurchschaubar und ungewiss, dass ich nicht weiß, wie ich es Euch überhaupt erklären soll«, da sie »voller Wirrungen und Widersprüche stecken«.8 Aber zumindest einmal hat der Kaiser wohl doch versucht, alles in schonungsloser Klarheit darzustellen. Jedenfalls vertraute im November 1552 Karls Kammerherr Guillaume van Male einem Kollegen an, der Kaiser habe ihm gerade befohlen,

      »die Türen zu seinen Gemächern zu verschließen, und nahm mir dann das Versprechen ab, über das, was er mir nun sagen wolle, äußerstes Stillschweigen zu bewahren … Er hielt nichts zurück, und was ich zu hören bekam, verschlug mir die Sprache. Selbst jetzt noch überläuft mich ein Schauder, wenn ich daran denke, und eher würde ich sterben, denn einem anderen als dir davon zu erzählen. Jetzt kann ich offen schreiben, denn der Kaiser schläft, die Nacht ist tief und alle anderen haben sich bereits zurückgezogen.«

      »Lange werde ich brauchen«, fährt van Male verheißungsvoll fort, »um dir sämtliche Einzelheiten zu berichten«, denn »der Kaiser hat mir alles anvertraut, was in seinem Leben je geschehen ist«. Er habe ihm »sogar ein handschriftliches Papier gegeben, in dem alle seine früheren Missetaten aufgeführt stehen«, darunter auch »viele Dinge, die er anders hätte angehen sollen – teils, weil er etwas zu tun versäumt hatte, teils, weil er später noch etwas ändern wollte«. Zum Leidwesen aller Historiker überkam an diesem Punkt auch Guillaume van Male die Müdigkeit und zwang ihn, die Feder beiseitezulegen. Sollte er die »sämtlichen Einzelheiten« seiner intimen Unterredung mit Karl V. zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Papier gebracht haben, dann hat jener zweite Brief (genau wie des Kaisers handschriftliche Liste seiner Verfehlungen) die Zeitläufte nicht überdauert.9

      Dennoch: Genügend Quellen haben überlebt, um in die »Wirrungen und Widersprüche« von Karls Leben zumindest einige Klarheit zu bringen. Von der überlieferten Masse seiner eigenen Korrespondenz einmal abgesehen, zog der Kaiser natürlich die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von Zeitgenossen auf sich: Freunde wie Feinde schrieben über ihn so oft und so ausführlich wie über keine andere lebende Person – nicht einmal Martin Luther. Von seiner Geburt bis zu seiner Abdankung beäugten und berichteten die am Hof weilenden Gesandten jeden seiner Schritte, jedes Wort und jede Geste. Von größeren öffentlichen Ereignissen wie etwa Karls Kaiserkrönung in Bologna 1530 oder seiner Abdankung in Brüssel 1555 sind uns ein Dutzend oder mehr Augenzeugenberichte überliefert. War der Kaiser auf Reisen – und im Laufe seiner Regentschaft hielt er sich an über tausend Orten auf, von Wittenberg bis Sevilla und von London bis Algier (Karte 1) –, vervielfachte sich die Zahl der Berichte, sodass wir manchmal seine Bewegungen auf die Stunde genau nachvollziehen können.10 Karl war nie allein. Höflinge und Diplomaten begleiteten ihn selbst auf seinen einsamsten Reisen, etwa seinen ersten Wochen in Spanien im Jahr 1517, als er eben dabei war, sein Erbe anzutreten. Da durchquerte er das Gebirge der Picos de Europa im Norden des Landes, übernachtete in Bauernhütten neben dem Vieh und wurde am Tag von Bären bedrängt. Auch als er 1552 über die Alpen flüchtete, um einer Gefangennahme durch seine deutschen Untertanen zu entgehen, umgab ihn sein Gefolge, und noch in den entlegensten Bergdörfern beschlagnahmten Karls Lakaien »Notfallbettzeug« für das kaiserliche Nachtlager. Selbst nachdem er sich in sein Landhaus nahe dem Kloster von Yuste in der Abgeschiedenheit der Sierra de Gredos in der Estremadura zurückgezogen hatte, wurde er noch genau beobachtet: Mindestens zwei der Mönche führten ein Tagebuch, in dem ihr illustrer Gast die Hauptrolle spielte; so gut wie jeden Tag vermerkten auch seine Hofleute, was der Kaiser im Ruhestand gesagt und getan hatte; und nach seinem Tod sagten zwanzig Augen- und Ohrenzeugen unter Eid darüber aus, was sie gesehen und gehört hatten, als Karl im Sterben lag. Bizarrerweise sind die letzten Tage Karls V. wohl der am besten bekannte Abschnitt seines gesamten Lebens.

      »Mein Gott, wie schreibt man eine Biographie? Sag es mir«, schrieb Virginia Woolf 1938 an ihre Freundin Vita Sackville-West (ebenfalls eine Biografin). »Wie soll man mit den Fakten umgehen – so vielen und so vielen und so vielen?«11 Vierhundert Jahre zuvor hatte der spanische Humanist Juan Páez de Castro, den Karl beauftragt hatte, »das Leben Seiner Majestät« niederzuschreiben, mit demselben Problem gerungen. Bevor er sich an die eigentliche Arbeit machte, hatte Páez de Castro ein Konzept erstellt, um dem Kaiser darzulegen, wie er mit »so vielen Fakten« umzugehen gedachte. Zunächst wies er auf seine Qualifikationen hin: Nach eigenen Angaben beherrschte er sechs Sprachen (darunter auch Chaldäisch) und besaß Kenntnisse des Rechts, der Naturkunde und der Mathematik. Da aber »das Schreiben nicht allein auf Einfallsreichtum und Erfindungskraft beruht, sondern auch auf Arbeit und Mühe, um das Material zu sammeln, über das geschrieben werden soll«, müsse ebendieses ausfindig gemacht werden. Páez de Castro beabsichtigte daher, ausnahmslos jeden Ort aufzusuchen, »der die Banner Eurer Majestät erblickt hat, um daraus den Glanz zu gewinnen, den ich für dieses Werk ersehne«. An all diesen Orten wollte er »ehrbare und gewissenhafte Leute befragen, die Inschriften auf öffentlichen Denkmälern und Grabmalen lesen, die alten Aufzeichnungen der Notare durchforsten, wo sich viele Dinge finden, die von historischem Interesse sind, und den Inhalt aller früheren Historien wiedergeben, aus alten und aus neueren Zeiten, von guten wie von schlechten Schreibern«. Schließlich »wird es notwendig sein, in zahlreichen Fragen Eure Majestät selbst zu konsultieren« mit dem Ziel, für kontroverse Entscheidungen »die Beweggründe in Erfahrung zu bringen«. Das war ein exzellentes Ansinnen, doch Karl V. starb, bevor Páez de Castro ihn konsultieren konnte; und der Autor selbst segnete ebenfalls das Zeitliche, ohne auch nur einen Teil des Werks zu vollenden.12

      » In seiner Brüsseler Abdankungsrede erinnerte Karl V. seine Zuhörer 1555 daran, dass er ihretwegen vierzig »große Reisen« unternommen hatte. Er sollte

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